Optimieren ist gut, Vertrauen ist besser

Julian Nida-Rümelin ruft gute Gründe in Erinnerung, die – jenseits des grassierenden Optimierungswahns – handlungsanleitend für eine Gesellschaft in Zeiten der Dauerkrise sein könnten. Das richtige Buch zur richtigen Zeit, meint Gesine Schwan.


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cover die optimierungsfalle

Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie und Staatsminister a.D. sucht nach Wegen aus der Optimierungsfalle; Copyright (Südwest Verlag/Christian M. Weiss)

Kann man mit der Philosophie gegen den ökonomischen Zeitgeist angehen? Julian Nida-Rümelin hat das mit seinem neuen Buch „Die Optimierungsfalle“ jedenfalls vor. Allerdings geht es ihm nicht einfach um eine Gegenposition gegen irgendetwas, also z. B. die wirtschaftliche Rationalität, sondern darum, bei seinen Lesern das breite Spektrum von Gründen in Erinnerung zu rufen, auf das wir bei der Orientierung unseres Handelns im allgemeinen zurückgreifen können und sollten. Im Vergleich dazu bedeutet eine eng verstandene und zugleich imperial um sich greifende ökonomische Rationalität nicht nur eine Verarmung. Sie gefährdet vielmehr unser freiheitliches demokratisches Zusammenleben und unterminiert nicht nur eine gelingende Lebensführung, sondern gerade auch eine gelingende Wirtschaft – die ja zu einem umfassend verstanden „guten Leben“ durchaus gehört.

Nida-Rümelin schreibt daher auch gar nicht aus einem anti-ökonomischen Affekt, um das Schöne, Gute und Wahre als das Eigentliche dagegen zu setzen. Er ist ein praktischer Philosoph, dem gute, gerade auch gute politische und ökonomische Praxis angelegen ist. Aber die gegenwärtige Gedankenlosigkeit, mit der alle Orientierung auf das Ziel und das Maß einer Optimierung der kurzfristigen individuellen Bedürfnisbefriedigung zusammen-schnurrt, will er aufdecken – theoretisch-wissenschaftlich und mit philosophischer Argumentation, was nicht genau dasselbe ist. Das eine verbleibt in der methodischen genauen Analyse systematischer Theorieansätze, ihrer Voraus-setzungen und Implikationen. Das andere misst die Geltung solcher Ansätze an der Lebenswelt und an guten Gründen, die man nicht negieren kann, wenn man dieser Lebenswelt verbunden bleiben will. Auf die geradezu schizophrene Trennung zwischen reduzierter ökonomischer Rationalität etwa im Berufsalltag eines Bankers und einer damit kontrastierenden gleichzeitigen mäzenatischen Haltung gegenüber den schönen Künsten als mögliche Lebensform reagiert Nida-Rümelin mit dem erfrischenden Satz: „Ich glaube davon kein Wort.“ (S. 198)

Der, wie es sich für einen Philosophen gehört, sehr systematische Autor gliedert sein Buch in drei Teile. Im ersten prüft er unter der Überschrift „Ökonomische Rationalität“ die Grenzen einer rein ökonomischen und auf das Individuum bezogenen Optimierung wirtschaftlichen Handelns im Besonderen, des Alltagshandelns im Allgemeinen, die, zu Ende gedacht, zum Zerfall von Wirtschaft und Gesellschaft führen würde. Denn damit würden die ausgeblendeten Voraussetzungen erfolgreichen Wirtschaftens – im Kern die Vertrauen und Verlässlichkeit stiftende, weil Versprechen und Regeln um ihrer selbst willen und nicht nur um des gerade eingeschätzten Optimierungsvorteils willen einhaltende Kommunikation und Kooperation –zerstört. Ein Verhalten, das alles, also auch Versprechen etc. im Dienste des eigenen Optimums instrumentalisiert, zerstört die Wirtschaft. So ist die Gefahr längst akut geworden, dass z. B. die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft oder Medizin erheblich gelitten hat, seitdem beider Systeme Erfolg an der ökonomischen Optimierung für den Wissenschaftler, das Institut oder die Fakultät gemessen wird.

Karrierismus und Anpassung gefährden die Urteilskraft

Der zweite, wie ich finde besonders faszinierende Teil des Buches widmet sich der Ethik praktischen Handelns. Hier wird der Urteilskraft – einer für viele altertümlich klingenden, und doch so aktuellen und dringend erforderlichen Kategorie rationaler Kommunikation in Freiheit – besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Nida-Rümelin führt in diesem Abschnitt den Schaden, der durch eine einspurige Rationalität der Optimierung angerichtet wird, noch einmal drastisch vor Augen.

