Nietzsche und das Christentum

Nietzsches unablässige Angriffe auf die Moral des Christentums bilden den Hintergrund seines gesamten Werkes. Sie sind der bleibende Stachel im Fleisch des Christentums und eine beständige Aufforderung an die „tote Christenheit“ zu radikaler Jesusnachfolge.

kreuzigung

„Es gibt dankbarere Aufgaben, als die Moralkritik des späten Nietzsche darzustellen“, schreibt Winfried Schröder in seiner erhellenden Reportage über den „moralischen Nihilismus“, eine sehr umsichtige Auseinandersetzung mit der radikalen Moralkritik seit Beginn der praktischen Philosophie bei den Sophisten und dem Wiederaufgreifen durch Platon. Die These der Sophisten war, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und damit auch Recht und Moral eine Frage der Macht: Was gilt oder zumindest gelten soll, setzen diejenigen durch, die über die entsprechenden Mittel verfügen, nicht nur Meinungsführer zu sein, sondern auch tatsächlich zu herrschen. Die herrschende Moral steht im Interesse der Herrschaft der Mächtigen. Platon und „sein“ Sokrates wurden nicht müde, dem die Idee entgegenzustellen, dass es bei weitem besser wäre (aufs Ganze für alle Beteiligten), wenn das Recht die Macht bekäme. Daher verlangt Platon in seiner Schrift über den gerechten Staat (Politeia), dass die Philosophen Könige sein sollten oder die Machthaber wenigstens philosophieren.

Die Basis der ganzen Argumentation – und auch die Argumentation selbst – lässt sich nicht auf wenigen Seiten darstellen. Vielleicht wäre diese Aufgabe eine dankbarere. Allerdings wusste Platon, dass man nicht ohne weiteres wird sagen können, was „das Gute“ sei. Es muss genügen, was Rousseau einmal so formuliert hat:  „Ich würde mir nicht anmaßen, Leute zu belehren, wenn andere sie nicht irreführten.“

Wer aber, um nun wieder zu Nietzsche zu kommen, sind die Irrenden und wer die Verführer? Nietzsche oder aber Platon samt Sokrates und Christus? Die Verbindung von Platonismus und Christentum wird uns noch beschäftigen. Dass Nietzsche das Christentum „Platonismus fürs Volk“ nannte, dürfte manchem bekannt sein. Gewiss auch seine Schmähungen der Christenheit. Bei all dem aber erstaunt, dass Nietzsche zur Bibel und vor allem zur Person Jesu sich zeit seines Lebens längst nicht so ablehnend verhielt wie vor allem in späteren Jahren zur christlichen Kultur und zur Kirche. Dies offenbar deshalb, weil es Nietzsche weniger um das Christentum im Allgemeinen, sondern um dessen Ethik bzw. Morallehre im Besonderen geht. Außer Frage steht zwar, dass er dem Christentum im Ganzen nicht gerecht zu werden vermag. Dass aber Christen von Nietzsche nicht weniges lernen können, darüber besteht ebenfalls kein Zweifel. Namentlich die Christenheit Europas braucht sowohl zur Selbstkritik wie zur Selbstvergewisserung die Religions-, Christentums- und Kirchenkritik jenes Mannes, dem nicht zuletzt seine gediegene religiöse Erziehung – er entstammt einem betont protestantischen Milieu (der früh verstorbene Vater und beide Großväter waren Pfarrer) – intimste Kenntnisse des Geistes Jesu vermittelt hatte. Nietzsche sieht das „Ende des Christentums“ durch innere, schon in der Antike grundgelegte Widersprüchlichkeiten kommen, über das nur eine polierte bürgerliche Fassadenchristlichkeit oder ländliches Trachtenvereinschristentum – teilweise bis heute – noch hinwegtäuschen kann. Die Einbeziehung von Nietzsches Kritik ist inzwischen Pflichtbestandteil aller Versuche, das Christentum in der Moderne zu lokalisieren.

Ebenso ist Nietzsches Moralkritik wohl die größte Herausforderung für eine Besinnung in Sachen Moral auf der Höhe der Zeit. Dass der Zeitgeist der Sinnesart der Sophisten sehr nahe ist, macht, da das Christentum seine prägende Kraft verloren hat, Nietzsches Platonkritik besonders aktuell. Der von Nietzsche mit seismografischer Genauigkeit diagnostizierte Nihilismus breitet sich aus und gegenüber sich verselbständigenden Rationalitätsformen, etwa im Szientismus der naturalistisch geprägten Wissenschaft, in Wirtschaft und Technik, muss das Band des umgreifenden Subsystems Moral wohl zerreißen. Nietzsches Diagnose wird durch den Lauf der Dinge zunehmend bestätigt. Zugleich schrecken viele Menschen „instinktiv“ und aufgrund eines „moralischen Gefühls“ vor den Konsequenzen einer sich ausbreitenden nihilistischen Denkweise zurück. Moral ist zumindest als Forderung und in Absichtserklärungen gefragt, die Ethik boomt. Umso wichtiger ist aber dann deren stichhaltige Grundlegung und Begründung. Hier könnte Nietzsches unbestechlicher, entlarvender und mutiger Blick ebenso gute Dienste leisten wie bei der christlichen Gewissenserforschung.

