Wodurch entsteht Kriminalität?

Nach medienwirksamen Verbrechen ist die öffentliche Meinung oft mit schnellen Erklärungen bei der Hand. Aber die Ursachen von Kriminalität sind vielfältig und auch im akademischen Diskurs oft umstritten. Ein Überblick von Professor Dieter Hermann.

 

Die Frage nach den Gründen für die Entstehung individueller Kriminalität setzt ein bestimmtes Theorieverständnis voraus. In konstruktivistischen Theorien ist die Einordnung einer Handlung in die Kategorie „Kriminalität“ das Resultat von Interaktionsprozessen. Kriminell ist somit nicht die Eigenschaft einer Handlung, sondern das Resultat eines Etikettierungsprozesses. Die forschungsleitende Frage müsste sinnvollerweise also lauten: Wie und weshalb wird das Etikett „kriminell“ vergeben? Die eingangs gestellte Frage ist deshalb nur in den sogenannten ätiologischen, also ursachengeleiteten Kriminalitätstheorien sinnvoll – diese nehmen an, dass Interaktionen in einem von den Handelnden geteilten System von Symbolen und Bedeutungen vollzogen werden. Es wird postuliert, dass es zwischen den Interaktionspartnern einen kognitiven Konsens über die Bedeutung von Worten, Gesten und Handlungen gibt.

Zudem setzt die Frage nach den Gründen für die Entstehung von individueller Kriminalität eine Variation in kriminellen Aktivitäten voraus. Wenn Kriminalität allgegenwärtig und eine anthropologische Konstante ist, können individuelle und situative, also aus der Situation des Individuums abgeleitete Merkmale keine Ursache von Kriminalität sein. Die Hypothese von der allgegenwärtigen Kriminalität (sog. Ubiquitätshypothese) wird insbesondere für die Jugendkriminalität vertreten. Allerdings müssen auch die Vertreter dieser Hypothese eingestehen, dass Häufigkeit und Schwere erheblich variieren.

Der Faktor Geschlecht

Rein empirisch gesehen findet man statistische Zusammenhänge in Form von Korrelationen zwischen verschiedenen individuellen und situativen Merkmalen einerseits und Kriminalität (Umfang und Schwere) andererseits. Allerdings kann man von einer Korrelation nicht auf Kausalität schließen – dazu wird eine theoretische Erklärung benötigt. Dies wird an Studien zu Geschlechterunterschieden in kriminellen Aktivitäten besonders deutlich. Die niedrigere Kriminalitätsrate von Frauen im Vergleich zu Männern wurde vielfach empirisch belegt, wobei die Geschlechterunterschiede hinsichtlich Gewaltkriminalität und schwerer Kriminalität besonders ausgeprägt sind. So zeigt beispielsweise eine Metaanalyse mehrerer Studien zu nicht in der Kriminalstatistik erfassten Straftafen (sog. Dunkelfeldstudien), dass die mittlere Geschlechterrelation für Raub und Sachbeschädigung ungefähr bei 1:3 liegt und für Körperverletzung etwa bei 1:4; bei leichten Delikten und bei abweichendem Verhalten kann man keine Geschlechterunterschiede erkennen. Auch unter Tatverdächtigen, Verurteilten sowie Inhaftierten findet man das gleiche Bild. Nach den polizeilichen Kriminal- und Justizstatistiken Europas beträgt beispielsweise die durchschnittliche Geschlechterverteilung der Tatverdächtigen bei Körperverletzungsdelikten 1:13. Unter den Verurteilten liegt sie bei 1:14, und im Strafvollzug sind 33mal so viele Männer wie Frauen wegen einer Körperverletzung inhaftiert. Die Geschlechterunterschiede findet man gleichermaßen bei deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen, in allen Altersgruppen sowie in Hell- und Dunkelfeldstudien.

