Menschenrechte in ethischer Verantwortung

Trotz ihres universellen Geltungsanspruchs sind Menschenrechte ohne ihre konkreten historischen und ideengeschichtlichen Voraussetzungen nicht denkbar und bedürfen, um wirksam zu ein, täglich neuer Anstrengung.


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unabhngigkeitserklrung 1776

1776: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung wird ratifiziert. Zusammen mit der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen im Rahmen der Französischen Revolution bildet sie die Anfänge der neuzeitlichen Menschenrechte im 18. Jahrhundert.

Wie jede kulturelle Leitidee sind die Menschenrechte zwar von der empirischen Geschichte distanziert, aber nicht von ihr gelöst. Sie verkünden keine überzeitliche Wahrheit, sondern eine Wahrheit, die die aus dem konfliktreichen Umgang der Menschen miteinander erwachsenen Erfahrungen und Einsichten in wenigen Sätzen konzentriert. Wenn der Geltungsanspruch der Menschenrechte über ihren historischen Ursprung hinaus fortdauert, dann deshalb, weil auch spätere Generationen die Bedeutung des in ihnen Gesagten, aufgrund ihrer eigenen geschichtlichen Erfahrung, bejahen. Aber dann kann man auch erwarten, dass neue Erfahrungen und das Auftauchen neuer Lebensprobleme die Leitidee fortschreiben und verwandeln. Der Wandel ist eben Ausdruck dessen, dass sie uns etwas zu sagen hat.

Das Leitbild ist also im Zusammenhang mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Lebenserfahrung zu studieren. Nur wenn dieser Bezug gegeben oder immer wieder hergestellt wird, vermeidet man, in eine Sonntagsrhetorik zu verfallen.

Max Weber hat ja in seiner berühmten Münchner Rede „Politik als Beruf“ (1919) eine lebensfremde nur in sich kreisende „Gesinnungsethik“ mit einer sich auf die Härte realpolitischer Situationen einlassenden „Verantwortungsethik“ konfrontiert. Diese wichtige Unterscheidung gilt es aus ihrer starren Entgegensetzung des „Entweder-Oder“ zu lösen und beide Extreme ineinander zu vermitteln. Denn ein Leitbild, das sich nicht – wie immer abständig zum Ideal – in die Realität umsetzen lässt und sich damit auch mit konkreten Entscheidungen belastet, zerstört sich selbst. Umgekehrt wird die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, beliebig und manipulierbar, wenn man sich nicht besonnen um den Sinn, den Wert und die Wahrheit des Wozu ihres grundgelegten Interesses bemüht.

Die basalen Texte der Menschenrechts-Deklarationen sind im 18. Jahrhundert verfasst. Es ist einmal die Declaration of Independence – die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 – sowie die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789. Entsprechend der Natur solcher Deklarationen entbehren ihre Definitionen einer tieferen philosophischen oder theologischen Begründung. In der Tat aber sind ihre Verfasser mit der politischen Philosophie ihrer Zeit wohlvertraut. Die politischen Philosophen wiederum reflektieren ihre Einsichten im Rückgriff auf christlich-stoische Traditionen, die sie freilich nicht einfach repetieren, sondern sich selbständig aneignen und ihnen eine neue – dem Geist der Moderne angemessene – Fassung geben.

Stoa und Christentum

Das Menschenbild der späthellenistischen Philosophie sei hier kurz formuliert. Vorherrschend ist die Überzeugung, dass die eine, den Kosmos durchströmende göttliche Macht auch im innersten Wesen oder der innersten Natur eines jeden einzelnen Menschen wirksam sei. Das trifft auf alle Menschen zu, den Herrn und den Sklaven, den Mann und die Frau. Diese religiöse Überzeugung schlägt sich aber bestenfalls in der privaten Moral, nicht jedoch in den harten politischen und sozialen Verhältnissen nieder. In ihnen ist der einzelne, wozu er durch seinen Stand bestimmt ist. Die Differenz zwischen der ideellen Auffassung des Menschen und der sozialen Realität wird nicht überbrückt. Der stoische Weise ist kein Revolutionär. Seine Wahrheit liegt jenseits der gesellschaftlichen Beziehungen, die als scheinhaft und unbeständig erfahren werden.

Eine Synthese mit den Ideen des späthellenistischen Judentums und dem Ethos des im 4. und 5. Jahrhundert zur Staatsreligion avancierten Christentums fällt nicht schwer. Die Einladung Jesu, nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind unbedingt anzunehmen, kann mit der römischen Begrifflichkeit der Lex Naturalis (Cicero) versachlicht, als unumstößliches Gesetz Gottes und Wesensbestimmung des Menschen überhaupt, ontologisiert, juristisch und philosophisch salonfähig gemacht werden.

