Machen wir was daraus! Gedanken zur Epigenetik

Seit 150 Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit der Vererbungslehre. Von Mendels Erbsen bis zur heutigen Gentechnik war es ein weiter Weg. Sehr jung ist im Vergleich die Epigenetik. Hier wird erforscht, wie sich die Gene konkret ausdrücken: Warum entwickeln sich Zellen und Organismen in bestimmte Richtungen, und welche Einflüsse spielen dabei eine Rolle?


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


Epigenetik?

Ob Haut-, Hirn- oder Herzzelle des Menschen: In jeder einzelnen findet sich dieselbe DNA als Trägerin unseres Erbgutes oder Genoms. Von selten vorkommenden Mutationen und Replizierungsfehlern bei der Zellteilung abgesehen, gibt jede Generation von Zellen das Genom unverändert an ihre Tochterzellen weiter. Von der befruchteten Eizelle an bis zu den letzten grauen Haaren, die uns wachsen, bleibt die DNA uns treu – und wir unvermeidlich ihr. Was nicht nur die Strafverfolgung sich zunutze macht. Bis hierher haben wir es mit Genetik zu tun, der Lehre vom Erbgut.

Die Epigenetik („Nach“-Genetik) befasst sich mit dem, was aus diesem Erbgut wird. Dasselbe genetische Material, der Genotyp, kann sich auf verschiedene Weise ausdrücken und so zu ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen führen, dem konkreten Phänotyp. Die dabei eingetretenen Veränderungen werden dabei von Zellgeneration zu Zellgeneration weitervererbt, jedoch ohne direkte Beteiligung der DNA: Weder sind die Veränderungen durch sie festgeschrieben (kodifiziert), noch schreiben die Zellen die DNA um. Das Erbgut wird gewissermaßen zunehmend genauer „interpretiert“.

Was im Mutterschoß passiert …

Die fundamentale Bedeutung der Epigenetik lässt sich am besten bei der „Interpretation“ der DNA im Laufe der embryonalen Entwicklung des Menschen aufzeigen. Hier ist es ein weiter Weg von der befruchteten Eizelle an. Aus dieser ersten, zu jeder weiteren Entwicklung fähigen (totipotenten) Zelle werden schon nach wenigen Teilungen Zellen, die nur noch Entwicklungen in einem bestimmten Rahmen erwarten lassen. Die Zellen spezifizieren sich im Laufe der embyronalen Entwicklung immer weiter, mit jeder Zellgeneration verengt sich das ursprüngliche Potenzial zu einer immer genaueren Funktion, bis der Körper seine abschließende Gestalt erlangt und zu einem komplexen Organismus geworden ist. Hier besteht nicht mehr die Gefahr, dass sich im Auge Leberzellen bilden können. Nach der Geburt werden die eingeschlagenen Wege natürlich fortgesetzt. Von den ersten Zähnchen bis zu den letzten grauen Haaren weisen alle Zellen spezifische Funktionen auf, die sie nur noch unterschiedlich gut erfüllen, jedoch nicht mehr grundlegend ändern können. (1)

Wie es dazu kommt …

Die DNA als Trägerin des Erbgutes lässt sich mit der Entwurfsskizze für eine große Stadt vergleichen, etwa der planmäßig angelegten Hauptstadt Brasília. Wer die Stadt kennt, kann sowohl die ursprünglichen Möglichkeiten (den Genotyp, wenn man so will), als auch die konkrete Verwirklichung dieser Möglichkeiten (den Phänotyp) erkennen. Änderungen und Anpassungen zogen andere Änderungen und Anpassungen nach sich, und so entwickelte sich die konkrete Hauptstadt Brasiliens.

Die in der DNA enthaltenen Gene biheten Baupläne nicht für Straßen und Häuser, sondern für Ribonukleinsäuren (RNA). Unter diesen kodiert die mRNA die Bildung von Proteinen, indem sie die DNA entsprechend auswertet: Die jeweils zu einem Protein zusammenzusetzenden Aminosäuren sind genetisch festgelegt. (2) Das komplexe Zusammenspiel der Proteine macht dabei das eigentliche Leben und die spezifische Funktionalität einer Zelle aus, denn Proteine leisten die unterschiedlichsten Dienste.