Von besonderem Interesse finde ich hier seine Ausführungen zur Notwendigkeit, Gründe für das eigene Verhalten anzuführen und die unterschiedlichen Aspekte eines Problems zusammen zu sehen. Beides sind fundamentale Bedingungen einer „deliberativen“ Demokratie (Habermas), die in der gegenwärtigen immer unübersichtlicher werdenden Welt die beste Chance bietet, die Tragfähigkeit von Positionen durch den Austausch von Gründen und den Willen, „die unterschiedlichen Aspekte in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen“ (S. 140), zu prüfen. Dazu gehört, „dass man eine kritische Distanz wahrt gegenüber Ideologien und interessegeleiteten Behauptungen“. Man möchte meinen, dass Nida-Rümelin hier eine Selbstverständlichkeit betont. Aber angesichts dessen, dass eine solche Distanz keineswegs mehr zum gegenwärtigen Comment intellektueller oder wissenschaftlicher Bildung gehört, erscheint es mir sehr wichtig, dass der Autor darauf so eindringlich hinweist. Nida-Rümelin wundert sich, warum in den Unternehmen in den letzten 20 Jahren so wenig Urteilskraft erkennbar war. Sein Fazit: „Karrierismus, Belohnung von Anpassung, fehlende Vertrauenskultur, Verhaltenssteuerung über monetäre Anreize können die verlässliche Urteilsbildung im Unternehmen gefährden.“ (S. 142)

Zwei Gesichtspunkte, die der Autor herausarbeitet, sollten aus diesem zweiten Teil  hervorgehoben werden: Zum einen macht er auf das Spannungsverhältnis zwischen dem politischen und dem ökonomischen Liberalismus aufmerksam, der häufig unbemerkt bleibt: Nida-Rümelin konstatiert einen Konflikt zwischen zwei Strängen des Liberalismus: „der auf ökonomische Rationalität ausgerichtete Strang auf der einen und der auf Menschen- und Bürgerrechte ausgerichtete auf der anderen Seite … lassen sich nicht ohne weiteres versöhnen … Zwischen Nutzenoptimierung und Liberalität (im Sinne der Menschenrechte ohne Beachtung der individuellen Leistung G.S.) gibt es einen fundamentalen Konflikt.“ (S. 174) Es ist sehr wichtig, dieses Spannungsverhältnis, das nicht aufhört, das also immer erneut austariert werden muss, im Blick zu behalten. Marx wollte es durch die Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer weltweit koordinierten Wirtschaft in einer staats- und klassenlosen Gesellschaft lösen. Er ist damit aus klaren theoretischen Gründen gescheitert, weil er die Vielfalt von Konfliktursachen unterschätzt hat. Aber das Problem hat sich gerade im Zuge des neuen Globalisierungsschubs verschärft: Der Nationalstaat kann dieses Austarieren nicht mehr leisten. Demokratische Politik muss das mit neuen, zusätzlichen Akteuren, insbesondere der organisierten Zivilgesellschaft grenzüberschreitend tun. Das bleibt ihre „dauernde Aufgabe“ – wie es im Godesberger Programm für den „demokratischen Sozialismus“ heißt.

Zum anderen wird uns allein durch ein geschickt arrangiertes Institutionenset ein gutes Leben nicht gelingen. Wir können auf den subjektiven Faktor der  intrinsischen Motivation für Vertrauenswürdigkeit und „Achtsamkeit“, auf ein modernisiertes Tugendverständnis nicht verzichten. Dabei darf allerdings das Argumentieren mit Gründen, das „Deliberieren“, nicht zugunsten eines Verständnisses zu kurz kommen, das in der Tradition eines zu engen Aristotelismus Tugenden allein durch Gewöhnung sichern zu können meint.

Im dritten Teil will der Autor die Aspekte einer erweiterten ökonomischen Rationalität und der ethischen Einstellungen zu einer umfassenden praktischen Vernunft verknüpfen. Menschen können dabei nicht einfach ihren jeweiligen Präferenzen folgen, sondern müssen, von ihnen ausgehend, unterschiedliche Gründe abwägen, die für oder gegen eine Alternative sprechen oder sie modifizieren können, und danach entscheiden. Das wird etwa konkret bei Nida-Rümelins Kritik an der Idee, es wäre ökonomisch sinnvoll, mangelnde Güter endlos zu produzieren oder ihren Konsum  endlos anzustreben. Stattdessen gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass der Grenznutzen von Gütern mit deren Ansteigen sich verringert und dass deren Erwerb überhaupt unter verschiedensten Gesichtspunkten und Gründen, nicht nur einer je aktuellen Präferenz erwogen werden muss. Das sind dann eben nicht nur ökonomische Gründe, sondern z. B. auch der Einbezug der gleichen Freiheit als Maßstab politischer Entscheidungen in einer Demokratie und die Einsicht in den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Effizienz. Hier liegt Nida-Rümelin an der Unterscheidung zwischen beiden wie an ihrer Zusammengehörigkeit. „Effizient“, so definiert er, „ist eine Verteilung, wenn es dazu keine Alternative gibt, die eine Person besser stellt, ohne eine andere schlechter zu stellen.“ (265)