Durchbrüche werden freilich erst in der Neuzeit erreicht. Als Geschäftsgrundlage der Argumentation gilt nun nicht mehr die durch die Konfessionskriege zersplitterte und diskreditierte christliche Religion, sondern die überindividuelle und transkulturelle menschliche Vernunft. Die moderne säkulare Vernunft ist mit dem menschlichen Willen aufs engste verbunden. Im Unterschied zur Stoa heißt es jetzt: Der Mensch ist nicht einfach Vernunft, sondern er hat dazu nur die Anlage, die es durch sein Handeln zu verwirklichen gilt. Und: Der einzelne wird nicht nur durch sich und für sich vernünftig, sondern es sollen vernünftige soziale und politische Verhältnisse geschaffen werden.

Das staatliche Gewaltmonopol

thomas hobbesIn welchem Kontext beginnen die Menschenrechte in der Moderne ihre Bedeutung zu entfalten? Im 17. Jahrhundert sucht die politische Theorie die Konstitution des modernen Staates begrifflich zu erfassen und auch mitzugestalten. Der moderne Staat ist zunächst dadurch definiert, dass er alle gesellschaftlichen Kräfte durch sein Gewaltmonopol zur Einheit zusammenzuzwingen befugt ist. Der Staat, so argumentiert Thomas Hobbes im Leviathan (1651), ist die einzige und absolute Ordnungsmacht, die den gesellschaftlichen Frieden dauerhaft zu erhalten imstande ist.

Herrschaft muss ungeteilt sein, wenn die Funktion der Friedenswahrung erfüllt sein soll. Der Souverän erhält die Befugnis, das zum Frieden Notwendige zu diktieren, er ist Diktator, der durch den jeweiligen Erfordernissen sich anpassende Maßnahmegesetze der Erwartung der gesellschaftlichen Individuen entspricht. Der Staat kann mit dem durchschnittlichen Einverständnis der Normunterworfenen rechnen, sofern der durch Staatskunst erzeugte Friede – the People’s Safety – die Bedingung ist, dem jeweiligen Glücksstreben der einzelnen Individuen Aussicht auf Erfolg zu geben.

Wird dem Staat das absolute Gewaltmonopol und damit alle Techniken, den Frieden durchzusetzen zugestanden, dann hat das freilich den Preis, dass die von ihm ausgehenden Ordnungsmaßnahmen ihrerseits von den Untertanen nicht mehr beeinflusst werden können. Der Sinn der Staatsordnung verkehrt sich demnach in sein Gegenteil: Die Möglichkeit „wilder“ ungeordneter Gewalt erneuert und wiederholt sich im Zentrum der Autorität, sofern diese ausschließlich als Zwangsform, und zwar als unbeschränkte gedacht ist.

Rationales Naturrecht

Insofern bedarf das moderne politische System einschneidender Korrekturen, wenn die bürgerlichen Individuen nicht von Angst bedrückt, sondern zum Gelingen ihrer Selbstverwirklichung ermutigt werden sollen. Wie lässt sich theoretisch eine Relativierung der Staatsmacht und eine Bändigung der ihr inhärierenden Gewalt erreichen?

Hier sind es wieder die christlich-stoischen Ideen, die für die Weiterentwicklung des politischen Systems hilfreich sind. War die dunkle Unbegreiflichkeit des Gottesbildes (Deus absconditus) der Theologie des 17. Jahrhunderts gerade die Bedingung, dass die menschliche Freiheit sich als auf sich gestellt erfahren musste und damit mit der Last der Weltverantwortung konfrontiert wurde, so weist die heitere und optimistische Theologie der Aufklärung auf Möglichkeiten, die individuelle und gesellschaftliche Freiheit auf humane Zwecke hin auszurichten und institutionell zu stabilisieren.

In dieser Absicht führt John Locke im Second Treatise on Government (1698) die christliche Schöpfungstheologie in die politische Diskussion ein. Gott erschafft den Menschen – das ist das ursprüngliche Verhältnis, das allen zwischen-menschlichen Verhältnissen vorausgeht. Geschaffen sind die Menschen als von Natur aus gleich – sie sind nicht von vornherein auf soziale Unterschiede festgelegt – sie sind frei, d. h. nicht von vornherein in sozialen Abhängigkeitsverhältnissen gefangen; jedem einzelnen Menschen eignet die Vernunft, die die Bestimmung hat, die Fähigkeiten des Einzelnen zur Entfaltung zu bringen. Die natürliche Natur, die Neigungen, die auf „Life, Liberty, Property“ zielen und im „Pursuit of Happiness“ realisiert werden, wird zur Rechtsnatur des Menschen umgedeutet.

