Sicherheit und Freiheit

Vorschnelle Urteile und parteipolitische Scharmützel verbieten sich in der Diskussion um US-amerikanische Spähprogramme. Doch nach der Erfahrung zweier Diktaturen müssen Freiheitsrechte in Deutschland mit Nachdruck verteidigt werden, auch mit Mut vor dem Freunde – meint Diethard Engel.


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Die Vereinigten Staaten gelten für viele als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Land, in dem jeder zu Wohlstand kommen kann, der nur hart genug daran arbeitet. In ihrer Nationalhymne besingen die Amerikaner „the land of the free“: Das Land der freien Bürger. Und weiter heißt es:

Then conquer we must,
when our cause it is just,
And this be our motto:
„In God We Trust!“

Was übersetzt in etwa bedeutet:

Dann müssen wir siegen
wenn unsere Sache gerecht ist.
Und dies sei unser Motto:
„Wir vertrauen auf Gott.“

Ich habe mich im Jahr 2001 am 11. September als Beschäftigter eines US-Unternehmens in den USA aufgehalten und dort hautnah und aus erster Hand erlebt, wie die terroristischen Angriffe der Al Quaida nicht nur das Herz des politischen Amerikas, sondern auch das der amerikanischen Bevölkerung getroffen haben.

Auch deshalb – weil ich in gewissem Sinne dabei gewesen bin, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers und das Pentagon gesteuert wurden – bin ich der Letzte, der kein Verständnis dafür aufbrächte, dass ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis auch mit gewissen Unannehmlichkeiten für den einzelnen einhergehen kann. Wer schon einmal in die USA eingereist ist, wird verstehen, wovon ich spreche: Von Flüssigkeiten wie Getränken, die nicht mit in die Kabine des Flugzeugs genommen werden dürfen, bis hin zu einer erkennungsdienstlichen Prozedur, bei welcher der Pass gescannt und ein Foto des Einreisenden gemacht wird. Dazu werden die Fingerabdrücke aller Finger der rechten Hand genommen und elektronisch gespeichert. Nun schön – was sind schon ein paar Angaben über Zielort und -adresse, über unsere vorherigen Aufenthaltsorte, die Art und den Wert eventuell mitgeführter Waren oder Geschenke? Freiwillig geben wir unsere Informationen preis, sind sie doch die Eintrittskarte in das Land, dessen Errungenschaften wir oftmals bewundern.

Herausforderungen der digitalen Welt

Meinen Kindern habe ich eingebläut: „Das Internet vergisst nicht.“ Wir hinterlassen alle digitale Spuren – manchmal etwas dezentere, zum Beispiel, wenn wir über Google zu einem Thema recherchieren, und manchmal auch deutlichere, indem wir unsere Lebensläufe in sozialen Netzwerken wie LinkedIn oder Xing hinterlegen. Es gibt Millionen von Menschen, die mit täglichen Einträgen bei Twitter oder bei Facebook ihr Inneres für die Welt sichtbar machen.

Alles dies geschieht freiwillig, und der User ist sich mehr oder weniger bewusst, dass seine Daten von anderen genutzt werden. Bekomme ich aufgrund meines Surfverhaltens personalisierte Werbung auf meinem PC, so ist dies bereits gesellschaftlich akzeptiert – viele Geschäftsmodelle basieren genau darauf: Nur noch der Ahnungslose wundert sich, dass er plötzlich überall Reiseangebote sieht, wenn er über ein Flugportal nach der billigsten Verbindung zwischen A und B gesucht hat. Nur den Unbedarften überraschen die Unmengen von Autowerbung, die er zu sehen bekommt, wenn er ein neues Fahrzeug auf AutoScout24 gesucht hat.

Nun aber wissen wir, dank eines Mannes namens Edward Snowden, dass dies nur die Spitze des Eisbergs einer gigantischen Datensammlung ist, die unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit angelegt wird. Die Enthüllungen, mit denen die Öffentlichkeit seit Anfang Juni dieses Jahres konfrontiert wird, geben einen völlig neuen Blick auf die gängige Praxis der Datensammlung in einer digitalen Welt: Die Speicherung von Informationen sprengt alles bisher Dagewesene in ihrer Qualität und Dimension.

