Seelenverwaltung

In Teil 3 der Serie untersucht Wolfgang Bachmann die Funktionsweise des Verstandes und die Empfänglichkeit der Menschen für kollektive Entrückungserfahrungen und Pseudowissenschaft, bis hin zu esoterischen Bewegungen und Sekten.


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serie: physik, gehirn & glaube
von Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Bachmann

Teil 1: Religion und Wissenschaft:  Wie hängt dies zusammen, das Ich, das Gehirn, das Gemüt, der Verstand? Was unterscheidet uns vom Tier?
Teil 2:Einbruch der Wissenschaft in die ReligionBiologie ist die Wissenschaft vom Leben. Und „Leben“ ist ein wesentliches Anliegen der Religionen, wie auch der Naturwissenschaften.
Teil 3: Seelenverwaltung.
 Es gibt keine Religion, die sich nicht ausgiebig zum Thema „Seele“ festlegt. Auch die Psychiatrie hat dazu klare Vorstellungen. Die „Seele“, eine Vorstellung, die beim Verlöschen des Lebens in Existenznot gerät.
Teil 4: Technikfeindlichkeit und Glaubenssucht Wir brauchen Technik, können aber nur schwer deren ungewollte Nebenwirkungen akzeptieren. Was sind „Strahlen“? Für den glaubensbereiten Laien sind es magische, sehr schädliche Fernwirkungen.
Teil 5: Der Medizinmann kommt Wenn sich Technikangst paart mit übergroßer Sorge um die eigene Gesundheit, bleibt die Vernunft auf der Strecke. Hokuspokus, Schamanismus – alles soll uns kurieren, nur nicht die wissenschaftliche Medizin.
Teil 6: Zusammenfassung Religion, Macht und Ethik. Wie könnte es weitergehen?

 

„Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei …“ – so ein Satz aus der vermuteten Schrift „Peri Theon“ von Protagoras (490–411 v. Chr.). Und als des Protagoras Folgerung daraus: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ – nicht mehr, wie bislang, die Götter.

Ob das damals jemand merkte? Mit zwei Dutzend Worten wurde ein Meilenstein der geistigen Evolution der Menschheit gesetzt. Es war die Geburt der abendländischen Philosophie (die ja noch zugleich Naturwissenschaft war). Seither und bis heute stehen philosophische und gläubige Fragen und Antworten nebeneinander. Philosophie konnte niemals die Gläubigkeit verdrängen, und die Gläubigen konnten niemals die Philosophen zum Denkverzicht bringen. Gläubige „Wahrheiten“ widersprechen zumeist den philosophischen „Wahrheiten“, gläubiges Zweifeln ist von ganz anderer Art als philosophische Skepsis. Wieso haben in all der Zeit nicht die einen gegen die anderen gewonnen? Es liegt am Erbgut der einen und an der Überzeugungskraft der anderen.
Nach Auskunft der Datensammlung von ADHERENTS bekennen sich heute etwa 85 % der Erdenbewohner zu irgendeiner der vielen angebotenen Glaubensrichtungen. Die Disposition zum gläubigen Modellieren der Welt ist wohl Teil des menschlichen Erbgutes, Glaubensfreiheit ist ein legitimes Menschenrecht.

Der denkende Mensch will unbedingt seine Welt begreifen. Dem gläubig Disponierten steht Vorgedachtes zur Verfügung. Dem Glaubensschwachen hingegen die Philosophie – beispielhafte Anleitungen zum Selberdenken. Die „verbotene“ Grenzverletzung zwischen Welt 3 und Welt 5, „Religionsphilosophie“, will diese Grenzen neu festlegen, Denkschule für Fortgeschrittene.

Das 4jährige Kind fragt „Warum ist der Himmel blau“? Da freut sich Papi, falls er die elektromagnetische Theorie der Dipolstrahlung kennt. Doch seine Antwort ist nicht hilfreich. Das Kind hat eine sinnlose Frage gestellt, sinnlos angesichts der Asymmetrie des Verstandes: sinnlos insofern, als sein kleines Gehirn zwar ausreicht zum Fragen, aber nicht zum Verstehen der Antwort. Im Volksmund heißt es, dass ein Narr mehr fragt, als zehn Weise beantworten können. So ist es.

