Vertrieben aus dem Land der Rosen & Nachtigallen

In Zeiten der Repression sind es oft die Dichter und Denker, die als erste ihrem Sprachraum den Rücken kehren müssen. Fernab der Heimat schreiben sie weiter; entwurzelt und frei. In Deutschland kennen wir dieses Phänomen nur noch historisch; in der Islamischen Republik Iran ist es immer noch hochaktuell. Ein Beitrag zur modernen persischen Exil-Lyrik von Kurt Scharf.


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S160_Vertrieben_5In Deutschland haben die politischen Verhältnisse mehrfach Dichter ins Exil gezwungen. Man denke an Georg Büchner, Heinrich Heine oder die Exilliteratur nach 1933. Ein ähnliches Phänomen lässt sich in Bezug auf Iran beobachten, nur dass es, wie Geschichte und Kultur jenes Landes überhaupt, viel weiter in die Vergangenheit zurückreicht. Schon Zarathustra, der vermutlich um 1000 vor Christus gelebt hat und dem die Menschheit uralte religiöse Lyrik zu verdanken hat, ist anscheinend ins Exil gegangen.

Da hier nicht der Raum für eine Gesamtschau der iranischen Literatur ist, beschränken wir uns auf die neupersische Phase. Wie die deutsche kennt auch die persische Sprache drei Entwicklungsstadien. Die Brüche dazwischen liegen jedoch viel weiter zurück als in der Geschichte unserer Muttersprache. Der erste trat mit der Vernichtung des Achämenidenreichs durch Alexander den Großen am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. ein, der zweite mit der Eroberung des Sassanidenreichs durch die Araber und die beginnende Islamisierung Irans im 7. Jahrhundert n. Chr. Der Beginn der letzten Phase der persischen Sprachgeschichte fällt zeitlich also etwa mit dem Anfang der ersten Etappe der deutschen zusammen.

Ihren Höhepunkt erreichte die neupersische Klassik mit Hafis (1) (*um 1320, † um 1389), und auch ihn traf das Schicksals des Exils, dessen er u. a. mit folgenden Versen gedenkt:

Beim Nachtgebet, wenn mich das Heimweh überfällt, / Wenn nichts mein Klagen, dass ich fremd hier bin, aufhält, / Packt mich die Sehnsucht nach den Meinen und dem Meinen. / Am liebsten schaffte ich das Reisen aus der Welt.

Diese Zeilen lassen sich auf verschiedene Weise lesen:

  • als Ausdruck des Heimwehs nach seiner Geburtsstadt Schiras, das ihn am Abend besonders stark überfällt,
  • als Klage am Lebensabend über die Entfremdung des Menschen in einer Welt, die ihm das „Seine“ vorenthält, ihm den Sinn des Lebens verbirgt, und ihn zwingt, zu „reisen“, d. h. umherzuirren,
  • und schließlich als die schmerzliche Erkenntnis des Mystikers beim Gebet, dass seine Seele, der göttliche Funke in ihm, von den „Seinen“ und dem „Seinen“, will sagen, seinem innersten Wesen, seiner wahren Bestimmung, der Vereinigung mit Gott und den Glückseligen getrennt, zu einer „Reise“ durch das irdische Jammertal verdammt ist.

Orient und Okzident

Auch eine Verbindung der verschiedenen Lesarten ist möglich, und diese schillernde Mehrdeutigkeit bei vollkommener Beherrschung der sprachlichen Mittel macht den Dichter in den Augen seiner Landsleute, seiner Zeitgenossen und ihrer Nachkommen zum unerreichten Meister der Lyrik. Sie regte Goethe zu einem überschwänglichen Lob des Hafis an und zu der Äußerung „Gesteht’s! die Dichter des Orients sind größer als wir des Okzidents“. Er und andere Dichter seiner Zeit entwickelten einen Kanon von poetischen Formen, Worten und Bildern, welcher der persischen Verskunst von Indien über Zentralasien bis zum Balkan für Jahrhunderte den Ruf eintrug, die schönste der menschlichen Künste zu sein. Dazu gehört neben vielen anderen das doppelte Bild von Rose und Nachtigall als Symbol für den Geliebten, den Fürsten oder Gott, der vom Dichter, dem Höfling oder dem Gläubigen gepriesen wird.

