Von Aristoteles zum Denkverstärker

Wissenschaftliche Forschung, der Name deutet es an, dient der Schaffung von Wissen. Aber wie man zu Wissen gelangt, war immer schon Veränderungen unterworfen und unterscheidet sich noch heute zwischen den Fakultäten deutlich. Wie geht es weiter? Ein- und Ausblicke von Wolfgang Bachmann.


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Beginnen wir mit Thesen zum Thema Wissen:

1. Es gibt zwei ganz unterschiedliche Formen des Wissens: A) Internes Wissen, d. h. jederzeit aufrufbare Erinnerung, und B) Externes Wissen, d. h. in technischen Speichermedien notierte Information.

2. Internes Wissen liefert den Schlüssel zum externen Wissen. Externes Wissen ist kaum auffindbar und ziemlich nutzlos ohne relevantes internes Wissen.

3. Internes Wissen, d.h. die präsente Erinnerung an Fakten, Methoden, Zusammenhänge, ist wesentlicher Bestandteil der „Bildung“.

4. Moderner Schulunterricht betont zunehmend die Handhabung der externen Wissensspeicher zu Lasten der Bildung. Aber diese Handhabung ist keine Kunst. Es ist eine schnell veränderliche Technik, die nur heutzutage noch viel zu umständlich ist. Automatisierung steht noch aus. Bildung hingegen lässt sich heute noch nicht automatisieren.

5. Bildung stellt die Fragen. Moderne Dummheit ist fingerfertig auf der Tastatur, aber blind für Inhalte und Fragen.

6. Die Verwechselung oder Vermischung beider Wissensarten in einer Aussage muss zu Trugschlüssen führen.

Beispiele

Ich suche im Internet nach meiner Erbschaftssteuerklasse – und finde die Antwort nach wenigen Augenblicken. Natürlich kenne ich zur Genüge das Einkommensteuerrecht, natürlich weiß ich, dass ich jedes Jahr eine Steuererklärung abgeben muss usw. Ein Mitglied eines neu entdeckten Indianerstammes aus Neu-Guinea aber könnte mit dieser Information nichts anfangen, ihre Bedeutung bliebe ihm verschlossen: Erst Vorwissen, wenn auch unscharf, ermöglicht das Fragen und dann das Verstehen der Antwort. Letztlich ist „Bildung“ vonnöten.

Ich wollte von Shanghai nach Peking mit dem Zug fahren. Der freundliche Schaffner gibt mir eine Kopie des Fahrplans, aber alles steht da auf Chinesisch. Mir fehlt die dazu notwendige spezielle Bildung. Wieder ein reichhaltiges externes Wissen, unzugänglich wegen mangelnden Internwissens.

Überraschend und deprimierend – das Wissen der Menschheit steht zum Abruf bereit, aber nur wer wenigstens eine blasse Ahnung von bestimmten Sektoren des Wissensschatzes hat, kann die betreffenden Teile des Schatzes für sich nutzbar machen. Und auch dies nur im Rahmen seiner Verständnisfähigkeit (Intelligenz, Talent).

Externes Wissen und Aristoteles

Schon vor 2300 Jahren dachte Aristoteles sehr treffend über „Forschung“ nach. Er kam zu dem auch heute noch in den Naturwissenschaften gültigen Schluss, dass nur die Verbindung von Analytik (= Beobachtung) mit Dialektik (= Überprüfung der logischen Korrektheit der Aussagen) einen Erkenntnisgewinn bringen konnte. Damit emanzipierte er sich von der Schule Platons, wo allein die Dialektik als maßgeblich erachtet wurde – Hinschauen galt als überflüssig. Dass er die Frauen als geistig minderbemittelt glaubte, hat wohl mit versäumtem Hinschauen zu tun. Die Fehleinschätzung konnte erst Charles Darwin widerlegen. Und dass er seine Landsleute als Herrenrasse ansah, wollen wir ihm nicht verübeln – der Anschein sprach damals dafür. Das Denken war damals eine griechische Angelegenheit. Und unseren heutigen leidvollen Erfahrungsschatz zu „Rassismus“ konnte sich noch niemand vorstellen.

