Westeuropa: (K)ein Modell für Russland

Das Wissen der Westeuropäer über Russland erschöpft sich meist in einigen Schlagworten; dennoch meint man das Riesenreich von oben herab behandeln und ständig belehren zu können. Das wird nicht weit führen, meint Pavel Usvatov.


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Die Euro-Länder versinken im Schuldensumpf, der seit zwei Jahrzehnten die westeuropäischen Länder unwiederbringlich in seinen Sog zieht. Die Bologna-Reform führt zu einer Stagnation im Bereich der Bildung und Forschung. Die Verteidigungsausgaben sind rückläufig, die militärische Bedeutung Westeuropas und sein Einfluss in der Welt sinken. Die sogar in Deutschland publik gewordene, natürlich schon lange existierende und florierende Vetternwirtschaft in der Politik, Korruption und Steuerhinterziehung (bekanntlich kein Bagatelldelikt!) erschüttern zusätzlich das Vertrauen in das westliche System. Vorbei ist die Zeit, in der wir mit dem erhobenen Zeigefinger andere Länder belehren konnten. Die Staaten, die bisher einen anderen Weg gegangen sind, könnten schon bald zu harten und erfolgreichen Konkurrenten des „good old Europe“ werden. An dieser Stelle soll das Augenmerk Russland gelten.

Schein und Sein: Russland mit den Augen eines Westeuropäers.

Russland: Unendliche Weiten, eiskalte Winter, Vodka, tanzende Bären, Kommunismus, Stalin und Massenmord, milliardenschwere Oligarchen, Gazprom und Korruption, Putin, Zensur, Menschenrechte, Diktatur, Böse … Es gibt einige Stichworte, die manch einem Westeuropäer, insbesondere einem Deutschen, ohne lange zu zögern einfallen, wenn er nach seinen Assoziationen mit Russland gefragt wird. Diese entstanden allerdings nicht auf Grund von Reflexion und schon gar nicht durch eigene Erfahrungen, sondern beschränken sich oftmals auf das Nachplappern der in bestimmten Medien veröffentlichten Meinungen von bestimmten Journalisten.

Symptomatisch sei nur die Berichterstattung über die Durchsuchungen bei den NROen in Russland angeführt: Die Durchsuchungen durch Steuerbehörden und Staatsanwaltschaft wurden in jedem Blatt thematisiert und verurteilt, während an keiner Stelle darauf hingewiesen wurde, dass das bereits am 20. Juli 2012 (also ein halbes Jahr vorher) in Kraft getretene und allen NROen bekannte Gesetz über „ausländische Agenten“ sie zur Mitteilung der angeforderten Informationen verpflichtet und dass nicht eine NRO dieser gesetzlichen Verpflichtung innerhalb der gesetzten Frist nachgekommen war. Abgesehen von der Informationspflicht wurden den NROen keinerlei Einschränkungen auferlegt. Unabhängig von der politischen Wertung des Gesetzes an sich muss – ganz neutral – festgehalten werden, dass die Durchsuchungen im souveränen Russland rechtlich völlig legal und keineswegs unerwartet (sie wurden von den Behörden vorher angekündigt), schon gar nicht unabwendbar waren. Die Bezeichnung der einschlägigen NROen als „ausländische Agenten“ haben sich nicht Putin und seine Regierung ausgedacht: Das bereits seit 1938 in den USA geltende und inhaltlich vergleichbare Gesetzt unter der Bezeichnung „Foreign Agents Registration Act“ bildete die Vorlage für den russländischen Gesetzgeber.

Als Putin in seinem Interview vom 2. April 2013 mit Jörg Schönenborn in der ARD darauf hinwies, wirkte der Chefredakteur des WDR völlig überrascht. Die TAZ titelte daraufhin in einem Bericht über das Interview: „Putin nervös wie ein Pennäler“… Herr Donath von der TAZ hat wohl ein anderes Interview gesehen als das, worüber er schreiben wollte: Es war vielmehr Putin, der Schönenborn 35 Minuten lang wie einen Pennäler vorführte („Wie heißen Sie eigentlich? – Jörg Schönenborn …“). Anschließend veröffentlichte die ARD auf ihrer Seite eine Klarstellung mit Blick auf das US-FARA-Gesetz: Dieses sei 1938 eingeführt worden, um „den Einfluss nationalsozialistischer Propaganda auf die öffentliche Meinung und die Politik“ einzuschränken. Damit steht also die politische Legitimität der Anwendung des FARA auf sämtliche NROen mit ausländischer Finanzierung heute für die ARD und andere Medien außer Frage.

