Mehr Demokratie wagen

Die Europäische Union durchlebt mehr als nur eine finanzpolitische Krise. Trotz großer politischer Errungenschaften gelingt es ihr nicht, ihre Bürger an sich zu binden. Demokratischere Strukturen, eine gemeinsame Öffentlichkeit und das Streben nach einer europäischen Seele sind die Gebote der Stunde, meint Thomas Pickartz.


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Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Zypern – die Liste der Euroländer, die ihre Staatsdefizite nicht mehr in den Griff bekommen und unter europäische Rettungsschirme flüchten müssen, wird immer länger. Die Krisengipfel überschlagen sich. Es wird auf Sicht gefahren; erst nach und nach werden in mühevoller Kleinarbeit Konzepte für eine solidere Wirtschafts- und Währungsunion erarbeitet, um künftigen Krisen vorzubeugen.

Leider wirken diese Konzepte nur mittel- bis langfristig, während die Folgen der so genannten „Sparpolitik“ in den Krisenländern sofort sichtbar werden: durch Stellenabbau im öffentlichen Dienst, den Ausfall staatlicher Investitionen, eine anhaltende Rezession, kräftige Einkommenseinbußen breiter Bevölkerungsschichten sowie – siehe Zypern – den Verlust von Spareinlagen.

Um der Politik die nötige Reaktionszeit zu verschaffen, legt die europäische Interimsfeuerwehr – EZB genannt – ihr geldpolitisches Mandat, das in erster Linie der Preisstabilität verpflichtet ist, überaus generös aus. Mit seiner Ankündigung, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aus Krisenländern aufzukaufen, holte EZB-Präsident Draghi die „Big Bazooka“ aus dem Schrank und hofft nicht ganz zu Unrecht, schon der bloße Anblick dieses Ungetüms werde „die Märkte“ davon abhalten, gegen den Euro zu spekulieren. Das wiederum führt zu Streit mit der Deutschen Bundesbank, die die Grenzen zur verbotenen monetären Staatsfinanzierung überschritten sieht.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die jüngste Errungenschaft der EU, der Euro, droht zum Spaltpilz zwischen dem reichen Norden und dem von mangelnder Wettbewerbsfähigkeit und einer dramatisch hohen Arbeitslosigkeit geplagten Süden zu werden.

Innere Gegensätze

Mitten in dieser Sinnkrise hat die EU zudem noch mit massiven Fliehkräften aus ihrem Inneren zu kämpfen.

Der britische Premier David Cameron kündigt an, den Verbleib Großbritanniens in der EU zum Gegenstand einer Volksbefragung zu machen. Bis 2017 soll ein „Drinnen-oder-Draußen“-Referendum abgehalten werden. Überdies wird die EU neuerdings durch einige ihrer östlichen Mitgliedsländer herausgefordert. Während man über die EU-Feindlichkeit des früheren polnischen Präsidenten Kaczynski oder des Tschechen Vaclav Klaus, der die Europaflagge vom Prager Hradschin entfernen ließ, noch schmunzeln konnte, stellen die autokratischen Anwandlungen eines Viktor Orban, der mit verschiedenen Gesetzen die Unabhängigkeit der Justiz, der Notenbank und der Presse zu beschneiden suchte und damit auch gegen EU-Recht verstieß, die EU als Wertegemeinschaft infrage.

Zu allem Überfluss gelingt es der Europäischen Union nicht, die Herzen ihrer Bürger zu gewinnen. Es gibt viele Gründe für die Bürgerferne der EU: zuvörderst die im Vergleich zu nationalen Parlamenten immer noch schwach ausgestaltete Rolle des Europäischen Parlaments ohne eigenes Recht zur Gesetzesinitiative und ohne den für Parlamente typischen Antagonismus zwischen einer von der Parlamentsmehrheit getragenen Regierung und der Opposition.

Weitere Gründe sind das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, das fehlende Charisma der auf EU- Ebene handelnden Akteure und nicht zuletzt die Komplexität der Entscheidungsprozesse, verbunden mit der Schwierigkeit einer eindeutigen Zuweisung politischer Verantwortlichkeiten.