Dazu muss man aber das eigentliche Anliegen Nietzsches bei all seiner Kritik am Christentum und der Moral, die im kulturellen Westen von der biblischen Tradition bestimmt war, herausarbeiten. Denn vorderhand begegnet uns ein Kämpfer mit „Schaum vor dem Mund“. Mit heftigen Attacken und verletzend schroffen Worten wirft Nietzsche den Christen vor, den Lebenswillen zu schwächen. Er behauptet, Kategorien wie Gott, Jenseits oder Seelenheil seien nur dazu erfunden worden, das Leben in Frage zu stellen, das Diesseits zu entwerten, den Leib zu verachten und die Menschen zu knechten, zu erniedrigen, ja zu terrorisieren. „Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit und des Geistes: zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung.“

Wider den Wert des Mitleidens

Mit dem Christentum siegten die Schlechtweggekommenen, Schwachen und Ohnmächtigen. Es ist die Religion des Ressentiments. Christlich schmeckt das Wort „gerecht“ allzu sehr nach „gerächt“. Dem Eros habe man Gift zu trinken gegeben, an dem er zwar nicht gestorben, aber weswegen er nun zum Laster entartet sei. Die Vorstellung eines gekreuzigten Gottes sei nicht nur ein Ärgernis, sondern „ein Fluch auf das Leben“. Letztlich ist die innere Verfassung des Christentums selbst Nihilismus, denn die angeblichen Werte sind wertlos im Blick auf das Leben.

Als Tugend firmiert entweder verbrämtes Unvermögen (für Impotente ist die Keuschheit entlastend) oder es handelt sich von vornherein um eine Lüge. Denn wer zum Beispiel vorgibt, für Gerechtigkeit zu kämpfen, sucht in Wahrheit Vorteile im Verteilungskampf. Der asketische Priester macht sich nicht frei für Gott, sondern vergiftet den Lebensquell mit seinem Willen zum Nichts. Das höchste Ideal im Christentum, Opfer zu bringen, entlarvt Nietzsche als widernatürlich: „Lieber noch will der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen.“ Das Christentum gilt ihm als der Todkrieg gegen den höheren Typus Mensch. Am verächtlichsten aber spricht er von dem, was er für das Herzstück der christlichen Moral hält: das Mitleid(en).

In einem der aufregendsten Texte heißt es: „Oh meine Freunde! So spricht der Erkennende: Scham, Scham, Scham – das ist die Geschichte des Menschen! Und darum gebeut sich der Edle, nicht zu beschämen: Scham gebeut er sich vor allem Leidenden. Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham … Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich, man ärgert sich, ihnen zu geben und ärgert sich, ihnen nicht zu geben. Und insgleichen die Sünder und bösen Gewissen! Glaubt mir, meine Freunde: Gewissensbisse erziehn zum Beißen … Also redet alle große Liebe: die überwindet auch noch Vergebung und Mitleiden. Man soll sein Herz festhalten; denn lässt man es gehn, wie bald geht einem da der Kopf durch! Ach, wo in der Welt geschahen größere Torheiten, als bei den Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid als die Torheiten der Mitleidigen? Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist!“ (Zarathustra, Teil 2, Von den Mitleidigen).

Schon in „Die fröhliche Wissenschaft“ heißt es am Ende des dritten Buches: „Wo liegen deine größten Gefahren? – Im Mitleiden … Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen. Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“

Ist das nun der Gipfel der Schamlosigkeit oder der Anfang wahrer Erkenntnis und Weisheit? Für Nietzsche ist die Antwort klar. Sein Ethos des freien Geistes verlangt Menschen, die sich als Brücke zum Übermenschen verstehen, zum Kommenden. Das scheint mit der christlichen Demut unverträglich, obschon Jesus selbst eine große innere Freiheit attestiert wird. In der Streitschrift „Der Antichrist“ schreibt Nietzsche: „Dieser ‚frohe Botschafter‘ starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um ‚die Menschen zu erlösen‘, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht, er tut keinen Schritt, der das Äußerste vom ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus … Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun … Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium. ‚Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes‘ sagt der Schächer. ‚Wenn du dies fühlst’ – antwortet der Erlöser – ‚so bist du im Paradiese, so bist auch du ein Kind Gottes … ’ Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen … Sondern auch nicht dem Bösen widerstehn, – ihn lieben …“ (AC, Nr.35) Lässt sich deutlicher und klarer fassen, wie Nachfolge Jesu zu leben wäre? Ist das nicht jesuskonform?

Nietzsche wirft der Christenheit vor, dass sie nicht ihrem angeblichen Vorbild folgt: „Aber seine Jünger waren ferne davon, diesen Tod zu verzeihen, – was evangelisch im höchsten Sinne gewesen wäre; oder gar sich zu einem gleichen Tode in sanfter und lieblicher Ruhe des Herzens anzubieten … Gerade das am meisten unevangelische Gefühl, die Rache, kam wieder obenauf. Unmöglich konnte die Sache mit diesem Tode zu Ende sein: man brauchte ‚Vergeltung‘, ‚Gericht‘ (– und doch, was kann noch unevangelischer sein, als ‚Vergeltung‘, ‚Strafe‘, ‚Gericht-halten‘!). Noch einmal kam die populäre Erwartung eines Messias in den Vordergrund; ein historischer Augenblick wurde ins Auge gefasst: das ‚Reich Gottes‘ kommt zum Gericht über seine Feinde … Aber damit ist alles missverstanden: das ‚Reich Gottes‘ als Schlussakt, als Verheißung! Das Evangelium war doch gerade das Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit dieses ‚Reichs‘ gewesen. Gerade ein solcher Tod war eben dieses ‚Reich Gottes‘. Jetzt erst trug man die ganze Verachtung und Bitterkeit gegen Pharisäer und Theologen in den Typus des Meisters ein, – man machte damit aus ihm einen Pharisäer und Theologen! … Mit einem Male wurde aus dem Evangelium die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte von der Personal-Unsterblichkeit … Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn! …“ (AC, Nr. 41) Hier begegnet der Topos von Paulus als dem widerjesuanischen Erfinder des Christentums. Damit verdeutlicht Nietzsche seine Einschätzung des Christentums, das ihm (paulinisch und bereits frühkirchlich) nichts als plebejischer Nihilismus ist.