Die Anerkennung des anderen

immanuel kantSind für John Locke die Menschenrechte noch eine mit Hilfe der theologischen Konstruktion vorausgesetzte Substanz, ein von vornherein hingestelltes Podest, auf dem man stehen und von dem aus man handeln kann, so hat Immanuel Kant – eindringlich in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten (1785) – diese „Natur“ als wesentlich problematischer begriffen. Der Mensch ist ein Doppelwesen aus egoistischen Neigungen und der auf das soziale Allgemeine zielenden und dessen Ansprüche kategorisch einfordernden Vernunft. Die Vernunft impliziert an sich die Anerkennung aller Menschen, sofern jeder einzelne an sich die eine Vernunftnatur inkarniert.

Aber die Sozialbestimmung seiner Vernunft muss von jedem Menschen sowohl erkannt und gegen seine Egointeressen erst gewollt werden. Wenn das staatliche Recht das als überstaatliches Recht voraussetzt: dass jeder Mensch ein personaler Selbstzweck ist, dann muss sich dieser einzelne Mensch selbst dazu machen. Er macht sich dazu, indem er sein Handeln oder seine Handlungskonzepte so einrichtet, dass sie sowohl seine eigene Persönlichkeit als auch die Persönlichkeit jedes anderen Menschen respektieren. Jedes vernunftorientierte Handeln realisiert sich dann im Horizont interpersonaler Anerkennung.

Dabei ist die Forderung nach einer wechselseitigen Anerkennung des anderen ja nicht nur formal. Die formale Anerkennung allein wäre schnell gemacht. Aber wenn man sie ernst nimmt, dann hat das auch inhaltliche Konsequenzen, nämlich, an einer Veränderung zum Besseren der realen gesellschaftlichen Gegebenheiten mitzuarbeiten, die den Menschen von vornherein um die Chancen seiner Selbstverwirklichung bringen oder sie einschneidend mindern.

Eine nachdenkende Moral wird konsequent Sensibilität und Aufmerksamkeit für die konkreten gesellschaftlichen Lebensvollzüge entwickeln müssen und fragen, wieweit sie den von ihnen bestimmten Menschen schaden oder nützen. Der ethisch reflektierende Mensch wird dann vor allem mit den Konfliktfeldern sich befassen, zu denen er durch seine Ausbildung, durch seinen Beruf und durch seine gesellschaftliche Position am ehesten Zugang hat. Er wird in variante und relativ eigenständige Moralen hineingezogen werden, sofern ja die moderne Gesellschaft durch eine Mehrzahl von Systemen, neben den politischen vor allem den wirtschaftlichen, wie von den Systemen der Technik, vom Erziehungs- und Gesundheitswesen etc. getragen und bewegt ist.

Aber all diese Moralen, wenn sie in den sie angehenden Bereichen begründend Stellung nehmen sollen, müssen nicht nur Konkretionsbereitschaft zeigen, also bereichsspezifische Kompetenz aufbauen, sie müssen sich auch immer wieder zurückführen auf die Idee des sich humanisierenden Menschen, wie sie in den Niveauangaben der Rechte des Menschen zum Ausdruck kommen.

Freiheit und Recht

Die Menschenrechte werden wirksam, wenn sie als Grundrechte in der Verfassung einer Gesellschaft Eingang finden und von den staatlichen Organen als Grundnorm ihrer gesellschaftsgestaltenden Handlungen akzeptiert werden.

Der Staat, der sich unter das Grundgesetz beugt, ist dann eben nicht nur Bürokratie, die mit den Menschen technisch verfährt, sondern er ist selbst moralisches Subjekt, dessen Leistung darin besteht, dass es das Subjektsein seiner Bürger und Bürgerinnen respektiert und fördert.

Auf der anderen Seite wird der Staat seine moralische Idee nur bewahren, wenn die gesellschaftlichen Individuen ihm nicht nur Legalitätsgehorsam leisten, sondern in ihrer Lebenspraxis sich ebenfalls an dieser moralischen Idee orientieren, derart, dass das im deklarierten Menschenrecht nur abstrakt Umrissene auch zur sittlichen Wirklichkeit (Hegel) werden kann.

Das verlangt eine beträchtliche Anstrengung, die es jeden Tag zu übernehmen gilt.


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Gerhard Droesser

geb. 1948, Professor für katholische Theologie.

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