Hinzu kommen fragwürdige Gesetzesinitiativen, mit denen sich die EU in regelmäßigen Abständen selbst ein Bein stellt, wie etwa das Glühbirnenverbot oder das – inzwischen zurückgenommene – Verbot eines gastronomischen Ausschanks von Olivenöl in offenen Kännchen.

Kurz gesagt: obwohl sie unser Leben mit über 6000 Verordnungen und mehr als 1800 EU-Richtlinien maßgeblich mitgestaltet, erscheint die EU vielen Bürgern zu weit weg, zu kompliziert, zu bürokratisch, zu blass, um nicht zu sagen blutleer.

Europa und seine Bürger

Um dieses Dilemma aufzulösen, stehen den Verantwortlichen auf europäischer und nationaler Ebene zwei Instrumente zur Verfügung: zunächst die zahlreichen Errungenschaften der EU im Bewusstsein ihrer Bürger stärker zu verankern; die EU aber auch mit dem Ziel größerer Bürgernähe weiter umzubauen und zu reformieren.

Was aber sind die über jeden Zweifel erhabenen Errungenschaften der EU?

Winston churchillDie erste und wichtigste lässt sich in drei Worten auf den Punkt bringen: „Nie wieder Krieg!“ Das war bereits der Tenor der berühmten Europa-Rede des britischen Premierministers Winston Churchill an der Universität Zürich im September 1946. Fünf Jahre vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten im Jahr 1951 wollte Churchill mit dem Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa vermutlich nicht die künftige Verfassung der Europäischen Union prädestinieren. Er wollte schlicht seiner Sehnsucht nach tragfähigen stabilitäts- und friedenssichernden Strukturen in Europa Ausdruck verleihen.

Das Versprechen von Frieden und Stabilität hat die Europäische Union bislang wie kein zweites erfüllt. Krieg zwischen EU-Mitgliedstaaten erscheint aus heutiger Sicht völlig undenkbar. Aus einstigen Feinden sind Freunde oder doch zumindest Partner geworden. Das gilt besonders für Deutschland und Frankreich, wird aber auch für alle Staaten des Balkans gelten, sobald sie Kroatiens Beispiel folgen und der EU beitreten werden.

Wohlstand und Rechtsstaat

Eine weitere Errungenschaft der EU bleibt das immer noch stattliche Maß an Wohlstand, den uns sowohl der europäische Binnenmarkt mit seinen Grundfreiheiten als auch die Währungsunion, von der Deutschland als Exportvizeweltmeister besonders profitiert, beschert hat. In der EU erbringen 7 % der Weltbevölkerung 25 % der Weltwirtschaftsleistung und 50 % der Weltsozialausgaben. Mag sein, dass sich die Gewichte mit der Zeit zu unseren Ungunsten verschieben. Doch bis uns Chinesen oder Inder beim Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt oder den Pro-Kopf-Sozialausgaben übertrumpfen, wird noch sehr viel Wasser den Jangtse und den Ganges hinunterlaufen.

Ferner bildet die Europäische Union eine Wertegemeinschaft, die auf gemeinsame Fundamente, nämlich die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechtecharta, aufbaut. Bei allen Unterschieden im Detail würden wir uns als Angeklagte vor einem portugiesischen oder lettischen Gericht sicher alle wesentlich wohler fühlen als vor einem russischen. Und zwar nicht nur deshalb, weil die Angeklagten in Russland während des Prozesses in Käfigen ausharren müssen.

Wir zögern nicht, unsere Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit in Polen oder Griechenland auszuleben. Wie wenig selbstverständlich das außerhalb der EU ist, wird uns aber schnell bewusst, wenn wir dasselbe in China versuchen.

Schließlich dürfen bei einer Aufzählung der wichtigsten Errungenschaften der EU die offenen Grenzen und, trotz aller Schwierigkeiten, auch unsere gemeinsame Währung nicht fehlen. Wer von uns kann sich lange Autoschlangen an der deutschen Grenze oder das Wechseln von D-Mark in französische Francs überhaupt noch ernsthaft vorstellen?