Würde die DNA in jeder Zelle auf dieselbe Weise ausgewertet, könnte es nicht zur Ausbildung spezieller Zellen kommen. Tatsächlich gibt es aber verschiedene epigenetische Mechanismen, die eine bestimmte Lesart des Erbgutes bewirken.

Der grundlegendste Mechanismus greift bei der DNA, die ja vier verschiedene Basen (AGCT) (3) in bestimmten Kombinationen enthält. Eines dieser Basenpaare (GC) kann enzymatisch um eine Kohlenwasserstoffgruppe erweitert werden. Durch diese Methylierung erhält die DNA Zusatzinformationen, die zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden können. Ähnlich wie die DNA selbst können auch die sie umgebenden Proteine (insbesondere Histone) chemisch verändert werden, mit entsprechenden Ergebnissen.

Für uns ist interessant, dass durch diese chemischen Veränderungen das „Auslesen“ der betreffenden Gene verhindert werden kann. Teile der DNA können also stillgelegt werden, so dass die Informationen erhalten bleiben, aber nicht genutzt werden. Die gewaltige Menge an Basenpaaren, die in der DNA enthalten sind (4), erlaubt eine umfangreiche Modifikation durch Methylierungen, so dass die höchst unterschiedlichen Ausprägungen einzelner Zellen erklärlich sind. Neben der skizzierten Methylierung von DNA und Proteinen sind auch andere Mechanismen daran beteiligt, bestimmte genetische Informationen vermehrt abzurufen bzw. in ihren Auswirkungen bis zur Bedeutungslosigkeit zu mindern.

Entscheidend ist, dass diese Modifikationen sich von Zellgeneration zu Zellgeneration vererben: Wenn die DNA repliziert wird, damit die Zelle sich teilen kann, werden auch die Modifikationen übertragen.

Über den Mutterschoß hinaus …

Der von uns beschriebene Mechanismus greift nicht nur bei der Entwicklung im Mutterleib, auf die wir unseren ersten Blick geworfen haben. Auch im weiteren Leben geschehen Modifikationen an der DNA, die die Gestalt der immer wieder neu entstehenden Zellen – und damit des gesamten Organismus – beeinflussen. Besonders weitreichend sind diese Änderungen während der wachstumsintensiven Zeit der ersten Lebensjahre, und erneut in der Pubertät. Weichen, die hier gestellt werden, werden das spätere Leben nachhaltig und unumkehrbar prägen. Diese epigenetische Prägung geht weit über rein psychologisch erklärbare Erscheinungen hinaus.

So nimmt es nicht wunder, dass Kinder empfindlich auf ihre Umwelt reagieren und sich von ihnen gemachte Erfahrungen prägend auswirken. Bei Kindern etwa, die häufig Stress und Gewalt ausgesetzt sind, wird das Gleichgewicht zwischen den ausgeschütteten Stresshormonen und den entsprechenden Hormonrezeptoren gestört. Die Rezeptoren stellen bleibend ihre Funktion ein; Stresshormone werden nicht mehr erkannt und können nicht abgebaut werden. Physischer Dauerstress und damit einhergehende Erkrankungen sind die Folge. Umgekehrt sind Kinder, die sich geborgen wissen und sich keine Sorgen um Streicheleinheiten machen müssen, schon vom Hormonhaushalt her ausgeglichener, was sich natürlich im Verhalten niederschlägt. (5)

Selbstverständlich ist es aber nicht nur das soziale Verhalten der Umgebung, das sich in unserer Entwicklung niederschlägt. Auch Ernährungsgewohnheiten, Kontakt zu Giften, Lärm, Bewegungsräume: Viele zunächst äußere Einflüsse schlagen sich im Innersten unseres Körpers nieder, ohne das eigentliche Erbgut anzugreifen. So bestehen Zusammenhänge mit Autoimmun-Krankheiten (etwa Allergien) (6), mit Schmerzentwicklung und –wahrnehmung (7), mit der Bildung von Tumoren (8) und vielen anderen Feldern menschlichen Gedeihens und Verderbens.