Auf die Zeit der Klassiker, die noch bis ins 15. Jahrhundert andauerte, folgte eine Zeit der Stagnation. Spätere Dichter wagten es kaum, sich weit von diesem Vorbild zu entfernen. Sie schufen raffinierte, geistreiche Neuarrangements der überlieferten Bilder und Worte, aber es fehlte ihnen an Frische, an Unmittelbarkeit.

Groß war die Aufregung, als Nimâ Yuschidsch im 20. Jahrhundert mit diesen Traditionen brach und unter dem Einfluss der französischen Symbolisten neuartige, gelegentlich ungelenke, aber spontan wirkende Verse schrieb, so als hätten die Klassiker nie gelebt. Er verzichtete auf die Beachtung des bis dahin geltenden Kanons poetischer Wörter und Bilder, überkommener Metren und Reimschemata, um Verse von ganz unterschiedlicher Länge und Bauart zu schreiben. Wenn er überhaupt Reime verwendete, dann verstreute er sie unregelmäßig über das Gedicht. Und er benutzte die Feder als Schwert: Die Lyrik diente ihm als Mittel zum politischen Kampf, d. h. dazu, sein gesellschaftliches Ideal, den Sozialismus, zu propagieren. Wie man sich vorstellen kann, rief dies den Repressionsapparat des diktatorischen Schahregimes auf den Plan. Darauf antworteten er und seine Schüler mit dem häufig durchaus erfolgreichen Versuch, die Zensur durch Verschlüsselung ihrer Botschaften zu unterlaufen. Die überlieferte Bilderwelt wurde mit neuer Bedeutung aufgeladen. Die Rose z. B. stand nun nicht mehr nur für die Geliebte, den Fürsten oder Gott, sondern sie konnte auch die Revolution symbolisieren; und mit der Nachtigall mochten neben dem Dichter auch Verteidiger sozialer Gerechtigkeit und Anhänger einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung gemeint sein. Immer wieder kam es zur Verhaftung von Autoren, und zahlreiche Dichter gingen ins Exil. Wenige kehrten nach der islamischen Revolution von 1979 zurück; stattdessen verließen aber viele andere ihre Heimat, sodass heutzutage so viele iranische Autoren über die ganze Welt verstreut im Ausland leben wie nie zuvor.

Kleine Lieder aus dem Exil

Zu den vorübergehend Exilierten gehörte auch Nimâ Yuschidschs bedeutendster Schüler, der ihn an künstlerischer Potenz noch übertraf: der 1925 geborene Ahmad Schâmlu. Er verbrachte längere Zeit in den Kerkern des Schahs und kehrte 1976 seiner Heimat den Rücken, weil er sich nach der Freiheit des Wortes sehnte. Aber er hielt es auf die Dauer nicht fern von seiner Heimat aus. Nach der islamischen Revolution kehrte er dorthin zurück, obwohl er sich über die neue Repression keine Illusionen machte. Sein letzter Gedichtband trug den Titel „Kleine Lieder aus dem Exil“, und daraus sei hier ein Gedicht zitiert, in dem er ein vernichtendes Urteil über das neue Regime fällt:

In dieser Sackgasse

Sie schnüffeln an deinem Mund, / Ob du – Gott bewahre! – etwa gesagt hast, ich liebe dich. / Sie schnüffeln an deinem Herzen. /Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche. / Und die Liebe / Geißeln sie an Straßensperren / Mit Peitschenhieben. / Die Liebe muss man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.

In dieser winklig-krummen Sackgasse der Kälte / Verbrennen sie / Im Feuer / Lieder und Gedichte.

Bring dich nicht durch Denken in Gefahr. / Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche. / Jener, der an deine Tür klopft zur Nachtzeit, / Ist gekommen, deine Lampe zu zerschlagen. / Das Licht muss man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.

Die da sind Schlächter / An verrammelten Durchfahrten / Mit blutigen Beilen und Blöcken. / Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche. / Sie schneiden das Lächeln von den Lippen / Und die Melodien aus dem Mund. / Die Leidenschaft muss man im hintersten Zimmer des Hauses / verbergen.

Kanarienvögel am Bratspieß / Auf Feuer von Lilien und Jasmin. /Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche. / Satan sitzt siegestrunken / Zum Festschmaus bei unserem Trauermahl. / Gott muss man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen. (2)

 

Zwar wagten die neuen Herren nicht, Schâmlu nochmals einzukerkern, aber er konnte keine weiteren Gedichte mehr veröffentlichen; und als er 2000 starb, folgte eine große Menge seiner Bewunderer schweigend dem Sarg, weil die Regierung Reden bei seiner Beerdigung verboten hatte.