Was also ist „Externes Wissen“? Es ist im Sinne von Aristoteles die logisch korrekte Interpretation von Beobachtungen, also die Summe aller zur Frage gehörenden „Regeln“. Die korrekte Interpretation von Beobachtungen führt zurück auf ältere Regeln: Die Ökonomie verlangt nach soziologischen Regeln. Soziologie müsste psychologisch begründet werden. Psychologie verlangt nach biologischer Begründung. Biologie lässt sich nur begründen mit Regeln aus der Physiologie. Physiologie ist anorganische Chemie für Fortgeschrittene. Chemie ist eine geordnete Abteilung der Physik. Physik endet im Uferlosen, sowohl makroskopisch (Was ist Masse, Raum, Zeit, Ladung, big bang?) als mikroskopisch – was steht hinter den Quarks, hinter den Kräften, woher kommt die Ordnung, die dunkle Materie?

Und wo bleibt die Historik, die Kunst, die Medien? Die Geschichtswissenschaft ist, soweit sie die Quellen sucht, „Beobachtung“, also Teil von seriöser Forschung. Historische Forschung ergänzt und interpretiert die Beobachtung.

Kunst als Forschungsdisziplin kann es nicht beim Sammeln belassen – Kunst will als Ausdruck nichtverbaler Kommunikation von Seelenzuständen erklärt werden – ein weites Feld.

Die wissenschaftliche Befassung mit der Informations- und Unterhaltungsverbreitung sammelt hauptsächlich Informationen über Techniken, Administratives, Ausdrucksformen und -mittel und ist insoweit erst „Beobachten“. Die Analyse müsste z. B. die Rückwirkung auf den Wirtschaftsprozess, auf die Politik, die Bildungsinstitutionen behandeln.

Internes Wissen und das Gehirn

Beobachtung und Interpretation – das ist nur ein Aspekt von „Wissen“. Eine andere Frage betrifft die Wechselbeziehung zwischen dem wissenden Geist und der Materie. Das Gehirn ist zunächst bloße Materie, aber zündfähig strukturierte Materie. Insofern vergleichbar mit einem Verbrennungsmotor: Zuerst ist da die kunstvoll arrangierte Materie, und dann die Zündfähigkeit – der Motor kann gestartet werden und führt dann autonom einen Prozess aus. Der Prozess setzt die Materie voraus. Denken ist sozusagen das verkleinerte Abbild der Forschung – hier Sinneseindrücke und Assoziation, dort Beobachtung und Interpretation. Die Assoziation, also der gezielte Zugriff auf individuell gespeichertes Wissen, hat biologische Grenzen, allein schon durch die begrenzte Zahl der Synapsen.

Grenzen des Lernens

Heinrich von Kleist schrieb vor 200 Jahren einen höchst feinsinnigen Aufsatz („Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“), der auch heute noch der Gehirnforschung Impulse geben könnte. Doch neue Technik ist im Entstehen, Nanotechnik. Unser Gehirn ist sozusagen auf Nano-Biologie aufgebaut – erstmals wird sich Technik auf gleicher Ebene mit Biologie treffen. Das Gehirn kann eines Tages mit Nano-Elektronik umgebaut, repariert, erweitert werden. Während ich denke, laufen dann assoziativ gesteuert externe Suchmaschinen mit. „Denkverstärker“ werden so beliebt sein wie heute die Mobiltelefone.

Die in den Schulen eingeübte Form des Denkens (Zuhören, Wiedergeben, Merken, Analysieren) könnte sich verändern. Mit neuer zukünftiger Technik würde also maschinell die „Bildung“ erweitert – ein unerwarteter evolutionärer Schritt. Mehr Geist ist möglich, aber auch mehr Verstand? Das menschliche Gehirn hat nur endlich viele Speicherungsmöglichkeiten und limitierten Zugriff auf Gespeichertes. Die Wahrheit über die letzten Ursachen und Regeln, das eigentliche Sein, wird gewiss viel umfangreicher sein, als ein menschliches Gehirn als Bildungsstoff erfassen kann.