Die Kraft, nach solcher Effizienz zu streben, wird durch Konkurrenz auf den Märkten freigesetzt. Damit verbindet sich häufig die Behauptung, sie stehe im Gegensatz zur Gerechtigkeit, und deshalb müsse man auf diese verzichten. Hier liegt, so der Autor, ein Denkfehler vor. Denn Effizienz sei „verteilungsblind“, der gängige, eher enge ökonomische Effizienzbegriff richte sich nämlich nach dem Kriterium, mehr zu leisten, ohne andere schlechter zu stellen. Damit ist die Frage nicht beantwortet, ob die Verteilung von vornherein gerecht war. Auch nicht, welche Verteilung Effizienz möglicherweise steigern könnte. Nicht jede Effizienz ist gerecht. Aber eine gerechte Verteilung sollte das Effizienzkriterium erfüllen. Nida-Rümelin verweist auf Untersuchungen, denen zufolge Länder mit großen Einkommensdifferenzen keineswegs besonders produktiv sind (USA), umgekehrt solche  mit kleinen Einkommens-differenzen (Finnland, Japan) durchaus.

Auf die Zivilgesellschaft kommt es an

In diesem Zusammenhang kritisiert der Autor auch wissenschaftliche Ansätze, die meinen, sich für die Beurteilung von Handlungen einfach nach begrenzten theoretischen Axiomen richten zu können – also z. B. einer betriebswirtschaftlich-partikularistisch verengten Sicht von ökonomischer  Effizienz oder Optimierung – ohne sich mit den Konsequenzen für die Lebenswelt bzw., vereinfacht, mit den Erwartungen zu konfrontieren, die die Menschen als Kitt unseres Zusammenlebens auf uns richten. Das ist wichtig, weil eine gleichsam „fachidiotische“ wissenschaftliche Lehre sich auf die Handlungsorientierung der Studierenden auswirkt. Der Autor verweist auf „besorgniserregende Befunde“ von Sebastian Kube, „dass Studierende der ökonomischen Fächer eine signifikant niedrigere Kooperationsbereitschaft haben als Studierende anderer Fächer“ (S. 237).

Das Postulat der gleichen Freiheit und der Gerechtigkeit, die Effizienz einschließt, sich aber keinem bornierten Verständnis unterordnen darf, verlangt einen politischen Rahmen und Akteur, der den gerechtigkeitsblinden Markt reguliert. In ihm wird in Zukunft auch die organisierte Zivilgesellschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Julian Nida-Rümelin präsentiert mit seiner „Philosophie einer humanen Ökonomie“ eine präzise und gedankenreiche Analyse gegenwärtiger Fehlorientierungen im öffentlichen und privaten Leben, die fundamentale Kurzsichtigkeiten der letzten ca. 30 Jahre durch ein borniertes Modell ökonomischer Optimierung offenlegt. Er breitet das weite Spektrum historischer Erfahrungen und Gründe aus, die für unser freiheitliches Zusammenleben von existenziellem Belang sind,  aber verschüttet waren. Es ist wichtig, sie für verantwortungsbereites  Handeln wieder freizulegen und unsere Gesellschaft zu mehr Nachdenklichkeit über die Grundlagen anzuregen, ohne die auch die Wirtschaft schweren Schaden nehmen wird. Denn das unverzichtbare Vertrauensband, das unter modernen unübersichtlichen Bedingungen einer hoch differenzierten Arbeitsteilung, in der wir auf die Verlässlichkeit der anderen angewiesen sind, immer dringender gebraucht wird, droht ganz zu zerreißen, mit möglicherweise anomischen Folgen.

Julian Nida-Rümelin hat ein wichtiges Buch geschrieben, dessen Lektüre nur zu empfehlen ist.

 

Zu Buch und Autor

Julian Nida-Rümelin: „Die Optimierungsfalle – Philosophie einer humanen Ökonomie“ (Irisiana Verlag, 2011, 312 Seiten).

Professor Nida-Rümelin gehört neben Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk zu den profiliertesten öffentlichen Denkern in Deutschland. Schriften des 1954 geborenen Philosophen werden regelmäßig Bestseller. Politisch ist er in der Sozialdemokratie engagiert und war in der Regierung Schröder Kulturstaatsminister. Derzeit lehrt er an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.


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Gesine Schwan

geb. 1943, Professorin für Politikwissenschaften, Vorsitzende SPD-Grundwertekommission.

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