Unverkennbar ist der Einfluss Schopenhauers, dem alles Leben Leiden scheint und für den – dem Buddhismus immer näher rückend – im „moralischen Gott“ bereits eine Schwundstufe des christlichen Gottes begegnet. Nietzsche stilisiert sich zum Überwinder vor allem des moralischen Gottesgedankens und scheut sich nicht, Jesu Geschick im Sinn seiner Absichten zu interpretieren. Was beabsichtigt Nietzsche? Die Überwindung der überkommenen Moral, die Umwertung aller bisherigen Werte, genauer: der bisherigen Kriterien des Wertens. Denn Moral ist für ihn eine Erfindung mit der Funktion, den überall wirksamen Willen zur Macht – der bei Schwachen tatsächlich Wille zum Nichts ist – zu verschleiern. Moral ist selbst eine Form des Machtwillens, aber eines Willens, der nach Nietzsche zu N/nichts führt. Die Methode der Entlarvung ist die Genealogie (Entstehung, Genese), in diesem Fall die Rekonstruktion der Moral. Indem er aufdeckt, welche ganz anderen Werte hinter der Entstehung unseres Moralgebäudes stecken und welche Funktion die Erfindung der Moral hat, dekonstruiert er sie und verweist auf ihre Lebensfeindlichkeit. Moral diene Interessen, die es nicht wert sind, wahrgenommen zu werden. Um Nietzsches Sicht in aller Kürze zusammenzufassen: Die natürliche und ursprüngliche Wertung unter Menschen ist diejenige, mit der die Starken und Edlen Lebensinteressen beurteilen. Sie unterscheiden zwischen stark und schwach, edel und gemein und entsprechend steht der Ausdruck „gut“ im Gegensatz zu „schlecht“. In einer perfiden Umkehr hätten die Klügsten der Schlechten (d. h. Schwachen) aus ihrem Ressentiment und dem Hass auf die Guten und den mit vitalen Vorzügen Begüterten ein ganz neues und andersartiges Gegensatzpaar erfunden – und damit überhaupt erst Moral im heutigen Sinn. Dem Wort „gut“ steht nun nicht mehr der Ausdruck „schlecht“ gegenüber, sondern „gut“ steht im Gegensatz zu „böse“. Die Nichtswürdigkeit wird böse, indem sie die Kategorie „Böse“ ins Werten einschmuggelt und den Starken ein Gewissen einredet und in dieses dann hinein: „Ihr seid böse und nicht gut, wenn ihr (uns) Schwache übervorteilt.“

Es ist den zu kurz Gekommenen, Kranken und Schwachen, vertreten durch die jüdische Intelligenz, gelungen, dafür zu sorgen, dass „gut sein“ fortan heißt, sich für die Unterdrückten einzusetzen. Der Gott der Rache steht auf der Seite der Kleinen und aus „gut – schlecht“ wird „gut – böse“, gedeckt von einer über Gute und Böse richtenden Gottheit. Mit diesem Sklavenaufstand wird die Herrenmoral zugunsten der Sklavenmoral desavouiert und wird in der Folge ein Werten etabliert, das mit aller natürlichen Entwicklung und allem gesunden Sinn in Widerspruch gerät. Die Menschheit entartet. Am Horizont droht das große Lazarett; der letzte Mensch, verweichlicht, mitleidig, ein Erdwurm. Geradezu prophetisch klingen Zeilen aus der Vorrede des Zarathustra, die auf so unterschiedliche Phänomene wie die Globalisierung oder den Umgang mit Sterbewilligen bezogen werden können: „Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‚Wir haben das Glück erfunden’ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-Haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. [….] Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ‚Wir haben das Glück erfunden’ –sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Die letzten Menschen – gemeint sind wir (Demokraten, Verteidiger der sozialen Marktwirtschaft, zivilisierte Humanisten, friedliebende Aufklärer, moralisch Besorgte) – verweigern sich und verraten ihre Bestimmung, Übergang zu einer anderen Art Mensch zu sein. Die Moral war und ist ein Hemmschuh auf dem Weg zum Übermenschen, den er – das muss zur Ehrenrettung Nietzsches doch gesagt werden – sich nicht uniformiert und gestiefelt und keineswegs als „blonde Bestie“ vorgestellt hat. Der freie Mensch mit freiem Geist, wie Nietzsche sich den Menschen am Übergang denkt, ist ein großes Individuum. Zuerst Kamel, dann Löwe, schließlich Kind. „Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joche entronnen bist.  Bist du ein solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es gibt manchen, der seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf. Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?“

Nietzsche spricht sehr heroisch vom Freien: „Stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde“, schreibt er mehrfach. Schon in der ersten eigenständigen philosophischen Schrift ist das als sein Programm genannt: „Wozu die Menschen da sind, wozu ’der Mensch‘ da ist, soll uns gar nicht kümmern: aber wozu du da bist, das frage dich: und wenn du es nicht erfahren kannst, nun so stecke dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiß keinen besseren Lebenszweck als am Großen und Unmöglichen zu Grunde zu gehen …“ Kaum einer, auch nicht Sokrates, hat seinem eigenen Leben so sehr das Gepräge des Experiments gegeben; niemand hat sich so angestrengt, es über konventionelle Grenzen hinauszutreiben. Bekannt ist Nietzsches Bildwort von der Flamme, die er selber sein will:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr´ ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!