All diese Errungenschaften haben eines gemeinsam: sie sind uns dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie allein nicht mehr ausreichen werden, Begeisterungsstürme für die EU zu entfachen.

Wege zu mehr Bürgernähe

Größere Bürgernähe der EU kann nur durch ein Bündel von Reformen und Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene erreicht werden, von denen nachfolgend nur einige genannt seien:

1. Abbau des Demokratiedefizits der EU durch weitere Stärkung der Rolle des EU-Parlaments. Kommissionspräsident sollte nicht ein unbekannter Technokrat werden, sondern der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion im EU-Parlament. Die bereits vorhandenen plebiszitären Elemente (Stichwort: Europäische Bürgerinitiative) sollten gestärkt werden.

2. Abschaffung der Regel, wonach jedes Land einen Kommissar stellt. Eine Verringerung auf 12–15 Ressorts würde eine Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben bewirken. Derzeit wird ein Kommissar mit kleinem Ressort schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb auf gesetzgeberische Initiativen drängen, auch wenn diese nicht erforderlich sind.

3. Strenge Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Nur das sollte auf EU-Ebene geregelt werden, was auf der bürgernäheren nationalen, regionalen oder lokalen Ebene nicht genauso gut geregelt werden kann.

4. Mehr Mut seitens der Staats- und Regierungschefs bei der Besetzung wichtiger europäischer Ämter wie des Präsidenten des Europäischen Rates oder des EU-Außenbeauftragten. Auch auf die Gefahr hin, dass sie den Staatschefs ab und an die Schau stehlen.

5. Ausstattung der EU mit mehr Eigenmitteln, um die unselige Nettozahlerdiskussion zu entschärfen. Denkbar wäre etwa, die im Grundsatz beschlossene Finanztransaktionssteuer dem EU-Haushalt zuzuführen. Im Gegenzug müssen aber auch die Ausgaben der EU neu geordnet werden. Statt einen Großteil des Geldes in die Landwirtschaft zu stecken, sollten Forschung und Entwicklung, transeuropäische Infrastrukturprojekte und Ideen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit finanziell gefördert werden.

6. Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit durch qualitative Medienberichterstattung, schulische und universitäre Bildung und das ehrenamtliche Engagement der akademischen Eliten.

7. Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft durch Ausbau europäischer Austausch- und Freiwilligenprogramme (z.B. ERASMUS für alle). Jeder Unionsbürger sollte die Möglichkeit bekommen, mindestens einmal in seinem Leben für sechs Monate in einem anderen Mitgliedstaat der EU zu leben, zu arbeiten, zu studieren oder eine Ausbildung zu absolvieren.

sixtinische kapelle8. Stärkere Einbindung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Dialog auf europäischer Ebene. Dass der Gottesbezug und das christlich-jüdische Erbe keinen Eingang in die Präambel der EU-Verträge gefunden haben, ist bedauerlich. Da in der EU mangels gemeinsamer Sprache ohnehin ein Mangel an identitätsstiftenden Merkmalen herrscht, ist dies eine verpasste Gelegenheit. Europa braucht – wie es der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors formulierte – eine Seele. Die integrative Kraft, die von Kirchen und Religionsgemeinschaften ausgeht, sollte auch für die EU fruchtbar gemacht werden.

Die Liste ließe sich fortsetzen.

Die Geschichte der Europäischen Union ist eine weltweit einmalige Erfolgsgeschichte und wird dies aller Voraussicht nach auch bleiben. Es steht freilich kein europäischer Superstaat am Horizont, sondern ein immer engerer Zusammenschluss souveräner Staaten. Weitere Integrationsschritte wie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen wirklich verdient, oder eine Europäische Armee sind möglich, werden sich aber, wie so oft, vielleicht erst unter dem Handlungsdruck konkreter Ereignisse oder äußerer Bedrohungen vollziehen.


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