Da es zu Anfang noch überhaupt keine bekannten Fragen gab, konnten die ersten Philosophen sich noch mit Leichtverständlichem befassen. Thales befand die Erde als auf dem unendlichen Wasser schwimmende Scheibe, Griechenland in der Mitte. Anaximander, vermutlich Erfinder der Sonnenuhr, erster Zeichner einer geographischen Karte, dachte sich die Erde eher trommelförmig, immerhin jetzt als „freischwebend, im Mittelpunkt der Dinge“. Xenophanes erkannte dann die Sonne als „brennenden Gasball“. Parmenides fand die richtige Deutung der Mondphasen. (Hat sich in der Esoterik bis heute noch nicht herumgesprochen).

Erwachen des Abendlandes

Er ist der erste Heros der theoretischen Physik. Nobelpreiswürdige Ideen sind manchmal ganz leicht zu begreifen. Demokrit: Was geschieht, wenn ich einen Apfel in zwei Hälften teile? Und dann aber eine Hälfte wieder in zwei Teile? Und dann immer wieder, immer wieder: Es bleibt am Ende NICHTS mehr übrig. DAS KANN ABER NICHT SEIN. Also muss es kleinste Teilchen geben die unteilbar sind: ATOME. Heute heißen Demokrits Unteilbare eher „Quarks“ oder „Strings“.

Auf dieser Grundlage wurde der Tod erkannt als die Auflösung der Struktur ohne Beschädigung der „atomaren“ Bausteine. Sollte außer der ungeordneten Menge ehemals nach Plan verbundener Atome auch noch ein zusätzlicher Hauch den körperlichen Tod überdauern? Ein Hauch, der die Erinnerung an Struktur und an Bewusstsein mit sich führt – eine „Seele“? Demokrit erfand die atomare Seele, eine überdauernde Struktur aus feinsten, beweglichen Atomen.

Seele und Maschine – das Chinesische Zimmer

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen“, sagt Goethes Faust – aber es sind mindestens drei: 1. Die religiöse Seele – geliehene, immaterielle, ichbewusste himmlische Substanz, vorübergehend mit dem Körper verbunden; 2. die esoterische Seele – immaterielle ichbewusste, locker an den Körper geheftetes psychisches Phänomen, nach dem Ableben herumgeisternd, und 3. die Psyche, d. h. ichbewusste Gesamtheit von Stimmungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Haltungen als Betriebs-Zustand des intakten menschlichen Gehirns.

In den folgenden Zeilen geht es nur um die Psyche, Seele-III. „Maschinen (Computer) werden nie eine ‚Seele’ haben“ (Seele-III), so die These mancher Philosophen. Dem stehen die Forschungsarbeiten mit „künstlicher Intelligenz“ entgegen („Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“). Das bekannteste (Gedanken-)Experiment ist das „Chinesische Zimmer“ von I. R. Searle, (Univ. Calif., 2000): Der Prüfer stellt seine schriftlichen Fragen auf chinesisch. Der Kandidat kann kein Wort Chinesisch. Aber er hat ein Verzeichnis von Regeln zur Hand, die ihm sagen, welche Antwort-Schriftzeichen er auf welche Frage-Schriftzeichen anzugeben hat. Frage und Antwort werden durch je einen engen Schlitz gereicht ohne Möglichkeit direkten Kontakts.
Das berühmte „Chinesische Zimmer“ war als schier unüberwindlich schwieriger Test gedacht: Kann (eines Tages) ein geschickt programmierter Rechner jeden Prüfer überzeugen, dass er ein Mensch ist, oder dass er zumindest „vergleichbar mit einem Menschen“ reagiert?

Es ist doch keine Frage mehr: Aus pluripotenten Stammzellen entwickeln sich Neuronen, die geleitet von der DNS mehr oder weniger gut funktionierende Kontakte knüpfen. Hoch strukturierte Materie kann denken. Auch die Computerchips bestehen aus hoch strukturierter Materie. Strukturen im Bereich kleiner als 100 Atomdurchmesser sind schon erzeugbar – in hybrider Technologie, teils biochemisch, teils nanotechnisch.