Am Ende bleibt die Frage: Will Nietzsche zu viel? Will Nietzsche seinen Übermenschen an die Stelle des für tot erklärten Gottes setzen? Was bedeutet denn die Rede vom Tod Gottes? Für Nietzsche ist der christliche Gott nichts als eine Chiffre, Fundament und Schlussstein eines lebensfeindlichen Moralgebäudes. Wegen seiner faktischen Irrelevanz in der Moderne erklärt er ihn für tot. Er verteufelt das Christentum mit dem Platonismus und der ganzen Tradition des kulturellen Westens um der Moral willen. Nietzsche beobachtet, wie der Gott der Christen sozial und gesellschaftlich seine Rolle ausgespielt hat. Dies vor allem konstatiert er als den Tod Gottes. Aber er sieht darin auch eine Chance: seinen Gott, den Menschen des Amor fati, der die Erde liebt, an dessen Stelle zu bringen. Noch seien, so meint er, die Menschen nicht reif. Es gebe sogar Anzeichen, dass sie nicht zulassen wollen, was aus ihnen selbst ans Licht kommen will: ein neuer Typus Mensch. Und so fürchtet er: Solange wir die Grammatik nicht loswerden, werden wir Gott nicht los. Gemeint ist: solange wir allem Geschehen einen Vernunftgrund (Logos) unterlegen. Nietzsche verabschiedet (mit Schopenhauer) die Einheit von Logos und Leben. Das Leben als ein Letztes annehmen und sich aus ihm verstehen, ja sich auf es verstehen und gänzlich einlassen, das ist wohl der Traum des Friedrich Nietzsche, dem zu viel Mitleid und zu viel Tugend, aber auch Krankheiten und Enttäuschungen, das Leben schwer, ja vergiftet haben.

Die intellektuelle Herausforderung Nietzsches hält sich in Grenzen. Max Scheler oder Robert Spaemann, Eugen Biser oder Eberhard Jüngel, Bernhard Welte oder Ernst Troeltsch haben längst mit genügend geistiger Kraft aus christlicher Sicht die Angriffe Nietzsches pariert. Eine andere Herausforderung, auf die nicht mehr Nietzsche selber antworten kann, sondern die wir heute einander schulden, ist es, so lieben zu lernen, dass alle Formen des Beschämens überwunden werden. Nietzsche selbst sagte, dass Sich-freuen-Lernen dazu führe, weniger Böses zu tun. Erlöster müssten Christen aussehen, dass man ihnen und ihrer Botschaft Glauben schenken könnte. Womöglich war Nietzsches Sehnsucht nach Liebe so immens, dass er für ein Leiden durchlässig war, das ihn tatsächlich überfordern musste. Erich Frieds Gedicht „Auch eine Art Feindesliebe“ bestätigend möchte ich die Schärfe seiner Kritik so deuten:

Mitleid haben auch mit denen
in denen das Leid
so schlecht wie keinen
Platz mehr gelassen hat
für ihr Mitleid.

Wie sollte Nietzsche anders überleben im Leiden an der bornierten Mitwelt als sich „stark“ zu machen nach der vermeintlichen Idee von Stärke? Aber nur genau die Moral, die Nietzsche immer heftiger bekämpft hatte, vermag ihn selber auch zu rechtfertigen: ihn, der doch im tiefsten Enttäuschtsein den Glanz der Liebe nahezu rein gespiegelt hat. Die Nähe zum Gekreuzigten hat er selbst gespürt.

Zum „Beweis“ seiner Affinität zum Geist der Liebe stelle ich ans Ende ein Zitat aus der vernichtenden Schrift „Der Antichrist“, die hier wie die Erfüllung der Bitte an den Heiligen Geist daherkommt: „Weck die tote Christenheit!“ „Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem ‚Glauben‘, etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie Der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich … Bewusstseins-Zustände, irgend ein Glauben, ein Für-wahr-halten zum Beispiel – jeder Psycholog weiß das – sind ja vollkommen gleichgültig und fünften Ranges gegen den Wert der Instinkte: strenger geredet, der ganze Begriff geistiger Ursächlichkeit ist falsch. Das Christ-sein, die Christlichkeit auf ein Für-wahr-halten, auf eine bloße Bewusstseins-Phänomenalität reduzieren heißt die Christlichkeit negieren. In der Tat gab es gar keine Christen. Der ‚Christ‘, Das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heißt, ist bloß ein psychologisches Selbst-Missverständnis. Genauer zugesehn, herrschten in ihm, trotz allem ‚Glauben‘, bloß die Instinkte – und was für Instinkte! – Der ‚Glaube‘ war zu allen Zeiten … nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten – … man sprach immer vom ‚Glauben‘, man tat immer nur vom Instinkte … In der Vorstellungswelt des Christen kommt nichts vor, was die Wirklichkeit auch nur anrührte: dagegen erkannten wir im Instinkt-Hass gegen jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christentums.“ (AC 39)

Erlöster müssten die Christen aussehen!

Solange Liebe nicht ein Tun-Wort geworden ist, in der Kirche und unter Christen, braucht es Worte wie diese. Und was den säkularen kulturellen Westen betrifft, darf man sich wohl an Carl-Friedrich von Weizsäckers Wort halten: „Die wissenschaftliche und technische Welt der Neuzeit ist das Ergebnis des Wagnisses des Menschen, das Erkenntnis ohne Liebe heißt.“ Auch Nietzsches Erkenntnisse mögen kalt und lieblos aussehen. Als Erkenntnis mag sein Erkennen auch an solcher Einseitigkeit teilhaben. Aber sein Interesse geht unverkennbar auf das unbeschädigte Leben im erlittenen Bewusstsein dessen, was fehlt. Der Geist ist noch nicht Fleisch geworden. Den Finger in diese Wunde gelegt zu haben ist Nietzsches Verdienst.


