Wir und die anderen

In der Vorstellung des einzelnen ist das Böse nicht abstrakt, sondern konkret; jeder weiß, wen und was er für böse hält. Solange Menschen Feinde haben, wird es das Böse geben. Und das wird lange sein; denn jeder von uns braucht sein persönliches Feinbild.


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Feind. Dieses Wort hat einen gewissen Klang. Feind. Es hat etwas Martialisches, etwas Unheimliches. Benutzt wird es heute freilich eher selten. Man selbst ist ungern ein Feind. Feind, das sind immer die anderen. „Hatte er irgendwelche Feinde?“ hört man den Kriminalermittler im „Tatort“ fragen. Feinde sind „die anderen“. In diesem Fall: die Verdächtigen, also: die Bösen. Jedenfalls niemals „wir selbst“. Denn wir sind ja das Gegenteil der Feinde, wir sind „die Guten“.

Ich denke zurück an meine Kinderzeit. Ein Fußballspiel. Die Jungs aus der Müllerstraße gegen die Jungs aus der Friedemannstraße. Wir gegen die. Gut gegen Böse. Warum wir nicht mischten? Weil man „mit denen“ nicht spielt. Nach der Abifeier sind wir losgezogen. Im anderen Stadtteil lag das Leibniz-Gymnasium. Wir bewarfen es mit Eiern und Klopapierrollen. Die Leibnizer zogen später los und luden uns Mist auf den Schulhof. Wir waren einander „die anderen“. Was uns sonst unterschied? Nichts. Beides waren Gymnasien im gutbürgerlichen Teil meiner Heimatstadt.

Feindbilder in der Konsensdemokratie

Es liegt in der Natur des Menschen, sich in unterschiedlichsten Kontexten mit Gleichgesinnten irgendeiner Form zusammenzufinden. Je nachdem, mit welcher Ernsthaftigkeit und welcher Motivlage dies geschieht, kann derjenige, der nicht dazugehört, als „Feind“ betrachtet werden. Besonders dann, wenn er potentiell in der Lage ist, dieses gemeinsame zu (zer-)stören. Offenbar benötigen wir Menschen also Feindbilder, um unseren Standort zu bestimmen. Häufig genug ist es allein diese negative Abgrenzung, also die Feindbildbestimmung, die eine ansonsten heterogene Gruppe zu einer Gemeinschaft formt. Was für jugendliche Subkulturen, Cliquen innerhalb von Schulen, Kindergärten oder Sportvereinen gilt, gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Politik.

Nun leben wir in einer Zeit der Konsensdemokratie. Wirklich tiefgehende Konflikte mit weltanschaulichen Differenzen werden kaum mehr ausgetragen. Man könnte also vermuten, echte Feindbilder gehörten gar nicht mehr zu unserem politischen Alltag. Und man könnte ebenso vermuten, dass dies in einer demokratischen Gesellschaft sogar eher etwas Gutes wäre. Wagt man einen Blick in die Geschichte, muss man gar nicht allzu weit zurückgehen, um in Deutschland die Zeit der deutlichen politischen Feindbilder zu finden:

Freilich, am deutlichsten ist hierbei die Zeit des Nationalsozialismus, als dem Regime jeder als Feind galt, welcher der Idee des rassisch-völkischen Reiches gefährlich werden konnte. Nicht nur Juden, auch Freimaurer, ernstlich praktizierende Christen oder Menschen, die in nicht nationalsozialistisch organisierten Gemeinschaften integriert waren, auch etwa Verbindungsstudenten oder jede andere Art von eigenständiger Gruppe, die sich nicht ohne weiteres in die oben genannte Idee integrieren, also „gleichschalten“ ließ.

Russe, Amerikaner, Franz Josef Strauß

Auch noch für die Zeit der jungen Bundesrepublik können deutliche politische Feindbilder skizziert werden. Als die aus den drei West-Zonen heraus gegründete Republik im aufziehenden „Kalten Krieg“ systematisch und ideologisch in Stellung gebracht wurde, also vor allen Dingen amerikafreundlich, war es der Kommunismus, der noch am ehesten zum Feindbild taugte. Die Schuldkomplexe in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg waren noch gar nicht richtig ausgebrochen, da durfte man sich rasch wieder auf der Seite der „Guten“ fühlen. „Der Russe“ stand erneut vor der Tür und war die bleibende, fassbare Bedrohung. Wer mit den Kommunisten ideologisch sympathisierte, und diese Keule wurde auch gerne gegen Sozialdemokraten geschwungen, galt als potentieller Landesverräter. Nach der Rhetorik Konrad Adenauers bestand zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten ohnehin kein allzu großer Unterschied, und so war er bestrebt, (vermeintliche) Kommunisten im Zweifel auch strafrechtlich zu verfolgen. In seine Amtszeit fällt vier Jahre nach dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei Deutschlands (als Nachfolgeorganisation der NSDAP) auch das Verbot der KPD.