„Geist“ ist ein Produkt dieses Gehirnprozesses. „Geist“ ist nur geisterhaft fassbar – Erinnerung, Gefühl, Talent, Kreativität, Intelligenz, Glaube, Können, Bewusstsein … von all dem etwas, kurz, was nicht nur den Menschen über das Tier erhebt, sondern Verbindung zu anderen Menschen sucht und was zugleich sich dem Programmierer verweigert. Geistige Größe setzt großes Wissen voraus. Vielleicht liegt die Zukunft der Menschheit in gezielten Veränderungen der Erbsubstanz, vielleicht aber auch in technisch erweiterter Bildung, und damit in wesentlich erhöhbarer geistiger Größe. Somit sehen wir zwei mögliche Entwicklungslinien unserer Spezies: Genmanipulation und Nanotechnik. Genmanipulation ist allerdings schwer beherrschbar: Ähnlich wie bei ABC-Waffen verbietet sich praktisch der Einsatz wegen der Gefahr der Schädigung des Anwenders.

Wissen und Gewissheit

Nachdem wir uns jetzt mit Formen und Manipulationen des Wissens befasst haben, bleibt noch die Frage nach der Zuverlässigkeit des Wissens. „Wasser siedet unter Normalbedingungen bei 100 Grad. Oder war das der rechte Winkel. Nein, 90 Grad, oder 100 Neugrad?“ Unscharfes internes Wissen genügt, um Assoziationen anzuregen, um zielgenau zu recherchieren („googeln“ genannt). Aber die Unschärfe ist nur tolerierbar in risikofreien Situationen. Wer Auto fährt, muss exakt wissen, wie gebremst wird. Und wer mit unsicheren Typen von Kernkraftwerken experimentiert, muss sich seiner Sache ganz sicher sein – Tschernobyl wurde von unmotivierten, halbwissenden „Technikern“ ruiniert. Diese wähnten sich ihrer Sache gewiss. So scheint die Regel zu gelten: Je riskanter das Unwissen, desto aufwendiger muss die eigene Selbstgewissheit von Dritten überprüft und bestätigt werden.

Externes Wissen unterteilen wir in „physikalisches Wissen“ und „metaphysisches Wissen“. Vorstehend war bisher nur von „physikalischem Wissen“ die Rede, also vom Beweisbaren, Nachprüfbaren, Falsifizierbaren. Doch die Metaphysik stellt ebenfalls eine unüberschaubare Menge an externem Wissen vor. Metaphysik orientiert sich letztlich an der Denkschule Platons – in völliger Abwesenheit von nachprüfbaren Beobachtungen lässt sich „Dialektik“ betreiben, also Ideen vorstellen und logisch verknüpfen. Es erhebt den Menschen über das Tier, dass er sich metaphysisch engagieren und aus den von Vorfahren erdachten Zusammenhängen heraus für sich Verhaltensmaßstäbe setzen kann. Moral, Ethik, Verantwortung, Glaube, Liebe, Hoffnung sind metaphysisch begründet. „Metaphysisches Wissen“ kann in sich geschlossen ein logisches Weltbild darstellen, hat aber nichts mit dem „Physikalischen Wissen“ zu tun.

Selbstgewiss schaut der Metaphysiker auf den Physiker herab. Und dieser ist ratlos – wo findet sich die Brücke, die von der neuronalen Materie zum Geist führt? Doch dann lächelt er milde, ist er doch immerhin im Besitz nachprüfbarer Wahrheit, auch wenn es an Vollständigkeit mangelt. Wenn keine Katastrophen dazwischen kommen, wird heute schon das Bäumchen gepflanzt, in dessen Schatten sie sich einmal treffen werden, um die Fertigstellung der Brücke zu feiern.


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Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Bachmann

geb. 1939, AH VDSt Darmstadt, Hochschullehrer für Nachrichtentechnik, Autor des 400s. Lehrbuchs „Signalanalyse“, Vieweg Verlag 1992, als Erfinder genannt in über 50 Patentschriften, macht sich Gedanken, weit über die Grenzen der eigenen Fakultät hinaus.

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