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„Es gibt dankbarere Aufgaben, als die Moralkritik des späten Nietzsche darzustellen“, schreibt Winfried Schröder in seiner erhellenden Reportage über den „moralischen Nihilismus“, eine sehr umsichtige Auseinandersetzung mit der radikalen Moralkritik seit Beginn der praktischen Philosophie bei den Sophisten und dem Wiederaufgreifen durch Platon. Die These der Sophisten war, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und damit auch Recht und Moral eine Frage der Macht: Was gilt oder zumindest gelten soll, setzen diejenigen durch, die über die entsprechenden Mittel verfügen, nicht nur Meinungsführer zu sein, sondern auch tatsächlich zu herrschen. Die herrschende Moral steht im Interesse der Herrschaft der Mächtigen. Platon und „sein“ Sokrates wurden nicht müde, dem die Idee entgegenzustellen, dass es bei weitem besser wäre (aufs Ganze für alle Beteiligten), wenn das Recht die Macht bekäme. Daher verlangt Platon in seiner Schrift über den gerechten Staat (Politeia), dass die Philosophen Könige sein sollten oder die Machthaber wenigstens philosophieren.

Die Basis der ganzen Argumentation – und auch die Argumentation selbst – lässt sich nicht auf wenigen Seiten darstellen. Vielleicht wäre diese Aufgabe eine dankbarere. Allerdings wusste Platon, dass man nicht ohne weiteres wird sagen können, was „das Gute“ sei. Es muss genügen, was Rousseau einmal so formuliert hat:  „Ich würde mir nicht anmaßen, Leute zu belehren, wenn andere sie nicht irreführten.“

Wer aber, um nun wieder zu Nietzsche zu kommen, sind die Irrenden und wer die Verführer? Nietzsche oder aber Platon samt Sokrates und Christus? Die Verbindung von Platonismus und Christentum wird uns noch beschäftigen. Dass Nietzsche das Christentum „Platonismus fürs Volk“ nannte, dürfte manchem bekannt sein. Gewiss auch seine Schmähungen der Christenheit. Bei all dem aber erstaunt, dass Nietzsche zur Bibel und vor allem zur Person Jesu sich zeit seines Lebens längst nicht so ablehnend verhielt wie vor allem in späteren Jahren zur christlichen Kultur und zur Kirche. Dies offenbar deshalb, weil es Nietzsche weniger um das Christentum im Allgemeinen, sondern um dessen Ethik bzw. Morallehre im Besonderen geht. Außer Frage steht zwar, dass er dem Christentum im Ganzen nicht gerecht zu werden vermag. Dass aber Christen von Nietzsche nicht weniges lernen können, darüber besteht ebenfalls kein Zweifel. Namentlich die Christenheit Europas braucht sowohl zur Selbstkritik wie zur Selbstvergewisserung die Religions-, Christentums- und Kirchenkritik jenes Mannes, dem nicht zuletzt seine gediegene religiöse Erziehung – er entstammt einem betont protestantischen Milieu (der früh verstorbene Vater und beide Großväter waren Pfarrer) – intimste Kenntnisse des Geistes Jesu vermittelt hatte. Nietzsche sieht das „Ende des Christentums“ durch innere, schon in der Antike grundgelegte Widersprüchlichkeiten kommen, über das nur eine polierte bürgerliche Fassadenchristlichkeit oder ländliches Trachtenvereinschristentum – teilweise bis heute – noch hinwegtäuschen kann. Die Einbeziehung von Nietzsches Kritik ist inzwischen Pflichtbestandteil aller Versuche, das Christentum in der Moderne zu lokalisieren.

Ebenso ist Nietzsches Moralkritik wohl die größte Herausforderung für eine Besinnung in Sachen Moral auf der Höhe der Zeit. Dass der Zeitgeist der Sinnesart der Sophisten sehr nahe ist, macht, da das Christentum seine prägende Kraft verloren hat, Nietzsches Platonkritik besonders aktuell. Der von Nietzsche mit seismografischer Genauigkeit diagnostizierte Nihilismus breitet sich aus und gegenüber sich verselbständigenden Rationalitätsformen, etwa im Szientismus der naturalistisch geprägten Wissenschaft, in Wirtschaft und Technik, muss das Band des umgreifenden Subsystems Moral wohl zerreißen. Nietzsches Diagnose wird durch den Lauf der Dinge zunehmend bestätigt. Zugleich schrecken viele Menschen „instinktiv“ und aufgrund eines „moralischen Gefühls“ vor den Konsequenzen einer sich ausbreitenden nihilistischen Denkweise zurück. Moral ist zumindest als Forderung und in Absichtserklärungen gefragt, die Ethik boomt. Umso wichtiger ist aber dann deren stichhaltige Grundlegung und Begründung. Hier könnte Nietzsches unbestechlicher, entlarvender und mutiger Blick ebenso gute Dienste leisten wie bei der christlichen Gewissenserforschung.