„Molekulare Programmierung“ heißt die neue Technik. In absehbarer Zeit könnte daraus eine Großtechnologie werden. 100 Atomdurchmesser, das ist die Größe leichter Moleküle, z. B. von Eiweißbausteinen (Peptiden).

Nachdem also eine noch vor wenigen Jahrzehnten als kaum denkbar angesehene Feinheit der Strukturen programmgesteuert erzeugt werden kann, ist die Simulation der Gehirnstrukturen in greifbare Nähe gerückt. Das Projekt „Künstliche Intelligenz“ will den Beweis liefern, dass wir fähig sind, natürliche Intelligenz zu simulieren. Der Tag ist nicht mehr fern. Die Geist-Körper-Kämpfer können ihre Bastionen verlassen, die Soldaten hinter beiden Seiten sind schon am Weglaufen.

Die neue Frage heißt dann: Wie kommen wir zurecht mit den künftig in Fabriken hergestellten (Roboter-) Übermenschen, also künstlichen Intelligenzen, welche die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns beherrschen, aber schon weiter entwickelt sind, besseres Gedächtnis, mehr Verstand, mehr Voraussicht, mehr Verantwortungsbewusstsein, etwa gar Erfindergabe, Kunst-Talent als Maler, Musiker, Literat? – Nietzsche dachte eher an Evolution und ganz lange Zeiträume. Er würde sich wundern über diese überraschende Wende. Das „ROBOTER-PROBLEM“ wird die kommende Philosophie beschäftigen.

Religion

„Religion“, aus dem lateinischen „religio“, dem Band zwischen dem Menschen und den Göttern, gründet noch immer auf der Vorstellung, dass etwas Erhabeneres über uns ist, das Gutes und Böses schickt, dass die Seele eine außerkörperliche Zukunft, vielleicht auch Vergangenheit hat, dass irdische Taten, Leiden und Anrufungen das jenseitige Seelenheil beeinflussen.

Religion, eigentlich eine persönliche Angelegenheit, ist in der Praxis überwiegend ein gemeinschaftsstärkender Kult. Durch Mitmachen, Weitergeben und Vorleben des lokalen Ritus wird Zugehörigkeit zur Gruppe signalisiert. Nichtteilnahme wird bestraft durch Brandmarkung als „Außenseiter“. Allein die Angst vor Außenseitertum wirkt als Antrieb zur Verbreitung des Ritus und damit auch des Glaubens. Der Hexenwahn des christlichen Mittelalters hatte eine Antriebskomponente im argwöhnisch übersteigerten Identifikationsmechanismus.

Aus dem abstrakten Jenseitspanorama einer Religion erwächst ein starkes Lebensgefühl, wenn nur fast jeder im Umkreis mitmacht, wenn der gleiche Glaube ungefragt überall in erreichbarer Entfernung präsent ist.

Verwandte, Freunde, Kollegen – alle machen ungefragt mit, nicken sich bei passender Gelegenheit bestätigend zu. Die Überzeugungskraft religiöser Gebote verstärkt sich durch die Gewissheit der nicht mehr überschaubaren, massenhaften Verbreitung der gleichen Vorstellung. Hochfühlende Verbundenheitserfahrung ist auch auf ganz andere Weise hervorrufbar, man denke an Gruppen-Tänze von Urvölkern, „Reichsparteitage“, an heutige Sportarenen oder Kirchentage. Aus positiver Grundstimmung wird ein mitreißendes, wiederholbares Erlebnis.

Der religiös angespornte Kampf gegen die „Ungläubigen“ hat die Jahrtausende überlebt. Im europäischen Raum z. B zieht sich eine Kette von religiösem Vulkanismus von den nordirischen religiösen Bürgerkriegern über die ethnoreligiösen balkanischen „Säuberer“ bis zu den religiös-rassistischen Verblendungen im Palästinagebiet.