In über einhundert Jahren Forschung zu der Thematik wurden zahlreiche Erklärungsmodelle entwickelt. Insbesondere in älteren biologisch orientierten Arbeiten wurde versucht, die besondere psychophysische Ausstattung des weiblichen Geschlechts zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede heranzuziehen. Außerdem wurde vermutet, dass die geringere Häufigkeit und Schwere weiblicher Kriminalität das Ergebnis einer geschlechtsspezifisch unterschiedlichen und Frauen begünstigenden Kriminalisierung zurückzuführen sei. In neueren Ansätzen wurde postuliert, dass Frauen und Männer sozialisationsbedingt unterschiedliche Rollen hätten und bei der Lösung von Konflikten auf unterschiedliche Lösungsmuster zurückgriffen. Zudem wurde formuliert, dass Frauen und Männer unterschiedliche Moralvorstellungen besäßen; bei Frauen ständen Fürsorge und Hilfsbereitschaft im Vordergrund, bei Männern hingegen Gerechtigkeit. Die Frau sei, weil sie einer Ethik der Fürsorge und Liebe statt einer Ethik der Gerechtigkeit folge, weitgehend unfähig zum Bösen und zur Gewalt. In einem kultursoziologischen Ansatz wurde angenommen, dass Kriminalität durch Wertorientierungen erklärt werden könne. Die Werte eines Individuums seien allgemeine Zielvorstellungen, die einen Einfluss auf Einstellungen und Handeln haben. Frauen und Männer unterschieden sich in der Präferenz von solchen Wertorientierungen, die das Allgemeinwohl zum Gegenstand haben – folglich seien die Geschlechter in unterschiedlichem Ausmaß kriminell. Insbesondere der letztgenannte Ansatz wird in Bezug auf Gewaltkriminalität durch empirische Studien bestätigt: Die Orientierung von Frauen an modernen idealistischen Werten ist ausgeprägter als die von Männern; je bedeutsamer diese Werte sind, desto größer ist die Akzeptanz von Gewalt verbietenden Rechtsnormen, und je größer wiederum die Akzeptanz dieser Norm ist, desto seltener werden Gewaltdelikte verübt.

Der Faktor Alter

Eine weitere empirisch gut abgesicherte Korrelation ist die Beziehung zwischen Alter und Kriminalität. Jugendliche und Heranwachsende weisen – bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil – die stärkste und ältere Menschen sowie Kinder die geringste Straffälligkeitsneigung (im Fachjargon: Delinquenz) auf, so die Ergebnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik.

Diese Art der Altersabhängigkeit der Delinquenz findet man auch in Dunkelfeldstudien und in Untersuchungen aus anderen Ländern. Die eigentlich interessante Frage ist, wie dieser Zusammenhang erklärt werden kann. Auch dazu liegen unterschiedliche Hypothesen vor. Es liege an Entwicklungsproblemen in der Adoleszenzphase, am hohen Stellenwert der Peergroup in diesem Altersabschnitt, an altersabhängigen Gelegenheitsstrukturen oder an der individuellen Werteentwicklung.

Der Faktor Medien

In einigen Ansätzen wird der Medienkonsum als wichtige Ursache von Kriminalität genannt. Aufgrund der großen Anzahl von Veröffentlichungen zur kriminologischen Medienwirkungsforschung liegen bereits Metaanalysen vor, die den Forschungsstand zusammenfassen. Die Metaanalysen belegen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum medialer Gewalt und realem Gewalthandeln. Die zusammengefassten Korrelationen liegen für Befragungsstudien bei etwa 0,2 und für Experimente bei 0,3. In Panelstudien kann gezeigt werden, dass solche Zusammenhänge auch dann vorliegen, wenn die Messung des Medienkonsums zeitlich mehrere Jahre vor der Erfassung der Delinquenz liegt – dies spricht gegen die Hypothese, dass der Zusammenhang zwischen dem Konsum medialer Gewalt und Gewalthandeln lediglich durch einen indirekten Effekt, nämlich eine höhere Präferenz für Gewaltmedien bei aggressiven Personen zu erklären ist. Dieses Ergebnis wird beispielsweise in der Arbeit von Johnson et al. (2002) durch eine Panelstudie über einen Zeitraum von 17 Jahren bestätigt. Zwischen 1975 und 1992 wurden über 700 Personen viermal befragt. Die Analyse zeigte, dass der Fernsehkonsum im Alter von 14 mit der Häufigkeit aggressiver Handlungen im Alter von 16 und 21 korrespondiert. Dieses Ergebnis wurde auch für spätere Lebensabschnitte bestätigt. Diese Assoziationen blieben auch bei einer Kontrolle von anderen Einflussgrößen wie früherem aggressiven Verhalten, Kindervernachlässigung, Familieneinkommen, Nachbarschaftsgewalt, Bildungsstand der Eltern und psychischen Beeinträchtigungen signifikant.

Allerdings kann trotz der großen Anzahl umfangreicher Untersuchungen zu der Thematik eine Scheinkorrelation nicht vollständig ausgeschlossen werden. Es ist denkbar, dass die moralische Entwicklungsstufe, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Wertorientierungen Einfluss auf Medienpräferenzen, Medienkonsum, Aggressivität und Gewaltbereitschaft haben. Auch in diesem Forschungszweig der Kriminologie ist weiterer Forschungsbedarf offensichtlich.

