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Gesprächsreihe zum Thema Integration
Pavel Usvatov, 28 Jahre alt, ist in St.-Petersburg geboren und aufgewachsen. Er lebt seit 13 Jahren in Deutschland und wurde 2004 eingebürgert. Im Moment ist er Doktorand und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und arbeitet in einer Kanzlei. Seine Eltern haben beide einen Universitätsabschluss, konnten in Deutschland allerdings bis zum Rentenalter trotz hoher Qualifikation und ständiger Bemühungen nur befristete Arbeitsstellen für Geringqualifizierte bekommen. Die Anerkennung der Abschlüsse nahm über sieben Jahre in Anspruch.


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Wie war Dein bisheriger Bildungsweg?

Nach der mittleren Reife 1998 auf einem Gymnasium in St.-Petersburg folgte im Alter von 15 Jahren die Immigration nach Deutschland. Trotz der spärlichen Sprachkenntnisse (ich war gerade mal drei Monate in Deutschland) nahm mich im August 1998 die Realschule in Halstenbek auf, obwohl die Erfolgsaussichten ungewiss waren. Im Mai 2000 machte ich als Drittbester des Jahrgangs den Realschulabschluss. Laut der Leitung des örtlichen Gymnasiums war mein Deutsch nun gut genug für die Aufnahme in die 10. Klasse, ich ließ mich darauf ein. 2004 erwarb ich das Abitur, wobei die Abschlussnote eine relativ freie Fächer- und Universitätswahl zuließ. Ich entschied mich für Jura in Hamburg und machte Mitte 2010 das 1. Staatsexamen. Seitdem bin ich Doktorand und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.

Fühlst Du Dich gut integriert?

Integration bedeutet für mich neben der Sprache auch das entsprechende soziale Umfeld und ein Verständnis für die Kultur und Gesellschaft. Ich spreche mittlerweile fast akzentfrei Deutsch und habe fast nur deutsche Freunde, bin aktives Mitglied im VDSt und bin froh darüber, dass ich Goethe und Kant in der Originalsprache lesen kann. Ich werde auch von den meisten Mitmenschen als Ihresgleicher akzeptiert. Ich fühle mich daher gut integriert.

Bist Du religiös?

Nein, ich bin Agnostiker. Ich vertrete allerdings „christliche“ Werte. Der Abstand zur Religion erlaubt es mir, alle Religionen objektiver zu betrachten. Mittlerweile habe ich gelernt, dass zum Beispiel auch der Islam durchaus Werte enthält, die meinen (christlich geprägten) Werten entsprechen.

Was ist Dein Erfolgsrezept?

Mein Erfolgsrezept waren wahrscheinlich der Überlebenswille, der Ehrgeiz und ein gewisser Stolz, eine Portion Glück und die Unterstützung durch meine Eltern. Ersteres, weil ich einen Weg finden musste, mich in einer für mich völlig neuen und anfangs recht fremden Gesellschaft zu behaupten. Ich lernte nur wenige erfolgreiche Migranten kennen, aber ich wollte nicht mit einer Flasche Vodka in der Hand auf einem Parkplatz sitzend enden, wie es vielen meiner Alters- und „Leidens“genossen erging. Natürlich dachte ich auch an meine jüngere Schwester und an meine Eltern.

Der Ehrgeiz, zweitens, kam nicht von selbst, sondern entwickelte sich mit der Zeit. Ich machte viel Sport und hatte dort Erfolgserlebnisse. Ebenso bei naturwissenschaftlichen Fächern in der Schule, weil die Ansprüche hier hinter denen in Russland zurück blieben. Mit den Erfolgen stieg auch der Ehrgeiz, mehr zu erreichen. Eines der Ziele war eine Eins in Deutsch, was ich in der Oberstufe schließlich auch erreichte. Daraus resultierte natürlich auch ein gewisser Stolz auf die eigene Leistung.

Und schließlich hatte ich wohl eine Menge Glück. Wir bekamen eine Wohnung in einem „deutschen“ Viertel zwischen Mehrfamilien- und Reihenhäusern und nicht in einer Hochhaussiedlung. Die experimentierfreudige Schulleiterin der Realschule ließ mich trotz der kaum vorhandenen Sprachkenntnisse auf ihre eigene Verantwortung zum Unterricht zu. Dazu lernte ich den Diakon der Gemeinde kennen. Er holte mich sogar zu Hause ab, wenn ich nicht in der Jugendgruppe erschien, und vermittelte mir eine pensionierte Deutschlehrerin, die mit mir wöchentlich übte. „Sprich Deutsch!“ und „Nehmen und geben“ – diese beiden Sätze vergesse ich nie. Seitdem engagiere ich mich auch selbst im Bereich Integration.

Mit welchen Widerständen hattest Du zu kämpfen?

Ich kann mich nicht an nennenswerte Widerstände erinnern. Ich wurde in der Realschule anfangs nicht akzeptiert und war ein Außenseiter, vermutlich aufgrund meiner schlechten Deutschkenntnisse  – mit mir hätten die Mitschüler Englisch sprechen müssen, und es war ihnen wohl peinlich, dass ein Russe es besser konnte.

Wirst Du heute noch mit Vorurteilen konfrontiert? Welche Vorurteile sind es?

Aufgrund meines europäischen Aussehens kommen andere Menschen nicht gleich darauf, dass ich einen Migrationshintergrund habe. Erst wenn ich meinen Namen sage oder viel rede, merken sie, dass ich nicht hier geboren bin. Viele sind überrascht, wenn ich ihnen sage, dass ich gerne Bier trinke und Vodka überhaupt nicht mag.

Hast Du Vorurteile gegenüber anderen Migranten oder Deutschen?

Ja, einige Vorurteile gegenüber den Migranten decken sich weitgehend mit den Vorurteilen, die durch die Medien transportiert werden. Ich gebe mir aber viel Mühe, mich nicht von diesen Vorurteilen beeinflussen zu lassen, sondern jeden Menschen als Individuum zu betrachten. Ich möchte schließlich auch nicht für das Verhalten irgendwelcher betrunkener Russen oder Putins Politik in Sippenhaft genommen werden.

Hinsichtlich der autochthonen Deutschen kenne ich eher Klischees als Vorurteile, die sich (leider) nur selten bestätigen. Oft vermisse ich bei ihnen die berühmte Gründlichkeit, Ordentlichkeit und Zuverlässigkeit.

Fühlst Du Dich deutsch, gemischt oder als Russe?

Ich habe meine Ausbildung und den Großteil meiner Bildung in Deutschland erhalten, mein Charakter wurde hier geprägt. Ich fühle mich daher deutsch, wenn auch die eine oder andere Sankt-Petersburger Charaktereigenschaft geblieben ist.

Was wünschst Du Dir von der deutschen Gesellschaft und Deinen Mitmenschen?

Ich wünsche mir mehr Aufklärung, was für mich aktuell Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Religionen bedeutet. Wenn man sich zu einem komplexen Thema äußert, sollte man auch Ahnung davon haben. Außerdem bin ich manchmal die Wehleidigkeit der Deutschen leid. Schließlich wünsche ich mir die Lockerung der selbstauferlegten „Denkverbote“, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung, und eine offenere und sachlichere Diskussion über unsere gesellschaftlichen Probleme.


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Pavel Usvatov

geb. 1983, Jurist, VDSt Straßburg-Hamburg-Rostock.

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