Dazu muss man aber das eigentliche Anliegen Nietzsches bei all seiner Kritik am Christentum und der Moral, die im kulturellen Westen von der biblischen Tradition bestimmt war, herausarbeiten. Denn vorderhand begegnet uns ein Kämpfer mit „Schaum vor dem Mund“. Mit heftigen Attacken und verletzend schroffen Worten wirft Nietzsche den Christen vor, den Lebenswillen zu schwächen. Er behauptet, Kategorien wie Gott, Jenseits oder Seelenheil seien nur dazu erfunden worden, das Leben in Frage zu stellen, das Diesseits zu entwerten, den Leib zu verachten und die Menschen zu knechten, zu erniedrigen, ja zu terrorisieren. „Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit und des Geistes: zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung.“

Wider den Wert des Mitleidens

Mit dem Christentum siegten die Schlechtweggekommenen, Schwachen und Ohnmächtigen. Es ist die Religion des Ressentiments. Christlich schmeckt das Wort „gerecht“ allzu sehr nach „gerächt“. Dem Eros habe man Gift zu trinken gegeben, an dem er zwar nicht gestorben, aber weswegen er nun zum Laster entartet sei. Die Vorstellung eines gekreuzigten Gottes sei nicht nur ein Ärgernis, sondern „ein Fluch auf das Leben“. Letztlich ist die innere Verfassung des Christentums selbst Nihilismus, denn die angeblichen Werte sind wertlos im Blick auf das Leben.

Als Tugend firmiert entweder verbrämtes Unvermögen (für Impotente ist die Keuschheit entlastend) oder es handelt sich von vornherein um eine Lüge. Denn wer zum Beispiel vorgibt, für Gerechtigkeit zu kämpfen, sucht in Wahrheit Vorteile im Verteilungskampf. Der asketische Priester macht sich nicht frei für Gott, sondern vergiftet den Lebensquell mit seinem Willen zum Nichts. Das höchste Ideal im Christentum, Opfer zu bringen, entlarvt Nietzsche als widernatürlich: „Lieber noch will der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen.“ Das Christentum gilt ihm als der Todkrieg gegen den höheren Typus Mensch. Am verächtlichsten aber spricht er von dem, was er für das Herzstück der christlichen Moral hält: das Mitleid(en).

In einem der aufregendsten Texte heißt es: „Oh meine Freunde! So spricht der Erkennende: Scham, Scham, Scham – das ist die Geschichte des Menschen! Und darum gebeut sich der Edle, nicht zu beschämen: Scham gebeut er sich vor allem Leidenden. Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham … Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich, man ärgert sich, ihnen zu geben und ärgert sich, ihnen nicht zu geben. Und insgleichen die Sünder und bösen Gewissen! Glaubt mir, meine Freunde: Gewissensbisse erziehn zum Beißen … Also redet alle große Liebe: die überwindet auch noch Vergebung und Mitleiden. Man soll sein Herz festhalten; denn lässt man es gehn, wie bald geht einem da der Kopf durch! Ach, wo in der Welt geschahen größere Torheiten, als bei den Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid als die Torheiten der Mitleidigen? Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist!“ (Zarathustra, Teil 2, Von den Mitleidigen).

Schon in „Die fröhliche Wissenschaft“ heißt es am Ende des dritten Buches: „Wo liegen deine größten Gefahren? – Im Mitleiden … Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen. Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“

Ist das nun der Gipfel der Schamlosigkeit oder der Anfang wahrer Erkenntnis und Weisheit? Für Nietzsche ist die Antwort klar. Sein Ethos des freien Geistes verlangt Menschen, die sich als Brücke zum Übermenschen verstehen, zum Kommenden. Das scheint mit der christlichen Demut unverträglich, obschon Jesus selbst eine große innere Freiheit attestiert wird. In der Streitschrift „Der Antichrist“ schreibt Nietzsche: „Dieser ‚frohe Botschafter‘ starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um ‚die Menschen zu erlösen‘, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht, er tut keinen Schritt, der das Äußerste vom ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus … Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun … Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium. ‚Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes‘ sagt der Schächer. ‚Wenn du dies fühlst’ – antwortet der Erlöser – ‚so bist du im Paradiese, so bist auch du ein Kind Gottes … ’ Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen … Sondern auch nicht dem Bösen widerstehn, – ihn lieben …“ (AC, Nr.35) Lässt sich deutlicher und klarer fassen, wie Nachfolge Jesu zu leben wäre? Ist das nicht jesuskonform?

Nietzsche wirft der Christenheit vor, dass sie nicht ihrem angeblichen Vorbild folgt: „Aber seine Jünger waren ferne davon, diesen Tod zu verzeihen, – was evangelisch im höchsten Sinne gewesen wäre; oder gar sich zu einem gleichen Tode in sanfter und lieblicher Ruhe des Herzens anzubieten … Gerade das am meisten unevangelische Gefühl, die Rache, kam wieder obenauf. Unmöglich konnte die Sache mit diesem Tode zu Ende sein: man brauchte ‚Vergeltung‘, ‚Gericht‘ (– und doch, was kann noch unevangelischer sein, als ‚Vergeltung‘, ‚Strafe‘, ‚Gericht-halten‘!). Noch einmal kam die populäre Erwartung eines Messias in den Vordergrund; ein historischer Augenblick wurde ins Auge gefasst: das ‚Reich Gottes‘ kommt zum Gericht über seine Feinde … Aber damit ist alles missverstanden: das ‚Reich Gottes‘ als Schlussakt, als Verheißung! Das Evangelium war doch gerade das Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit dieses ‚Reichs‘ gewesen. Gerade ein solcher Tod war eben dieses ‚Reich Gottes‘. Jetzt erst trug man die ganze Verachtung und Bitterkeit gegen Pharisäer und Theologen in den Typus des Meisters ein, – man machte damit aus ihm einen Pharisäer und Theologen! … Mit einem Male wurde aus dem Evangelium die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte von der Personal-Unsterblichkeit … Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn! …“ (AC, Nr. 41) Hier begegnet der Topos von Paulus als dem widerjesuanischen Erfinder des Christentums. Damit verdeutlicht Nietzsche seine Einschätzung des Christentums, das ihm (paulinisch und bereits frühkirchlich) nichts als plebejischer Nihilismus ist.