Keine Religion

Wo bleiben aber die 15 %, die nicht zum Glauben disponiert sind? Drei Arten des Nicht-Gott-Glaubens müssen unterschieden werden:

1. Religionslosigkeit (non religious, secular): Desinteresse an religiösen Fragen und Vorstellungen.
2. Atheismus (atheist): Abstreiten der Existenz einer Gottheit – setzt eigentlich den Glauben an die Möglichkeiten der Erkennbarkeit des Transzendenten voraus.
3. Agnostizismus (agnostic): Beharren auf prinzipieller Nichterkennbarkeit des Transzendenten und damit auch der Nichterkennbarkeit einer Gottheit.

Salopp zusammengefasst: Der Religionslose interessiert sich nicht für Götter, der Atheist ist sich sicher, dass es keinen Gott gibt, der Agnostiker würde sich vielleicht interessieren, sieht aber keine Möglichkeit, etwas zu erfahren. Protagoras war somit der erste Agnostiker.

Atheismus war Staatsreligion im ehemaligen Großreich des Kommunismus; religiös Gläubige wurden verfolgt, wie heute noch im kommunistischen China. Im Sprachgebrauch der großen Religionen wird oft schon der als „Ungläubiger“ verstanden, als Atheist, der an die lokal gültige Gottheit nicht glaubt und an deren öffentlichen Kulten nicht teilnimmt. Jeder ist also in gewissen Großräumen der Erde ein Gottloser, mancher überall. Nietzsche sah als Folge des Atheismus den Nihilismus heraufkommen.

„Atheisten sind davon überzeugt, dass Gott von den Menschen erschaffen wurde – und nicht umgekehrt … Dabei werden viele dieser Gläubigen von einem gemeinsamen Beweggrund geleitet: Ihr Glaube gibt ihnen ein Gefühl der Macht und der Überlegenheit.“

Religion kann dieses Wohlgefühl erzeugen, sich in der richtigen Burg eingefunden zu haben, der Burg der „Guten“. Es ist schmerzlich aber real – auch bösartige Diktaturen sind in der Lage dazu, man denke nur an Nordkorea, oder die vergangenen Systeme der Kommunisten oder Nazis, das Drama der gutmeinenden Mitläufer teuflischer Ideologien.

Eine ausführliche Würdigung des nur scheinbaren Gegensatzes zwischen Sittlichkeit und Atheismus findet sich in der freimaurerischen Literatur. Am gefährlichsten leben die Glaubenslosen, die weder religiös noch atheistisch noch ideologiegläubig sind. Wer nicht mitglaubt, wirkt unglaubwürdig. Jedenfalls sind transzendente Fragen mit Vernunft und Logik nicht entscheidbar. Trotzdem ist manches Gehirn disponiert zur Übernahme mächtiger transzendent angelegter Weltbilder, die im Laufe eines Lebens die Persönlichkeit prägen können.

Esoterik

Religion sucht in einer gewissen Demut Verbindung mit den Gottheiten, um das Schicksal der Seele zu verbessern. Esoterik hingegen hat keine solchen Anliegen. Esoterik sucht die Herbeiführung und Nutzung von „Wundern“, teils in Zusammenhang mit der Seele, Kontakt, Austausch von Botschaften. Aber auch ohne Rückgriff auf die Seele, Wunder an sich.

Esoteriker wähnen sich im sicheren Besitz der wahren (wunder-basierten) Naturerkenntnis und meiden deshalb unabhängige kritische Überprüfungen. Einsprüche aus den Naturwissenschaften werden ohne ernsthafte Betrachtung hinweggefegt. „Klimaschutz“ z. B. wartet noch auf Anerkennung als Esoterik.

Naturwissenschaftliche Disziplinen werden herablassend mit der Vorsilbe „Schul-“ („Schul-Physik“, „Schul-Medizin“) markiert. Esoterik kommt in pseudonaturwissenschaftlicher Sprache daher, Laien erscheint dies glaubwürdig.

Beispiel: „… Mineralstoffe sind positiv aufgeladene Elemente, die durch die nördliche Außenseite der Zelle angezogen werden. So kann die gesunde Zelle sich auf ihren spezifischen Frequenzen ernähren …“

Schier endlos ist die Liste gelehrt klingender esoterischer Glaubenssätze und Praktiken, in alphabetischer Sortierung fängt die Aufzählung etwa so an – Abschirmung, Alternative Energie, Amulett, Astral-Körper, Astrologie, Anthroposophie, Bencker-Gitter, Besprechen, Biophotonen, Bioplasma, Chakra, Chi, Chiromantie, Curry-Gitter, Drittes Auge, Einhandrute, Energieresonanz, Erdstrahlen, Fadenpendel, Feinstoffliche Energie, Gedankenlesen, Geistheiler, Geopathie, Gitterstrahlung … usw.

Esoterische Felder und Energien

Zwei Grundbegriffe der Esoterik sind „Feld“ und „Energie“. Beide sind der Physik entlehnt, aber mit völlig neuer Bedeutung hinterlegt.

In der Physik versteht man z. B. unter „Feld“ die 3-dimensionale Verteilung einer physikalischen Größe. Beispiel: das Temperaturfeld in meinem Büro. Ich wandere mit einem Temperaturfühler in der Hand durch mein Büro und ermittle so eine große Tabelle mit Lageangaben (Ortskoordinaten) und zugehöriger Temperatur. Damit habe ich näherungsweise eine Beschreibung des Temperaturfeldes erzeugt, also definitionsgemäß die Feststellung der Temperaturverteilung im Raum.

Das esoterische Weltbild sieht uns umgeben von esoterischen Feldern, also räumlichen Verteilungen übersinnlicher Erscheinungen. Dominant sind die „Energiefelder“. Nur ausgebildete Esoteriker mit esoterischem Werkzeug ausgestattet, z. B. Biophotonensensor (noch nicht ganz der Tricorder aus dem Star-Trek-Universum, aber beinahe) oder Pendel, können damit umgehen.

„Energie“ kennt jeder, mit Energie mache ich mich ans Werk, Energie kommt aus der Steckdose (oder ist es Leistung, oder Strom, oder wie?). Da liegt es nahe, etwas weiter auszugreifen und die „kosmische Energie“ zu verkünden. Sie ist als Feld überall vorhanden, scheut aber zurück vor Physikern. Sie tritt an Brennpunkten („Chakras“) der Körperoberfläche in unseren Körper ein oder aus und vollbringt dort Gutes und Böses. Der Esoteriker kann das alles messen und günstig beeinflussen. Unabhängig von der Gestalt, ob Kind oder Greis, Frau oder Mann – der Körper ist von einem esoterischen Linienmuster überzogen, den „Meridianen“, die keinerlei Beziehung zur Lage von Gefäßen oder Nervenbahnen haben. Akupunktur z. B. richtet sich streng danach – und funktioniert nicht selten …

Nachstehend können nur noch zwei praktische Beispiele skizziert werden: „Erdstrahlung“ und „Homöopathie“. Beide Fälle sind vornehmlich in Deutschland weithin als „Wissenschaft“ anerkannt (85 % Gläubigkeit, s. o.). Es ist gar nicht leicht, jemanden zu finden, der diese treffsicher als Esoterik einordnen würde.

Erdstrahlen

Definition: Die alternativ-medizinische Beschwörung einer strahlungsinduzierten Krebsgefahr in Kombination mit pseudophysikalischem Erklärungsdrang. Erdstrahlen gibt es vorwiegend im deutschsprachigen Raum. Sie wurden hier erfunden und werden hier sehr geschätzt.

Nach Überzeugung der Erdstrahlen-Esoteriker fließt tief unter uns im Boden Grundwasser in Form von Wasseradern, quasi in natürlichen Röhren. Eine noch tiefer liegende, imaginäre Lampe erzeugt einen messerscharf begrenzten Schatten der Wasserader auf der Erdoberfläche – den „Erdstrahl“. Der Erdstrahl (der genau weiß, wo „unten“ und „oben“ ist, also die Gravitation berücksichtigt) durchdringt Kellerböden und Decken bis unters Dach, müsste eigentlich so weitermachen und auch für Vögel und Flugzeuge gefährlich werden – davon hat man aber bislang nichts gehört. Wenn das Bett vom Erdstrahl getroffen wird, schlafen die betroffenen Menschen schlecht und werden unweigerlich krebskrank.