Insbesondere die engmaschige Verflechtung von Privatwirtschaft (wie Microsoft, Google, Facebook, Apple) und staatlicher Gewalt hat mich überrascht:

  • Neu ist, dass die Unternehmen einem Geheimdienst nicht nur pauschalen Zugriff auf Daten ermöglichen, sondern auch noch Rechnerkapazität und Räumlichkeiten zur Verfügung stellen.
  • Neu ist, dass die Unternehmen die Verschlüsselung von User-Daten und Konten bewusst aushebeln, um dem Geheimdienst den Zugriff zu erleichtern.
  • Neu ist, dass auch die Empfänger- und Absenderdaten postalischer Sendungen konsequent erfasst und gespeichert werden.
  • Neu ist, dass nicht gezielt Daten gesammelt und ausgewertet werden, sondern dass die Meta-Daten der gesamten Bevölkerung – also: komplett – erfasst und auf unbestimmte Zeit gespeichert werden.
  • Und neu ist auch, dass neben den Meta-Daten, also Verbindungsinformationen, konkret auch Inhalte – Texte, Bilder, das gesprochene Wort – großflächig abgefangen und gespeichert werden.
  • Freiwillig wird kein Unternehmen das Risiko eingehen, seine Kundendaten ungefiltert und ohne Kontrollmöglichkeiten an Geheimdienstorganisationen weiter zu geben. Zu groß wäre der Aufschrei der Kunden, würde dies publik. Zu groß das wirtschaftliche Risiko, die Kundenbasis zu verprellen und zu verlieren. Und trotzdem machen alle mit…

Gewöhnungseffekte

In diesem Zusammenhang verwundert es mich, dass nach der Veröffentlichung der Aufschrei in der Bevölkerung – der Shitstorm im digitalen Zeitalter – weitestgehend ausbleibt.

Möglicherweise liegt es daran, dass wir alle wissen, dass wir digitale Spuren hinterlassen, ob wir mit der Kreditkarte zahlen, im Internet surfen oder das Telefon benutzen. Kann dann jemand, der diese Spuren sammelt – vermeintlich aus gutem Grunde, nämlich zur Verhinderung terroristischer Bedrohung, dafür verurteilt werden?

Für mich aber stellt sich vielmehr die Frage: Wenn staatliche Organisationen verdachtsfrei Daten ihrer eigenen Staatsbürger und die anderer Länder sammeln, ist das mit unserem Verständnis von Freiheit vereinbar?

Abraham Lincoln hat behauptet: „Die Welt hat nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden.“

Deshalb geht es im Kern auch nicht darum, ob Informationssammlung und -auswertung per se moralisch zu rechtfertigen sind. Das haben wir alle durch unser tägliches Verhalten längst mit einem deutlichen „Ja“ beantwortet. Keine EC-Lastschrift ohne Datenübertragung, kein Facebookeintrag ohne Speicherung.

Nein – es geht um die Frage, wie viel Souveränität, wie viel Freiheit und informationelle Selbstbestimmung ein Individuum um den Preis einer vermeintlichen Sicherheit aufgeben muss, und weiter darum, ob alles, was technisch möglich ist, auch erlaubt ist.

Schutzfunktion des Staates

Freiheit ist untrennbar immer auch mit der Notwendigkeit ihrer Sicherung verbunden. Vornehmlich ist es der Schutz von Leib und Leben, den der Staat durch seine Ordnung und seine Exekutive garantiert. Geschützt – und verfassungsrechtlich verbrieft – wird daneben auch die Privatsphäre: Artikel 2 des Grundgesetzes schützt die Persönlichkeitsrechte, Art. 10 das Fernmeldegeheimnis, und Art. 13 die Unverletzbarkeit der Wohnung.

Die Überwachung des Internets, der Kommunikation, der Bewegungsmuster und des Verhaltens von Menschen ist ein daher grundlegendes politisches Problem, das durch das Wachsen der technologischen Möglichkeiten immer größer wird. Was als Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit begonnen hat, kann sich zu einer Krise der Demokratie entwickeln:

Jeder von uns verfügt über Wissen, von dem er nicht möchte, dass es andere erfahren. Viele von uns haben schon einmal etwas getan, das – sagen wir einmal – besser im Dunkeln verborgen bliebe, weil es nicht völlig mit gesellschaftlichen Normen oder sogar dem Gesetz in Einklang steht. Vieles davon hat in irgendeiner Form Spuren hinterlassen, die uns, wenn sie denn in die falschen Hände geraten, angreifbar oder sogar erpressbar machen.

Abraham Lincoln hat auch gesagt: „Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.“

Niemand garantiert uns, dass die Macht, die in den gesammelten Daten, deren Filterung und Analyse liegt, nur im Sinne der „gerechten Sache“, im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Verfassung genutzt wird. Was heute abwegig und nicht sanktionierbar erscheint, mag morgen eine andere Beurteilung erfahren.

Der Handlungsrahmen ist eben immer auch über Opportunität definiert.

Spinne ich diesen Gedanken weiter, so wäre auch eine bewusste Manipulation der Daten möglich. Was, wenn gefälschte Daten mit bestimmter Absicht unter das Konvolut abgefangener tatsächlicher Informationen gemischt würden? Wer will unter vielen tausend echten Datensätzen diejenigen erkennen, die nicht authentisch sind? Diese Beurteilung fällt mir schwer.

Geistiger Diebstahl

Außerdem schützt Artikel 14 des Grundgesetzes das Eigentum – derselbe Schutz ist in der EU-Grundrechtecharta und als Menschenrecht schon seit 1948 verankert. Eigentum kann dabei sowohl physischer als immaterieller Natur sein, zum Beispiel in Form von Patenten oder geistigem Eigentum.

Um den Schutz des Urheberrechts als eine Form geistigen Eigentums ist eine heftige Diskussion entbrannt, seit Informationen in digitalisierter Form verlustfrei zu kopieren und zu verbreiten sind. Gerade in den USA haben der Gesetzgeber über den Digital Millennium Act von 1998 und die Judikative mit aufsehenerregenden Urteilen das Urheberrecht gestärkt. Empfindliche Strafen wurden für Verletzungen des Urheberrechts verhängt, und Plattformen, von denen vermutete Gesetzesverstöße ausgingen, wurden geschlossen.

Dasselbe Land duldet aber seit Jahren ein System, das der systematischen Verletzung von Rechten an geistigem Eigentum, mit anderen Worten: Industriespionage, Vorschub zu leisten in der Lage ist. Geht es also bei der Sammlung von Daten und Inhalten um mehr als bloß um Sicherheit, wenn die USA neben Ländern wie Afghanistan und Pakistan auch die Bundesrepublik Deutschland besonders intensiv überwacht? Insbesondere der deutsche Süden und der Südwesten sind Ziele der Überwachungstätigkeit – eine räumliche Zuordnung, die zufällig deckungsgleich mit dem kreativen und wirtschaftlichen Herzen der bundesdeutschen Industrie ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Ich zitiere noch einmal den schon vorhin angeführten Teil der amerikanischen Nationalhymne, die täglich von Millionen Amerikanern gehört und mitgesungen wird: „Wir müssen siegen, wenn unsere Sache gerecht ist.“ Eine Definition, welche Sache gerecht ist, oder welche Faktoren eine gerechte Sache konstituieren, wird – verständlicherweise – nicht geliefert.

Daher dürfen die Spionageprogramme, ob sie nun Prism oder Tempora heißen, ob sie von Amerikanern, von Briten, Franzosen oder auch Deutschen eingesetzt werden, nicht nur vor dem Hintergrund heutiger politischer Verhältnisse und heutiger Technologie beurteilt werden. Die Meinungsbildung muss eine zukünftige Entwicklung mit einbeziehen: Wo sich eine neue Dimension der Überwachung, der Datensammlung, -verknüpfung und -auswertung bis hin zu einer auf Algorithmen basierten Verhaltensvorhersage auftut, dort eröffnet sich auch eine neue Dimension des möglichen Missbrauchs.

Deutsche Binnendebatten

Die aktuelle Diskussion scheint der Politik gerade recht gekommen zu sein – verursacht sie doch einiges Getöse im deutschen Wahlkampf: Da unterstellt der eine Mitwisserschaft und fordert, die Bundesregierung müsse dringend für Aufklärung sorgen, wohl wissend, dass die eigene Partei in der Regierungsverantwortung gewesen ist, als die Spitzelprogramme aufgelegt wurden. Der für die Geheimdienste zuständige Kanzleramtsminister flüchtet in die Unwissenheit und scheint regelrecht dankbar, dass er nicht über großflächige Überwachungsprojekte Bescheid wissen musste, werden sie doch durch Geheimdienste angelegt und finden daher schließlich ex definitione im Verborgenen statt. Die Chefin im Kanzleramt, Frau Merkel, unzweifelhaft eine der mächtigsten Personen der Welt, hält sich mit Festlegungen aller Art zurück, ist doch das Internet Neuland für uns alle.