Unverkennbar ist der Einfluss Schopenhauers, dem alles Leben Leiden scheint und für den – dem Buddhismus immer näher rückend – im „moralischen Gott“ bereits eine Schwundstufe des christlichen Gottes begegnet. Nietzsche stilisiert sich zum Überwinder vor allem des moralischen Gottesgedankens und scheut sich nicht, Jesu Geschick im Sinn seiner Absichten zu interpretieren. Was beabsichtigt Nietzsche? Die Überwindung der überkommenen Moral, die Umwertung aller bisherigen Werte, genauer: der bisherigen Kriterien des Wertens. Denn Moral ist für ihn eine Erfindung mit der Funktion, den überall wirksamen Willen zur Macht – der bei Schwachen tatsächlich Wille zum Nichts ist – zu verschleiern. Moral ist selbst eine Form des Machtwillens, aber eines Willens, der nach Nietzsche zu N/nichts führt. Die Methode der Entlarvung ist die Genealogie (Entstehung, Genese), in diesem Fall die Rekonstruktion der Moral. Indem er aufdeckt, welche ganz anderen Werte hinter der Entstehung unseres Moralgebäudes stecken und welche Funktion die Erfindung der Moral hat, dekonstruiert er sie und verweist auf ihre Lebensfeindlichkeit. Moral diene Interessen, die es nicht wert sind, wahrgenommen zu werden. Um Nietzsches Sicht in aller Kürze zusammenzufassen: Die natürliche und ursprüngliche Wertung unter Menschen ist diejenige, mit der die Starken und Edlen Lebensinteressen beurteilen. Sie unterscheiden zwischen stark und schwach, edel und gemein und entsprechend steht der Ausdruck „gut“ im Gegensatz zu „schlecht“. In einer perfiden Umkehr hätten die Klügsten der Schlechten (d. h. Schwachen) aus ihrem Ressentiment und dem Hass auf die Guten und den mit vitalen Vorzügen Begüterten ein ganz neues und andersartiges Gegensatzpaar erfunden – und damit überhaupt erst Moral im heutigen Sinn. Dem Wort „gut“ steht nun nicht mehr der Ausdruck „schlecht“ gegenüber, sondern „gut“ steht im Gegensatz zu „böse“. Die Nichtswürdigkeit wird böse, indem sie die Kategorie „Böse“ ins Werten einschmuggelt und den Starken ein Gewissen einredet und in dieses dann hinein: „Ihr seid böse und nicht gut, wenn ihr (uns) Schwache übervorteilt.“

Es ist den zu kurz Gekommenen, Kranken und Schwachen, vertreten durch die jüdische Intelligenz, gelungen, dafür zu sorgen, dass „gut sein“ fortan heißt, sich für die Unterdrückten einzusetzen. Der Gott der Rache steht auf der Seite der Kleinen und aus „gut – schlecht“ wird „gut – böse“, gedeckt von einer über Gute und Böse richtenden Gottheit. Mit diesem Sklavenaufstand wird die Herrenmoral zugunsten der Sklavenmoral desavouiert und wird in der Folge ein Werten etabliert, das mit aller natürlichen Entwicklung und allem gesunden Sinn in Widerspruch gerät. Die Menschheit entartet. Am Horizont droht das große Lazarett; der letzte Mensch, verweichlicht, mitleidig, ein Erdwurm. Geradezu prophetisch klingen Zeilen aus der Vorrede des Zarathustra, die auf so unterschiedliche Phänomene wie die Globalisierung oder den Umgang mit Sterbewilligen bezogen werden können: „Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‚Wir haben das Glück erfunden’ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-Haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. [….] Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ‚Wir haben das Glück erfunden’ –sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Die letzten Menschen – gemeint sind wir (Demokraten, Verteidiger der sozialen Marktwirtschaft, zivilisierte Humanisten, friedliebende Aufklärer, moralisch Besorgte) – verweigern sich und verraten ihre Bestimmung, Übergang zu einer anderen Art Mensch zu sein. Die Moral war und ist ein Hemmschuh auf dem Weg zum Übermenschen, den er – das muss zur Ehrenrettung Nietzsches doch gesagt werden – sich nicht uniformiert und gestiefelt und keineswegs als „blonde Bestie“ vorgestellt hat. Der freie Mensch mit freiem Geist, wie Nietzsche sich den Menschen am Übergang denkt, ist ein großes Individuum. Zuerst Kamel, dann Löwe, schließlich Kind. „Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joche entronnen bist.  Bist du ein solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es gibt manchen, der seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf. Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?“

Nietzsche spricht sehr heroisch vom Freien: „Stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde“, schreibt er mehrfach. Schon in der ersten eigenständigen philosophischen Schrift ist das als sein Programm genannt: „Wozu die Menschen da sind, wozu ’der Mensch‘ da ist, soll uns gar nicht kümmern: aber wozu du da bist, das frage dich: und wenn du es nicht erfahren kannst, nun so stecke dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiß keinen besseren Lebenszweck als am Großen und Unmöglichen zu Grunde zu gehen …“ Kaum einer, auch nicht Sokrates, hat seinem eigenen Leben so sehr das Gepräge des Experiments gegeben; niemand hat sich so angestrengt, es über konventionelle Grenzen hinauszutreiben. Bekannt ist Nietzsches Bildwort von der Flamme, die er selber sein will:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr´ ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!