Klares Ziel, eigener Weg

Gesellschaftliche und politische Missstände in Russland gibt es in einer nicht geringen Menge, das steht fest. Zu dieser Einsicht sind aber nicht erst die Westeuropäer gelangt: Selbst die russländische Regierung und Putin sind sich der Probleme bewusst. „Dass wir eine eindeutige Wahl in Richtung Demokratie gemacht haben und dass wir uns keine andere Entwicklung vorstellen können, ist offensichtlich“, so Putin im oben genannten Interview. Aber es sei auch offensichtlich, dass die Standards, die in westeuropäischen Staaten Anwendung finden, auf andere Länder nur schwer oder gar nicht übertragbar seien (das haben die Versuche der gewaltsamen Implementierung der westlichen Demokratie nicht nur im Irak und auf dem afrikanischen Kontinent, sondern auch im Kosovo, also in Europa selbst, gezeigt [a.d.A.]). Russland müsse also eigene, dem Land und der Gesellschaft angemessene demokratische Instrumente entwickeln; dabei könne nicht erwartet werden, dass Russland in zwanzig Jahren einen Weg zurücklege, für den andere Staaten Jahrhunderte benötigt haben.

Russland: Ein endogenes Reich außerhalb Westeuropas

peter der grosseRussland mit seinen Vorläuferstaaten ist genauso alt wie Westeuropa, durchlief in den letzten tausend Jahren aber eine völlig andere Entwicklung. Während sich Westeuropa etwa bis zur heutigen russisch-polnischen Grenze unter Einfluss und in der Tradition des weströmischen Reichs gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch relativ einheitlich und dynamisch entwickelte, wurde Russland orthodox und übernahm daher auch nicht die römische rechtliche und politische Tradition. War es aber noch bis ins 13. Jahrhundert hinein durch Handel mit dem Westen verbunden, endete der Austausch um 1240 abrupt: In diesem Jahr eroberten die Tataro-Mongolen das gesamte russische Gebiet bis zum heutigen Polen. 240 Jahre lang trieb die „Goldene Horde“ des Khans den Tribut ein und unterdrückte die Bevölkerung des in zahlreiche rivalisierende Fürstentümer zerfallenen Großreichs (Kiewer Rus). Vom Norden bedrohten die Schweden die russischen Gebiete, vom Westen rückten die Kreuzritter (Schwertbrüderorden in Livland) an, wodurch auch der Handel mit dem Westen zum Erliegen kam: Isolation.

Die Größe der russischen Gebiete und die immer wieder aufflackernden Aufstände der Russen gegen die Mongolen stoppten ihren Vormarsch nach Westeuropa. Russland zahlte dafür einen hohen Preis: Während des zweieinhalb Jahrhunderte dauernden Jochs musste es auf jede nennenswerte eigene wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung verzichten. Als Ivan III. schließlich 1480 Russland von den Mongolen befreite, war es ein hoffnungslos rückständiges Land. Während sich in Westeuropa eine spätfeudale Gesellschaft langsam zum Handelskapitalismus entwickelte, war das Moskauer Reich noch eine – in Westeuropa längst überwundene – mittelalterliche Ständegesellschaft.

Erst Peter I. „der Große“ konnte ab 1689 eine wesentliche Modernisierung des schließlich zu einem Großreich vereinigten Landes einleiten. Es ist allerdings bemerkenswert, dass sich die Aufholjagd nicht wie in anderen europäischen Ländern durch Fortschritt vollzog, welcher vom Handel und Kapital ausging, sondern von Peter I. angeordnet und forciert werden musste. So konnten die ersten Manufakturen nur auf seinen Druck und unter hohen staatlichen Aufwendungen gegründet und ausgebaut werden. Zum Ende seiner Regierungszeit 1725 verfügte Russland über eine zeitgemäße Armee, eine vorher nicht vorhandene Flotte und zahlreiche moderne Produktions- und Bildungseinrichtungen. Ein Zeitalter der Annäherung an Westeuropa begann, Peter I. lud viele Gelehrte und Spezialisten aus dem Westen nach Russland ein, die russische Gesellschaft wurde rasch „europäisiert“.