Ununterbrochen geschieht die beschriebene Anpassung unserer Zellen. In vielerlei Hinsicht können wir also durch unseren Umgang mit uns und anderen mitentscheiden, was wir für Menschen sein wollen – auf molekularer Ebene.

… bis in das dritte und vierte Glied (9) …

Die epigenetische Prägung ist Studien zufolge nicht auf den einzelnen Organismus beschränkt: Einzelne Modifikationen lassen sich über mehrere Generationen aufzeigen. Gut dokumentiert sind etwa die Auswirkungen des Hungerwinters 1944–45 in den besetzten Niederlanden: Die Mangelernährung der Schwangeren führte zu einem vermehrten Auftreten etwa von Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen (10). Aber auch Schizophrenie und verschiedene neurologische Schäden waren unter den im Mutterleib schon Beeinträchtigten auffallend häufig verbreitet (11). Noch heute ist in den nachgeborenen Generationen der Mangelkinder die epigenetische Prägung der Eltern und Großeltern nachweisbar; statistisch äußert sie sich in der Häufung von Krankheitsbildern, die sich durch die gegenwärtige medizinische Versorgung in den Niederlanden schwerlich erklären lassen.

Was fangen wir damit an?

Wenn HUBER in seinem Buch Liebe für vererbbar erklärt, bringt er einen wesentlichen Punkt knapp zum Ausdruck. Viele Einflüsse wirken während unseres gesamten Lebens auf uns ein, vom ersten Augenblick an. Mit den meisten werden wir leben müssen, oder genauer: Unser gesamter Körper reagiert unentwegt auf diese Einflüsse und passt sich ihnen an. Und dennoch:

Auch der Umgang mit uns selbst und unseren Mitmenschen ist ein bedeutender Faktor. Er ändert nichts an unseren Startbedingungen, an unseren genetischen Voraussetzungen. Aber er hilft uns, immer mehr zu denjenigen zu werden, die wir sein können. Von Grund auf.

 

Anmerkungen

(1) Einzig den aus der Debatte um die Stammzellenforschung bekannten adulten Stammzellen wird noch eine gewisse Pluripotenz bleiben, die eine Entwicklung in verschiedene Richtungen offen lässt, ähnlich wie in der Frühphase menschlichen Lebens.

(2) Nur etwa 1,5 Prozent der Gene ist an der Bildung von Proteinen beteiligt.

(3) Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin.

(4) Dabei gibt es Bereiche, die für diesen epigenetischen Mechanismus eher geeignet sind (sog. GpC-Inseln), und andere, in denen kaum Methylierungen sich finden lassen.

(5) Beispiel entnommen aus: HUBER, J.: Liebe lässt sich vererben. Wie wir durch unseren Lebenswandel die Gene beeinflussen können. München, 2010 ISBN 978-3-89883-269-4.

(6) Vgl. BROOKS, W. H. ET AL.: Epigenetics and Autoimmunity; in: Journal of Autoimmunity, 2010, Vol. 34, Iss. 3.

(7) Vgl. DOEHRING, A. ET AL.: Epigenetics in pain and analgesia: An imminent research field; in: European Journal of Pain, 2011, Vol. 15, Iss. 1.

(8)Vgl. DOLINOY, D.C.: Epigenetics and Carcinogenesis; in: Comprehensive Toxicology, 2010, Chapter 14.14.

(9) 2. Buch Mose, Kapitel 20, Vers 5.

(10) Vgl. RAVELLI, A. C. J. ET AL.: Glucose tolerance in adults after prenatal exposure to famine; in: The Lancet, 1998; Vol. 351, Iss. 9097.

(11) Vgl. NEUGEBAUER, R. ET AL.: Prenatal exposure to wartime famine and development of antisocial personality disorder in early adulthood; in: JAMA (The Journal of the American Medical Association ),1999, Vol. 282, Iss. 5.


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden