Soziobiologie

Auch wenn manches anerzogen ist oder sich durch kulturelle Prägung erklären lässt: Viele menschliche Verhaltungsweisen sind mit Wissen über evolutionäre, also auch genetische Vorprägungen viel plausibler.


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Soziobiologie – ein Wissensgebiet, das Dogmatikern religiöser wie ideologischer Art, kurz Verfechtern absoluter Wahrheiten ein rotes Tuch ist. Daher auch die immer wieder überzogenen Reaktionen zu den Aussagen basierend auf Evolution oder Soziobiologie. Jüngst beispielhaft vorgeführt durch Sigmar Gabriel, Vorsitzender der deutschen Sozialdemokratie, der sein gediegenes Weltbild durch ein Parteiausschlussverfahren gegen den Buchautor Thilo Sarrazin zur Schau stellte.

Soziobiologie beschäftigt sich mit dem Sozialverhalten von Tieren aller Art. Sozialverhalten wird als ein Produkt der biologischen Evolution verstanden. So beobachtet und beschreibt schon Darwin, dass viele Tierarten gesellig leben, sich gegenseitig helfen, Aufgaben füreinander erledigen, sich spezialisieren, Sympathie und Liebe für Gruppenangehörige zeigen, das Gegenteil für Gruppenfremde übrig haben.

Viele Tiere tun sich zusammen – zu Gruppen, Herden, Horden, Schwärmen; leben, arbeiten, suchen gemeinsam Futter oder jagen zusammen; setzen sich füreinander ein, schützen sich gegenseitig auch unter Inkaufnahme von Gefahr bis hin zum Tod.

Welche Vorteile haben solche Anhäufungen, Zusammenschlüsse der jeweiligen Art für ihre Teilnehmer? Arbeitsteilung, Spezialisierung, Brutpflege, Kooperationen bringen bessere Effizienz, aber das Zusammenleben verursacht auch Konflikte, die kosten. In Summe ergibt sich aber immer ein Überlebensvorteil für die Art; nicht unbedingt freilich für das Individuum.

Für das Wissen über soziale Interaktion zwischen Individuen einer Art hat sich die Bezeichnung Soziobiologie entwickelt. Eine Kombination des Wissens der Verhaltensforschung mit der Erkenntnis, dass nicht nur körperliche Merkmale, sondern auch bestimmte Verhaltensweisen vererbt werden, also auch mit Genetik zu tun haben.

Erstmals öffentlich bekannt wird Soziobiologie 1948 auf einem interdisziplinären Symposium in New York. Eine wirklich öffentliche Wahrnehmung dieser Disziplin geschieht aber erst 1975 durch ein Buch des amerikanischen Insektenkundlers E. O. Wilson mit dem Titel:

Soziobiologie – die neue Synthese

Neue Synthese, weil es schon einmal eine Synthese gegeben hatte in der Wissenswelt der Evolution, nämlich 1942 mit dem Werk „Evolution, die moderne Synthese“ des Briten Julian Huxley (übrigens ein Nachfahre jenes Huxleys, der 1859 Darwins Thesen in der britischen Akademie der Wissenschaften erfolgreich gegen den Klerus verteidigt hatte).

Wilsons Buch „Soziobiologie“ löste einen Sturm der Entrüstungen aus, im wesentlichen durch das letzte Kapitel, das über den Menschen. Darin beschrieb er den Menschen als Tier unter Tieren. Daher funktionierten menschliche Sozialstrukturen wie tierische. Gleiche Handlungsmuster, und das alles auch noch genetisch vorprogrammiert.

Damit wurde Wilson zum Feindbild aller Schöpfungsfundamentalisten, angefangen von fundamentalen Juden über gute Katholiken, Evangelikale bis hin zu Koranschülern. Auch die sich formierende westliche Wertegemeinschaft sieht in der Soziobiologie eine Konterrevolution gegen das heile System vollkommener Werte. Erkenntnisse über die Natur des Menschen können erworbene Deutungshoheit stürzen. Verfechter von Soziologie und Psychologie sehen ihre Welt bedroht. Heute sind solche Naturkenntnisse auch den sich formierenden Genderisten, die von der EU immer kräftiger subventioniert werden, ein rotes Tuch.

Eine heute gängige Kurzfassung für diese neue Wissensdisziplin Soziobiologie lautet:

Studium des Sozialverhaltens von Lebewesen auf entwicklungsgeschichtlicher und genetischer Basis; oder im Detail: Modelle, Theorien über Verhaltensmuster, die einzeln oder miteinander verbunden die verschiedenen Ausdrucksformen sozialer Aktivitäten ergeben, sind bei allen Arten möglich. Die genetische Vorgabe ist bei jeder Art begrenzt, aber über den Generationenwechsel wandelbar, weil statistische Streuung der Eigenschaften bei jeder Nachfolgegeneration in Kombination mit Mutationsschüben und begleitender Auslese für die weitere Generation den Genpool jeder Art ständig verändern und an die jeweilige Umwelt anpassen. Die Wissenschaftstheoretiker Wuketits und Voland ordnen die Wissensstruktur so, dass Evolutionsbiologie den Rahmen für alle Wissenszweige des Lebens bildet. Soziobiologie ist in diesem Rahmen Teilbereich der Verhaltensforschung, die in der angelsächsischen Sprachwelt den Namen Ethologie hat. Begründer der Verhaltensforschung im deutschsprachigen Raum waren der Berliner Ornithologe Oskar Heinroth und der Wiener Tierpsychologe Konrad Lorenz.

Zentrale Themen der Soziobiologie sind:

Gruppenbildung und Kräfte innerhalb von Gruppen. Soziale Lebensformen wie Paar, Familie, Sippe, Clan, Harem, Herde, Rudel, Schwarm, Volk, Staat, Kolonie. Bei diesen Begriffen handelt es sich meist um solche aus der Alltagssprache. Die Schwierigkeit der richtigen Deutung dieser Begriffe liegt darin, dass sie in der Fachsprache aber einen ganz bestimmten Sinn zugeordnet haben. So sind Missdeutungen bei Darstellungen in den Medien häufig
Konflikt, Aggression und deren Ritualisierung, Kooperation, Konkurrenz
Fortpflanzungsstrategien nach der r- oder k-Methode Je nach aktueller Beschaffenheit eines Biotops ist die eine oder andere Strategie bevorteilt. Variable bei dieser Frage sind Fortpflanzungsrate, Lebensdauer und das Elterninvest in die nachkommende Generation. Bei Säugetieren allgemein, speziell bei den Primaten, kann steigendes Lebensalter mit zunehmendem Elterninvest in die Nachkommen sehr gut beobachtet werden.

  • Eltern sind bestrebt, in mehr, also weitere Nachkommen zu investieren. Nachkommen wollen solange wie möglich die eigenen Kosten gering halten und von den Eltern profitieren. Kosten-Nutzen-Rechnungen finden auch zwischen Eltern statt, und daraus resultieren verschiedenenFortpflanzungsstrategien bei Weibchen und Männchen einer Art. Bei den meisten Vögeln oder Säugetieren investieren die Mütter mehr in den Nachwuchs als die Väter.
  • Soziales Band zwischen Eltern, Kindern, Geschlechtern, Gruppenmitgliedern insgesamt. Das soziale Band ist in der Kernfamilie am stärksten und meist das vorteilhafteste, wirkt aber über diese verschieden weit hinaus über Clan, Gruppe, Bande, Herde, bis zum Volk, im Extremfall über die Art insgesamt. Hier finden sich viele Abstufungen bei den einzelnen Arten.
  • Egoismus der Gene: ein Reizwort, das der britische Biologe Dawkins bekannt gemacht hat. Damit wird eine Urkraft allen Lebens ausgedrückt, sich zu erneuern, zu vergrößern bis zu vorhandenen Grenzen. Egal wie geeignet ein Individuum für seine Welt gerade ist, es versucht, sich zu behaupten.
  • Die Bevorteilung der unmittelbaren Verwandten dient der Umsetzung dieser Ur-Kraft des Lebens, dem Erhalt der Gene, die man zum Teil auch selber hat. Über Verwandte – Kinder, Geschwister, weitere Verwandte – werden eigene Gene transportiert, ihre Förderung ist ein Mittel dieses Egoismus auf indirekte Art, die in der Fachsprache Altruismus genannt wird. Die altruistischen Leistungen dienen dem Erhalt der Gruppe bis hin zur Art selbst, also auch der eigenen Gene. Dieses Verhalten wurde in der Verhaltensforschung lange nicht verstanden und erst durch die Genetik erklärbar. Heute deutet man altruistisches Handeln als indirekten, verdeckten Egoismus, der die Umgebung über den eigentlichen Zweck täuscht. Daher auch die relativierende Bezeichnung: reziproker Altruismus.
  • Eine Kultfigur insbesondere der christlichen Welt ist der sogenannte barmherzige Samariter (Lukas 10, 25–37). Bei ihm erfolgt die Belohnung auf subtilem Weg. So schreibt Volker Sommer in seinem Werk „Von Menschen und Tieren“: „Damit die im Neuen Testament dokumentierte Tat des barmherzigen Samariters als wahrer Altruismus durchgehen könnte, dürfte der Barmherzige nicht nur nicht mit seiner Heilstat prahlen. Wir dürften zudem gar nichts vom Samariter wissen – weil erst rein anonyme Wohltat jedwedem Egoismus die Hintertür vor der Nase zuschlägt. In Wahrheit bleibt kein großzügiger Helfer anonym. Und wenn seine Tat entdeckt und bekannt wird, geschieht das nie zu seinem Schaden. Heute wird er in eine Fernsehschau eingeladen und erlangt so zumindest wohlwollende Aufmerksamkeit. Wie verhält es sich mit dem sogenannten großen, unbekannten Spender? Er geht nicht ganz leer aus, er kann seine Spende zumindest von der Steuer absetzen oder, wenn er ein drückendes Gewissen hat, kann er diesen Druck verringern. Das zeigt: großartige soziale Leistungen sind auf biologische Letztursachen rückführbar.“
  • Soziale Intelligenz: Davon spricht man, wenn ein Lebewesen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, nicht einfach Körperkraft, sondern taktische Täuschung einsetzt. Über solches Können verfügen nicht nur Menschen, auch bei anderen Primaten bis zu Krähen konnte man es beobachten.
  • Gesellschaftsproblem Erbe oder Umwelt: Ein Reizthema dogmatisch konstruierter Art. Weil die Frage, ob Lebewesen durch ihre Erbanlagen ODER durch ihre Umwelt bestimmt sind, schon eine Einschränkung der Perspektive bedeutet. Die Forderung einer Antwort auf diese Entweder-oder- Frage ist ein typisches Produkt einer Kultur, die immer nur ein Entweder-oder kennt, ein Gut oder ein Böse, aber kein Sowohl-als-auch. Denkvermögen, das durch Absolutheitsvorstellungen, wie sie die Offenbarungsreligionen verkünden, kulturell eingeschränkt zu sein scheint. Es ist wohl plausibel, dass Lebewesen mit angeborenen Anlagen entstehen. Sie haben sich aber auch immer mit einer bestimmten Umwelt auseinanderzusetzen. Folge davon ist ein Einfluss der Umwelt, welche Erbanlagen sich behaupten, welche verschwinden.

Die Soziobiologie liefert Denkansätze und zeigt mögliche Grenzen, was mit Lebewesen einer Art, auch der des Menschen, möglich ist oder nicht. Welche Ethik oder Moral wird angenommen oder unterlaufen, welche Wirkung hat die Gestaltung öffentlicher Räume auf das Verhalten von Menschen. Sie hilft, das Thema Anthropologie neu aufzustellen und von den Irrtümern herkömmlicher Menschenbilder wegzukommen.

Gerade mit der steigenden Zahl der Menschen auf der Erde geht eine Zusammenballung von Menschen in immer größeren Städten in immer höherer Dichte einher. Mit herkömmlichen Menschenbildern können damit verbundene Entwicklungen immer schlechter verstanden werden. Hier liefert die Soziobiologie Möglichkeiten und Grenzen dessen, was im Zusammenleben in solch extremen Lebenssituationen machbar sein kann.


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Mathias Holweg

geb. 1945, Pädagoge, VDSt Graz.

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