Bis heute im Exil lebt der mit dem Coburger Rückert-Preis ausgezeichnete Esmail Kho’i. Er wurde 1939 in Maschhad, einer Stadt in Chorassân, jenem Teil Irans, das als die Wiege der klassischen Literatur gilt, geboren. Er gehört wie Nimâ und Schâmlu zur Schule der „sozialen Symbolisten“. Unter dem Schah hatte man ihn verhaftet, gefoltert und ihm seine Stelle als Hochschullehrer genommen. Aber in der Islamischen Republik Iran musste er um sein Leben fürchten, sodass er nach England floh. Als politisch engagierter Iraner kämpft er jetzt vom Ausland aus. In dem folgenden Gedicht nimmt er die Propagandasendungen des iranischen Fernsehens aufs Korn:

 

Das Fernsehen der Geistlichen

Die Lüge haben sie fürs Ohr geschaffen. / Die Lüge / Ist nicht mit dem Auge wahrnehmbar.

Euch – euch gibt euer Verlangen / Das heißt, die Gier, in der ihr befangen / Oder der Zwang, der euch beherrscht, / Die Hoffnung ein, die Menschen möchten mit dem Ohr aufnehmen / All jenes, was man in der Trickkiste, der dreisten Mattscheibe der Lügen / und der Bärte sieht!

Von jeglichem, was wie die Fäulnis eures Wesens / Alles, alles übersteigt, was irgend glaubhaft ist, / Von jeglichem, was hässlich ist und zu verabscheuen / Wird alles Ansehnliche / Besonders zu diesen Zeiten, Da im Raum die Lügen verbreitet werden, / Zum Zeugen angerufen / Eurer Güte, Eurer Reinheit, Eurer Unschuld, / Wie kann man das mit ansehen, / wenn nicht mit zornglühendem Auge!

Pfui Teufel! (3)

 

Im Exil kann er ohne Rücksicht auf die Zensur schreiben und gleichsam mit offenem Visier gegen das in seiner Heimat herrschende politische System kämpfen. Dennoch leidet er sehr unter dieser Verbannung. In einem anderen seiner Gedichte bringt er das so zum Ausdruck:

 

Was tun wir hier?

„Was tun wir hier?“ / –so fragst du. / Was tun wir hier? / Was ist hier schon zu tun?

Hier besteht unsere ganze Woche / aus Sonntagen / und unser Tag / – jeder einzelne unserer Tage – / ist ein immerwährendes Grau in Grau aus Nachmittagen.

Unter dem bewölkten Blick dieses feuchten, schäbigen Himmels / sitzen wir / nachmittags / auf der Matte der Erinnerung an unser Land und unsre Lieben, / rauchen die Zigarette eines Seufzers / und trinken den bitteren Tee des schwarzen Gallensaftes (4),(5)

Dichtung und Politik

Eine poetische Stimme anderer Art ist die von Mahmud Kiânush. Er wurde 1934, ebenfalls in Maschhad, geboren. Bereits mit 12 Jahren begann er, Verse in klassischer Manier zu schreiben. Mit 19 Jahren ging er an die Lehrerbildungsanstalt in Teheran. Dort verfasste er neben erzählender Prosa freie Verse in der Nachfolge Nimâs, fand dessen Formlosigkeit aber bald unbefriedigend und suchte eine Verbindung der Tradition mit modernen Ausdrucksmöglichkeiten. Er wurde zum Mitarbeiter der renommierten Literaturzeitschrift „Sochan“ (Das Wort) und später im Auftrag des Erziehungsministeriums zum Initiator von anspruchsvoller Literatur für Kinder und Jugendliche. 1974 nahm er seinen vorzeitigen Abschied aus dem Staatsdienst und siedelte 1976, also noch in der Schah-Zeit, nach England über. Seit über 30 Jahren arbeitet er nun für die persische Sektion der BBC. Dieser Sender gilt für viele Iraner als eine der besten Möglichkeiten, sich unabhängig von staatlicher Propaganda zu informieren.

Aber Kiânusch sieht die Hauptaufgabe des Dichters nicht im politischen Kampf. Für ihn ist Dichtung die Muttersprache der Menschheit. Von Anbeginn der Zeiten an habe sie versucht, so meint er, die Welt durch Poesie zu begreifen und zu deuten.