Abhilfe bringen entweder das „Ausweichen“ – also das Bett in eine andere Ecke schieben oder eine „Abschirmdecke“ einziehen. In abschirmenden Textilien stehen Kett- und Schussfäden nicht senkrecht aufeinander, sondern bilden einen magischen Winkel, von z. B. etwa 57 Grad (Der genaue Zahlenwert ist patentiert). Hilfreich ist auch eine Gegenfeldpyramide, ein kleines pyramidenförmiges Gefäß, das Kristall-Pulver enthält. Im Keller auf den Erdstrahl plaziert, zerstreut es die schädlichen Strahlen von vornherein.

Dass Grundwasser laut hydrologischen Untersuchungen fast nie in „Adern“ geführt wird, sondern Hunderte von Metern breit durch Kiesschichten diffundiert, stört das schöne Bild nicht. Fließendes Wasser „strahlt“ – z. B. sind die Einwohner der Stadt Passau oder Köln von den mächtigen Strömungen schon völlig „erd-verstrahlt“.

Homöopathie

Eine Klasse für sich bilden die Hochpotenz-Homöopathen. Sie unterstellen quer zur Physik, dass die Moleküle von Lösungsmitteln ein okkultes Gedächtnis haben. Nach exzessiver Verdünnung, die so weit reichen kann, dass auch nicht mehr mit einem einzigen Molekül des esoterischen Wirkstoffes im Liter Lösungsmittel zu rechnen ist, entfalten homöopatische Medikamente ungeheure Wirksamkeiten.

Die Heilungssuchenden finden in diesem Freiraum der „Alternativmedizin“ zumeist, was sie suchen – heilsame Zuwendung. Der Patient wird ernst genommen, man spricht mehr mit ihm, berührt ihn öfters, erzeugt eine Aura der Heilsamkeit, „aura curantur“.

Sekten

Über die Herkunft des Wortes „Sekte“ gibt es verschiedene Ansichten. Jedenfalls kommt das Wort nicht, wie manchmal vermutet, von „secare“ (schneiden). Inzwischen hat das Wort „Sekte“ aber durch jahrhundertelangen, abwertenden Gebrauch aus kirchlicher Warte den Geruch von „Irrlehre“ (Wikipedia, 2013).

Psychosekten verdienen besondere Aufmerksamkeit. Allen Psychosekten ist der Zwangscharakter gemeinsam. Solange sich der Machtanspruch individuell auf Sektenmitglieder beschränkt, mag dies Privatangelegenheit sein. Ganz anders sieht es aus, wenn sich der Machtanspruch gegen Gesellschaft oder Staat richtet. Wenn eine Sekte sich in dieser Richtung bewegt, müsste sie als „staatsfeindliche Vereinigung“ angesehen und behandelt werden.

Beispiel 1 : Freimaurer

Dieses erste Beispiel ist als GEGENBEISPIEL gedacht. Freimaurer sind keine Sektierer. Die Freimaurer stellen einen ethisch motivierten Zusammenschluss dar mit dem Motto „Freiheit, Brüderlichkeit, Toleranz, Humanität“. Diese Vereinigung ist in Ortsvereine („Logen“) gegliedert seit ihrem Ursprung 1723.

Katholische Kirche und Islam gestatten ihren Mitgliedern nicht die Zugehörigkeit zu den Freimaurern. Die Evangelische Kirche steht dem neutral gegenüber.

Die Freimaurer verstehen sich als geschlossene Männergesellschaft. Trotzdem gibt es nicht-anerkannte gemischte und reine Frauen-Logen. Bei der Aufnahme muss der Kandidat seinen Beitrittswunsch begründen, und ein Bürge muss für ihn aussagen. Nach geheimer Abstimmung müssen Ablehnungen begründet werden.