Über alldem wird vergessen, dass es hier nicht ausschließlich um rein rechtliche Fragen geht, oder Fragen nach der Verantwortung, sondern es ist eine Diskussion um Ethik und Moral:

Ein Ausschlachten des Themas im Wahlkampf scheint mir ein gänzlich ungeeignetes Mittel zu sein, um die Diskussion weiter zu führen. Anstelle des Bohrens, wer wann was gewusst hat, könnte die Bundesrepublik als moralische Instanz auftreten, die aus einer Position der historischen Erfahrung ein klares Signal an die freie Welt sendet:

Zwei Diktaturen auf deutschem Boden, eine nationalsozialistische und eine kommunistische, haben uns gelehrt, die Freiheitsrechte der Bürger wertzuschätzen. Es wäre an der Zeit, dem Ausdruck der Wertschätzung auch Taten folgen zu lassen und aus einer abwartenden Haltung auf eine aktive Werte-Verteidigungsposition umzuschwenken. Bei so grundsätzlichen Fragen, die das Fundament unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erschüttern im Stande sind, darf Geschlossenheit über parteipolitische Grenzen hinweg nicht auf dem Altar eines Bundestagswahlkampfes geopfert werden. Es ist an der Zeit, dass die Bundesrepublik Deutschland eine gestärkte Rolle in der EU und damit in der Weltpolitik wahrnimmt. Verantwortung hat etwas mit Antworten zu tun – und dem entzieht sich die Politik bisher.

Auch scheint mir, als würde in der Diskussion um die Sache der Preis der Freiheit mit einem Preis der deutsch-amerikanischen Freundschaft verwechselt. Doch wahre Freundschaft darf eben nicht bedingungslos, und schon gar nicht ohne Moral sein.

Snowden

Die Glaubwürdigkeit der Politik, ja die Glaubwürdigkeit der Demokratie steht auf dem Spiel und gefährdet das, was wir den „freien Rechtsstaat“ nennen. Das manifestiert sich auch in der Behandlung des Mannes, der diesen Überwachungsskandal erst aufgedeckt hat: Edward Snowden.

Kein westlicher Rechtsstaat traut sich, ihm Asyl zu gewähren, da er dafür als politisch verfolgt – und damit vor Auslieferung an die USA geschützt – gelten müsste. Diese Anerkennung aber wird verweigert – weil man sich damit gegen den Partner USA stellen müsste.

Der vorauseilende Gehorsam einiger souveränen Staaten der europäischen Gemeinschaft gipfelte darin, der Maschine des ecuadorianischen Präsidenten Evo Morales die Überfluggenehmigung zu verweigern, in der Annahme, Edward Snowden könne sich an Bord befinden. Ich bin kein Jurist, und schon gar kein Experte im Völker- oder Luftverkehrsrecht, und jeder souveräne Staat darf souverän entscheiden, wem er das Überflugrecht einräumt. Ich sage aber: Selbst wenn sich Snowden an Bord befunden hätte, ist es kaum zu begründen, dass der Präsident eines – zugegeben US-kritischen – Staates am Heimflug gehindert wird. Offenbar geht die Bündnistreue einiger europäischer Staaten schon so weit, dass sie alles tun, um dem übermächtigen Partner in geflissentlicher Ignoranz dessen Hegemoniestrebens zu gefallen.

Dass ausgerechnet Frankreich den Überflug verweigerte, und dann nur wenig später Details zu den französischen Spähprogrammen an die Öffentlichkeit gerieten – vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht.

Ich werde Edward Snowden nicht zu einem Helden des digitalen Zeitalters stilisieren. Er ist auch kein Robin Hood der Moderne. Vielleicht ist er sogar nur ein idealistischer Spinner, der die Realitäten der Gegenwart nicht erkannt hat. Meinen Respekt aber hat er verdient, weil er mit seinen Veröffentlichungen anprangert, wo verfassungsrechtlich garantierte Freiheiten in eklatanter Weise verletzt werden.

Das demokratische Kontinuum

Das Schreckgespenst einer weiteren terroristischen Attacke führte zu einem fast schon paranoiden Kontrollfanatismus, den ich eigentlich nur von totalitären Staaten erwartet hätte. Doch der enormen Datensammlung, aller ausgeklügelten Filtermechanismen und Analysekapazitäten zum Trotz konnte der Anschlag auf den Boston Marathon im April mit drei Toten und 260 Verletzten nicht verhindert werden.

Freiheit und Sicherheit sind nicht die gegensätzlichen Pole auf einem Kontinuum: Ich kann also keinen Regler verschieben, mit dem ich die Sicherheit erhöhe und damit gleichzeitig die Freiheit einschränke, oder mit dem ich mir ein Mehr an Freiheit zu Lasten der Sicherheit gönne. Freiheit und Sicherheit sind unterschiedliche Dimensionen, die – miteinander verknüpft – das Gewebe unseres demokratischen Systems ergeben. Extremismus und Kriminalität lassen sich in einer globalisierten Welt nur durch adäquate Mittel bekämpfen. Der Generalverdacht gegen alle Bürger gehört meiner Meinung nach nicht dazu.


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