Nach dem Tod Peters I. stagnierten die Reformen, der große Einfluss der oft wenig gebildeten Adligen und die Leibeigenschaft, die erst 1861, also etwa 50 Jahre später als in Westeuropa, abgeschafft wurde, verhinderten eine effektive Industrialisierung. Der rege Austausch mit dem Westen blieb zwar bestehen, es machten sich aber auch Widerstände in der russischen Bevölkerung bemerkbar. Die schiere Größe des Landes erforderte neben einem effektiven Regierungssystem, welches in der absoluten Monarchie erblickt wurde, hohe Investitionen in den Unterhalt des Militärs auf dem gesamten Gebiet. Dadurch rückten Bildung und technischer Fortschritt im Konsumbereich in den Hintergrund. Eine Konstitutionalisierung der Monarchie erfolgte daher erst 1905–1906 unter Nikolaus II., hatte aber keine Chance, sich zu bewähren: Im Februar 1917 wurde Nikolaus II. in einer bürgerlichen Revolution gestürzt, im Oktober folgten die bolschewistische Revolution und die Errichtung der UdSSR. In den nachfolgenden 72 Jahren war Russland wieder von Westeuropa abgeschnitten, bis 1989 mit dem Zerfall des Ostblocks die Öffnung begann.

Der „russische Weg“

Die Geschichte zeigt eindrucksvoll, dass Russland sich nicht auf dem fruchtbaren Boden des römischen Erbes und im ständigen Austausch mit seinen Nachbarstaaten entwickeln und modernisieren konnte. Das Recht spielte in einem Staat, der keine Verfassung hatte, keine nennenswerte Rolle. Anfang der 90er Jahre blickte Russland auf fast tausend Jahre Unterdrückung und Absolutismus zurück. Dennoch gab sich das Land 1993 eine moderne Verfassung, die de jure den Standards einer westlichen Demokratie gerecht wird. Der traditionelle Rechtsnihilismus des Volkes führt noch dazu, dass diese Verfassung de facto bisher nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Es ist jedoch naiv und töricht zu glauben, dass dieser Nihilismus von einem Tag auf den anderen überwunden werden kann. Schon gar nicht wird sich eine selbstbewusste Nation, die den Anspruch erhebt, eine Weltmacht zu sein, ein System von außen aufdrängen lassen, zumal dessen eindeutige Defizite gerade sichtbar werden. Russlands Wirtschaft, der Wohlstand der Bevölkerung und die für die politischen Veränderungen so wichtige Mittelschicht wachsen indes rasch. Auch technologisch dürfen wesentliche Fortschritte erwartet werden, hat Russland doch längst verstanden, dass es sich nicht auf die Rohstoffe allein verlassen darf.

So wie die Westeuropäer nach einem mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess schließlich ein neues, demokratisches System entwickelt haben, das nicht von außen, sondern von innen kam, wird sich auch Russland entwickeln müssen. Dafür braucht das Land seine Zeit. Die heutige russische Verfassung bietet die Voraussetzungen dafür. Eine Übertragung der in den winzigen und homogenen Nationalstaaten Westeuropas bewährten Prinzipien auf die unendlichen Weiten des russländischen Territoriums und das multinationale Volk in 83 autonomen Gebieten und Teilrepubliken ist nicht nur kaum realisierbar, sondern würde womöglich zu einem Zerfall des seit Jahrhunderten mit viel Aufwand zusammengehaltenen Staates führen. Dass dies auch eine Gefährdung des Weltfriedens nach sich zöge, ist offensichtlich.


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Pavel Usvatov

geb. 1983, Jurist, VDSt Straßburg-Hamburg-Rostock.

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