Beispiel 2: Zeugen Jehovas

Gegründet wurde diese Bewegung durch den Amerikaner Charles Taze Russell (1852–1916). Er gab ab 1879 die Zeitschrift „Zion’s Watch Tower“ heraus. Später nannten sich die Mitglieder „ernste Bibelforscher“. Im Jahr 1931 nahmen sie die Bezeichnung „Zeugen Jehovas“ an. Sie nennen sich auch „Neue Welt Gesellschaft“.

Mitglieder der Gruppe wurden verfolgt – von den Nazis, trotz massiver Anbiederung, verfolgt auch von den Kommunisten wegen Wehrdienstverweigerung. Verfolgung als solche ist ein Hinweis auf ein schändliches Regime, nicht aber zugleich ein Indikator für akzeptable Motive der Verfolgten.

  • Im Mittelpunkt steht der nahende Weltuntergang („Harmageddon“), den nur die Mitglieder überleben werden
  • Ablehnung aller anderen Religionen als heidnisch, teuflisch
  • Ablehnung der Verwendung von Blut in Medizin (auch auf Gefahr des Ablebens, selbst der eigenen Kinder) und Ernährung
  • Bedingungslose Unterordnung unter Führung durch die Wachtturmgesellschaft
  • Voreheliche Sexualität und Homosexualität streng verboten
  • Kein Militär- oder Zivildienst, Wahlenthaltung als Gebot
  • Ablehnung des Umgangs mit Außenstehenden.

Beispiel 3: Scientology

Dieser amerikanische Weltanschauungskonzern bezeichnet sich offiziell als „Church of Scientology“. Das „heilige Buch“ der Bewegung, verfasst vom Gründer, heißt „Dianetics“. Der Gründer heißt Lafayette Ronald Hubbard (1911–1986), ein Science-Fiction-Autor. Ein Lebenslauf, der geprägt ist von Fälschungen – angemaßter Universitätsabschluss „BSc“, angemaßter Doktortitel („Ph.D“), angemaßte Führungsrolle in der US Navy („Geschwader- Kommandeur“), angemaßte Dutzende von Kriegsorden – er war nie im Kampfeinsatz.

Hubbards Idee zur Religionsgründung: „Es ist lächerlich, Schreibarbeit für 1 Penny pro Wort zu leisten. Wenn jemand wirklich eine Million Dollar machen will, wäre es der beste Weg, eine eigene Religion anzufangen.“
Das geheime, tatsächliche Ziel ist alarmierend. Nach einem Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz Hamburg geht es um totale Macht – wer die Institutionen unterwandern und dann die Macht im Staate an sich reißen will, kann gar nicht mehr als „Psychosekte“ betrachtet werden – hier wäre das Strafgesetzbuch zuständig.

In öffentlichen Auseinandersetzungen spielen Scientology oder deren Gönner grundsätzlich die Rolle der unschuldig verfolgten „religiösen Minderheit“, pochen auf ihr zustehende Rechte gegenüber dem von ihr scharf bekämpften Rechtsstaat. Der frühere Bundesminister Norbert Blüm wurde von Scientology auf Unterlassung von Behauptungen verklagt. In seinem Urteil v. 31.5.1996 erlaubte das Oberverwaltungsgericht von Nordrhein-Westfalen dem Beklagten erstaunliche Aussagen:

„Die Charakterisierung des Antragstellers als ‚menschenverachtendes Kartell der Unterdrückung’ ist nicht zu beanstanden. …“

Weitere nicht zu beanstandende Bezeichnungen waren: als „Riesenkrake“, Wertung „verblendete Ideologie“, „Gehirnwäsche“, die „Rädelsführer“ von Scientology seien „Kriminelle“.

Ist der Drang nach Unterwerfung ein Defekt oder eine verstärkte Ausprägung des Üblichen? Die Freiheitskämpfer von 1789, 1848, 1944 hatten auch ein Gehirn – was war darin anders?


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Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Bachmann

geb. 1939, AH VDSt Darmstadt, Hochschullehrer für Nachrichtentechnik, Autor des 400s. Lehrbuchs „Signalanalyse“, Vieweg Verlag 1992, als Erfinder genannt in über 50 Patentschriften, macht sich Gedanken, weit über die Grenzen der eigenen Fakultät hinaus.

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