Am Ende bleibt die Frage: Will Nietzsche zu viel? Will Nietzsche seinen Übermenschen an die Stelle des für tot erklärten Gottes setzen? Was bedeutet denn die Rede vom Tod Gottes? Für Nietzsche ist der christliche Gott nichts als eine Chiffre, Fundament und Schlussstein eines lebensfeindlichen Moralgebäudes. Wegen seiner faktischen Irrelevanz in der Moderne erklärt er ihn für tot. Er verteufelt das Christentum mit dem Platonismus und der ganzen Tradition des kulturellen Westens um der Moral willen. Nietzsche beobachtet, wie der Gott der Christen sozial und gesellschaftlich seine Rolle ausgespielt hat. Dies vor allem konstatiert er als den Tod Gottes. Aber er sieht darin auch eine Chance: seinen Gott, den Menschen des Amor fati, der die Erde liebt, an dessen Stelle zu bringen. Noch seien, so meint er, die Menschen nicht reif. Es gebe sogar Anzeichen, dass sie nicht zulassen wollen, was aus ihnen selbst ans Licht kommen will: ein neuer Typus Mensch. Und so fürchtet er: Solange wir die Grammatik nicht loswerden, werden wir Gott nicht los. Gemeint ist: solange wir allem Geschehen einen Vernunftgrund (Logos) unterlegen. Nietzsche verabschiedet (mit Schopenhauer) die Einheit von Logos und Leben. Das Leben als ein Letztes annehmen und sich aus ihm verstehen, ja sich auf es verstehen und gänzlich einlassen, das ist wohl der Traum des Friedrich Nietzsche, dem zu viel Mitleid und zu viel Tugend, aber auch Krankheiten und Enttäuschungen, das Leben schwer, ja vergiftet haben.

Die intellektuelle Herausforderung Nietzsches hält sich in Grenzen. Max Scheler oder Robert Spaemann, Eugen Biser oder Eberhard Jüngel, Bernhard Welte oder Ernst Troeltsch haben längst mit genügend geistiger Kraft aus christlicher Sicht die Angriffe Nietzsches pariert. Eine andere Herausforderung, auf die nicht mehr Nietzsche selber antworten kann, sondern die wir heute einander schulden, ist es, so lieben zu lernen, dass alle Formen des Beschämens überwunden werden. Nietzsche selbst sagte, dass Sich-freuen-Lernen dazu führe, weniger Böses zu tun. Erlöster müssten Christen aussehen, dass man ihnen und ihrer Botschaft Glauben schenken könnte. Womöglich war Nietzsches Sehnsucht nach Liebe so immens, dass er für ein Leiden durchlässig war, das ihn tatsächlich überfordern musste. Erich Frieds Gedicht „Auch eine Art Feindesliebe“ bestätigend möchte ich die Schärfe seiner Kritik so deuten:

Mitleid haben auch mit denen
in denen das Leid
so schlecht wie keinen
Platz mehr gelassen hat
für ihr Mitleid.

Wie sollte Nietzsche anders überleben im Leiden an der bornierten Mitwelt als sich „stark“ zu machen nach der vermeintlichen Idee von Stärke? Aber nur genau die Moral, die Nietzsche immer heftiger bekämpft hatte, vermag ihn selber auch zu rechtfertigen: ihn, der doch im tiefsten Enttäuschtsein den Glanz der Liebe nahezu rein gespiegelt hat. Die Nähe zum Gekreuzigten hat er selbst gespürt.

Zum „Beweis“ seiner Affinität zum Geist der Liebe stelle ich ans Ende ein Zitat aus der vernichtenden Schrift „Der Antichrist“, die hier wie die Erfüllung der Bitte an den Heiligen Geist daherkommt: „Weck die tote Christenheit!“ „Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem ‚Glauben‘, etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie Der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich … Bewusstseins-Zustände, irgend ein Glauben, ein Für-wahr-halten zum Beispiel – jeder Psycholog weiß das – sind ja vollkommen gleichgültig und fünften Ranges gegen den Wert der Instinkte: strenger geredet, der ganze Begriff geistiger Ursächlichkeit ist falsch. Das Christ-sein, die Christlichkeit auf ein Für-wahr-halten, auf eine bloße Bewusstseins-Phänomenalität reduzieren heißt die Christlichkeit negieren. In der Tat gab es gar keine Christen. Der ‚Christ‘, Das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heißt, ist bloß ein psychologisches Selbst-Missverständnis. Genauer zugesehn, herrschten in ihm, trotz allem ‚Glauben‘, bloß die Instinkte – und was für Instinkte! – Der ‚Glaube‘ war zu allen Zeiten … nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten – … man sprach immer vom ‚Glauben‘, man tat immer nur vom Instinkte … In der Vorstellungswelt des Christen kommt nichts vor, was die Wirklichkeit auch nur anrührte: dagegen erkannten wir im Instinkt-Hass gegen jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christentums.“ (AC 39)

Erlöster müssten die Christen aussehen!

Solange Liebe nicht ein Tun-Wort geworden ist, in der Kirche und unter Christen, braucht es Worte wie diese. Und was den säkularen kulturellen Westen betrifft, darf man sich wohl an Carl-Friedrich von Weizsäckers Wort halten: „Die wissenschaftliche und technische Welt der Neuzeit ist das Ergebnis des Wagnisses des Menschen, das Erkenntnis ohne Liebe heißt.“ Auch Nietzsches Erkenntnisse mögen kalt und lieblos aussehen. Als Erkenntnis mag sein Erkennen auch an solcher Einseitigkeit teilhaben. Aber sein Interesse geht unverkennbar auf das unbeschädigte Leben im erlittenen Bewusstsein dessen, was fehlt. Der Geist ist noch nicht Fleisch geworden. Den Finger in diese Wunde gelegt zu haben ist Nietzsches Verdienst.


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Thomas Gutknecht

geb. 1973, Philosoph und Theologe, Gründer und Vorstand des Philosophischen Vereins Logosclub.

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