In den 1960er und 1970er Jahren waren es ebenjene Schichten, die den Kurs der Westbindung unterstützt hatten, die nun zum Feindbild einer jungen, hochgradig politisierten Generation wurden. „Haut die Bullen platt wie Stullen“ als Schlachtruf dieser Zeit steht für die allgemeine Ablehnung von Staat und Autorität und denjenigen, die sie verkörperten. „Faschismus“ war zu dieser Zeit der unscharfe, aber allgegenwärtige Vorwurf gegen alles, was für Ordnung, Dauer und Stabilität stand. Wer den progressiven Ideen dieser Zeit nicht aufgeschlossen gegenüberstand, sah sich schnell unter dem Verdacht, Handlanger der Unterdrücker zu sein. Die Rede von den „langhaarigen Hippies“ und „Zeckenzüchtern“ wiederum kann man wohl am besten als wechselseitige Verkehrung dieses Feindbildes verstehen.

Auch im politischen Betrieb haben derlei Feindbildbestimmungen natürlich stets bestimmte Funktionen. Zum einen ist es hier nicht unvorteilhaft, wenn man sich zunächst einmal darüber klar wird, was man nicht will. „Stoppt Strauß!“ ist als Parole erst einmal herrlich greifbar, um sich emotional damit zu identifizieren. Einen eigenen Standpunkt muss noch nicht formulieren, wer sie als Anstecker an der Jacke trägt. Diese Funktion ist also eine Vereinfachung: Man muss sich nicht tiefergehend mit einem schwierigen Thema auseinandersetzen. Durch die Reduktion von Komplexität ist es möglich, sich –wenigstens emotional – zu engagieren, auch wenn man die wahren oder einfach größeren Zusammenhänge nicht durchschaut. Die gängigen Verschwörungstheorien funktionieren übrigens genau deswegen. „Der Jude“ als Manipulator der Finanzmärkte ist deutlich einfacher zu verstehen als ein komplexes, aus unzähligen Faktoren bestehendes Wirtschaftssystem.

Zum anderen taugen Feindbilder stets zur Mobilisierung. Wer es schafft, im politischen Gegner etwas zu finden, das sich als Feindbild aufbauen lässt, dem gelingt es womöglich, besonders große Massen an die Wahlurnen zu treiben. Diese Mobilisierung funktioniert in erster Linie über ein bestimmtes Gefühl: die Angst. Den Feind muss man fürchten. Gegen ihn muss man zusammenstehen, ihn darf man, ihn muss man mitunter sogar bekämpfen, wenn nötig mit Gewalt. Das unterscheidet den Feind übrigens vom Gegner. Während der Gegner der sportliche Herausforderer ist, dem man mit Respekt begegnet und dem man nach erledigter Auseinandersetzung die Hand reicht, um ihm aufzuhelfen, ist der Feind jemand, der vernichtet gehört. Oder wenigstens soweit am Boden gehalten, dass er ohne unsere Gnade nicht wieder aufzustehen vermag.

Der Kampf gegen den Terror

Angst ist es auch, die uns bestimmte Dinge hinnehmen lässt, solange sie nur der Bekämpfung des Feindes dienen. Nur wenig mehr als einen Monat nach den Anschlägen vom elften September verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten den USA PATRIOT ACT. Eine Sammlung von Gesetzen, die massive Einschränkungen der Bürgerrechte ermöglicht. Ohne ein so furchterregendes Feindbild wie „den Terror“, wäre ein solches Instrument kaum vorstellbar gewesen. Die Ereignisse um den elften September wurden also dazu genutzt, der Bevölkerung über die Begründung durch ein Feindbild ein für sie potentiell negatives Gesetz zu präsentieren. Diese Funktion von Feindbildern kann man als „Manipulation“ bezeichnen.