 

Unschuld

Was waren / Die ersten Worte, die ich / Im Paradiese formte / Und zur Sprache brachte? / Waren diese Worte wohl / Frieden / Schönheit / Und Liebe?

Nein, / Vielleicht nicht, / Denn erst / Wenn die Sonne untergeht / Und die Nacht anbricht / Kann ich das Fehlen dessen / Was ich Klarheit nenne / Fühlen.

Wenn es das Denken war / Das mich zum Menschen machte / Glaube ich / War ich nie unschuldig.

 

Selbst solche menschlichen Überlegungen stoßen im Iran von heute auf Schwierigkeiten, weil sie der Weltsicht der Geistlichkeit widersprechen; und so ist es nicht verwunderlich, dass dieses Gedicht in einem Exilverlag, nämlich in Schweden, veröffentlicht worden ist (6).

Dennoch sieht er den Menschen als Zôon politikón, als von Natur aus politisches Wesen, und er äußert sich auch deutlich zu politischen Themen.

 

Gottesmänner

Gefängnis, / Folter, / Hinrichtungen. / Wer ist dieser Dinge wahrer Urheber?

Du preisest ihn, / Und du verehrest ihn; / Gibst ihm sogar das Recht, / Für dich zu denken, / Weil du immerfort / Wie ein Vogel / Unbeschwert sein willst / Und wie ein Kind / So frei:

Nun bist du nichts / Und er ist du; / Er ist das Volk.

Aber sei deines Bruders eingedenk, / Der selber für sich selber denken will / Und nicht begehrt, / ein Vögelchen zu sein oder ein Kind; / Wirf ihn nicht ins Gefängnis, / Foltere ihn nicht, / Lass ihn nicht hinrichten, / Denke selbst! (7)

 

Er betrachtet indessen nicht nur diejenigen, die sich zu den Herren seines Heimatlandes aufgeworfen haben, ihre Anhänger und ihre Weltanschauung mit kritischen Augen, sondern uns alle: den Umgang der Menschheit mit der Welt. In dem längeren Gedicht „Unversehens der Mensch und seine Erde“ entwirft er eine apokalyptische Vision einer von Gier und seelenlosem Hedonismus zerstörten Umwelt. So schreibt er

Aus war es nun mit dem Planeten Erde, / Einst als „Die Welt“ bekannt“; / Er war versunken in die Hölle, / Nein, eigentlich / War er zur Hölle geworden;

Die Welt, / Dieses ekle System, / Reich der Launen und der Eitelkeiten, / War am Ende … (8)

Der Dichter ist aber durchaus kein besserwisserischer Mahner, der uns mit erhobenem Zeigefinger droht. Seine Aufforderung, selbst zu denken und sich kritisch zu hinterfragen, lässt er auch für sich selbst gelten, und sie führt ihn zu etwas, was in der iranischen Kultur selten ist: Selbstironie. Man spürt sie in folgendem mehrdeutigen, spielerischen, nachdenklichen Gedicht. Er zeichnet darin von sich das Bild eines Menschen, der im Exil einerseits frei und andererseits verloren ist.

 

Entflogener Drachen

Ich bin ein Drachen / Den ein einsames Kind / Gebastelt hat / Um ihn dann steigen zu lassen.

Die Schnur war arg kurz / Und der Himmel so weit / Da zerriss ich das Band / Und ließ mich treiben von einem verheißungsvollen Wind / Auf dass er mich emportrage / Und weit, weit fort.

Manchmal denke ich, vielleicht / Sucht das einsame Kind / In einem Strudel von Wut und Verzweiflung / Sucht es und sucht nach mir.

Warum sollte ich / Mich sonst / Als undankbarer, verlorener Drache / Fühlen! (9)

 

Auch als Vermittler ist Kianush tätig geworden, indem er eine schöne Anthologie moderner persischer Lyrik (10) in englischer Übersetzung vorgelegt hat.

Ähnlich zwiespältig wie die Situation dieses Drachens ist die der persischen Lyrik heute: vertrieben aus dem eigenen Land, aber eben dadurch frei und weiter um den ganzen Globus verbreitet als je zuvor.


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Kurt Scharf

geb. 1940, Herausgeber und Übersetzer von Literatur aus dem Persischen, Portugiesischen und Spanischen.

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