Neben dem bereits oben skizzierten Effekt, dass das Auftreten eines Feindes die eigenen Reihen zu schließen vermag, haben Feindbilder also vor allem drei Funktionen: Vereinfachung, Mobilisierung und Manipulation. Freilich treten sie meist, unterschiedlich stark ausgeprägt, miteinander verknüpft auf.

Wie steht es nun mit unserer eingangs aufgestellten These, dass wir in einer Konsensdemokratie leben, die weitgehend frei ist von ideologischen Grundsatzdebatten, die Feindbilder überhaupt erst zuließen?

Fürwahr, wir leben in einer Gesellschaft, die echte Konflikte nicht liebt. Die innere Einigkeit in einer Partei ist dem Wähler wichtiger als deren inhaltliche Auseinandersetzung mit elementaren Fragen. Abweichler vom gängigen Parteikurs werden schnell ruhiggestellt oder spalten sich ab. Und auch zwischen den Parteien herrscht Konsenszwang: In den zentralen Fragen wie EU, Euro, Atomenergie, Geschlechterpolitik, Bildungs- und Familienpolitik oder Wehrpflicht – die Reihe ließe sich fortsetzen – gibt es keine grundsätzlichen Konflikte, folglich sind hier keine Feindbilder aufzubauen. Wer wollte schon gegen eine Renate Künast debattieren über „Atomenergie als Zukunftsmodell!“ oder gegen eine Claudia Roth zur Frage „Islam in Europa. Wirklich eine Bereicherung?“, gegen einen Wolfgang Schäuble „Deutschland vor Europa!“ fordern oder Gregor Gysi ins Gesicht schmettern „soziale Gerechtigkeit ist eine inhaltsleere Phrase!“?

Ganz Deutschland lebt ohne Feindbilder. Ganz Deutschland? Mit wahrhaft feindseligen Mitteln bekämpft wird nur noch, wer sich anschickt, dem gallischen Dorf nicht unähnlich, elementaren Widerstand zu leisten und weiterhin unbequeme Fragen zu stellen. Eben solche wie die oben skizzierten zum Beispiel. Derjenige also, der es wagt, den Tiefschlaf zu stören, in den unsere harmoniebedürftige Konsensdemokratie versunken ist. Und wer diese Fragen stellt, sie gar öffentlich diskutieren will, dem werden Steine nicht nur in den Weg gelegt, sondern gerne auch in die Fenster geworfen. Dann ist auf einmal keine Verallgemeinerung zu ungenau und keine Zusammenarbeit mit linken Schlägern zu unlauter. Dann werden Veranstaltungsorte aufgekündigt, Kioskbesitzer bedroht, bis diese oder jene Zeitung sich nicht mehr im Sortiment befindet. Erlaubt ist viel. Es geht ja gegen den Feind.

Der Kampf gegen rechts

Das wirksamste Feindbild in unserer Republik ist heute in genauer Umkehrung der 1950er Jahre das, was man in totaler Verkennung politischer Theorie das „Rechte“ nennt. Der „Kampf gegen rechts“, übrigens genauso abstrakt wie der „Krieg gegen den Terror“, ist ein Instrument, dem man sich schwerlich entziehen kann, ohne selbst verdächtig zu werden. Wer bei einer der zahlreichen Veranstaltungen „gegen rechts“ zu fragen wagt, ob dieses reichlich unkonkrete „Rechts“ tatsächlich die größte Bedrohung für unsere Gesellschaft sei, sieht sich schnell dem Verdacht der „Relativierung“ ausgesetzt. Die Schmähvokabeln, die man sich dadurch zuzieht, stellen einem dann unversehens einen moralischen Defekt, wenigstens aber einen intellektuellen Nachteil aus: „Ewiggestrig“, „borniert“, „engstirnig“ und eben nicht „bunt“, „aufgeschlossen“ und „tolerant“. Und damit sind wir zu einer letzten und psychologisch äußerst wirksamen Funktion politischer Feindbilder gelangt: Man kann sich selbst, allein durch das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Richtung, darüber versichern, dass man auf Seiten den Guten, intellektuell Aufgeschlossenen steht, also moralische Überlegenheit besitzt. Und das ist schließlich Balsam für die Seele.


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Gregor Burchardt

geb. 1986, Germanist und Historiker, VDSt Breslau-Bochum.

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