Kosten und Nutzen

Versucht man sich der Frage nach den Gründen für die Entstehung von individueller Kriminalität nicht empirisch, sondern theoretisch zu nähern, wird man mit einer Vielzahl von Ansätzen konfrontiert. Zwei neuere Erklärungsmodelle sind die Kontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi (1990) und die voluntaristische Kriminalitätstheorie von Hermann (2004).

Ausgangspunkt des Ansatzes von Gottfredson und Hirschi ist die Frage nach dem Wesen und der Natur der Kriminalität. Kriminelle Handlungen seien dadurch charakterisiert, dass sie mit geringen kognitiven und manuellen Fähigkeiten durchgeführt werden könnten und eine sofortige und leicht zu erlangende Belohnung versprächen, während das Bestrafungsrisiko tendenziell in ferner Zukunft liege. Aus dieser Phänomenologie der Kriminalität können deren Ursachen abgeleitet werden. Ein rational handelnder Mensch wird Kosten und Nutzen von Handlungen abwägen und deshalb in der Regel nicht kriminell handeln. Werden allerdings von einer Person die kurzfristig zu erreichenden Vorteile überbetont und die langfristig anfallenden Kosten kaum berücksichtigt, sind delinquentes Handeln und auch andere Formen abweichenden Verhaltens wahrscheinlicher als bei einer Person mit realistischer Nutzeneinschätzung. Die Fähigkeit, auch langfristige Kostenaspekte in Überlegungen einzubeziehen, wird als „Selbstkontrolle“ bezeichnet. Die Ausbildung dieser Selbstkontrolle geschieht weitgehend in der Familie und ist auf die ersten sechs bis acht Lebensjahre konzentriert, so Gottfredson und Hirschi. Eine unzureichende Beaufsichtigung der Kinder, das Nichterkennen von normabweichendem Verhalten und die fehlende Bestrafung führten letztlich zu Defiziten in der Selbstkontrolle. Dieser Ansatz wurde empirisch vielfach überprüft und in der Regel nicht falsifiziert. So ergab beispielsweise die Metaanalyse von 21 empirischen Studien zur Kontrolltheorie durch Pratt und Cullen (2000) eine mittlere Effektstärke von 0,27 für den Einfluss von Selbstkontrolle auf Delinquenz. Dieser Wert entspricht einer Korrelation von 0,13.

Normen und Werte

Die mikrosoziologischen Aspekte der voluntaristischen Kriminalitätstheorie basieren auf der Handlungstheorie von Parsons. Demnach sind Normen und Werte zentrale Kategorien zur Erklärung menschlichen Handelns. (Die Begriffe sind nicht redundant, Werte sind zentrale und abstrakte Zielvorstellungen und Lebensprinzipien, Normen dagegen Verhaltensvorschriften und Verhaltenserwartungen.) Der Mensch wird als produktiv-realitätsverarbeitendes Subjekt gesehen, das in eine komplexe Umwelt eingebunden ist. Zur Reduzierung der Komplexität, zur Verarbeitung der Informationen und zur Auswahl von subjektiv Wichtigem werden seitens der Akteure Normen und Werte verwendet. Diese Selektionsinstrumente beeinflussen das Ergebnis der Informationsverarbeitung sowie die Auswahl von Handlungszielen und von Mitteln zur Zielerreichung: Durch Werte können wichtige von unwichtigen Handlungszielen unterschieden und durch Normen können akzeptierte von nicht akzeptierten Handlungsmitteln abgegrenzt werden. Jede Handlung – und somit auch die kriminelle Handlung – ist demnach das Ergebnis der Wahrnehmung der Situation sowie der Auswahl von Handlungszielen und Handlungsmitteln, und auf allen Ebenen sind Werte und Normen von Bedeutung.

In empirischen Studien haben sich vor allem christlich-religiöse und leistungsbezogene sowie idealistische Werte als empirisch relevante, die Kriminalitätsneigung mindernde Faktoren erwiesen, während eine Kombination von materialistischen, hedonistischen und subkulturellen Werten den gegenteiligen Effekt hat. Die erstgenannten Werte stehen mit höherer Normakzeptanz im Zusammenhang, der zuletzt aufgeführte Wertekomplex korrespondiert mit niedrigerer Normakzeptanz. Je höher die Normakzeptanz, desto niedriger ist das Niveau der selbstberichteten Kriminalität. Die erklärten Varianzen für Normakzeptanz und Kriminalität liegen bei über 80 Prozent. Bisher konnte diese Theorie bei Untersuchungen verschiedener Bevölkerungsgruppen nicht falsifiziert werden.

Zu der Frage nach den Ursachen für die Entstehung von individueller Kriminalität liegen viele Antworten vor – auf eine universal gültige Antwort zu allen Fragen dieses Themenfeldes kann jedoch kaum gehofft werden, denn menschliches Handeln ist höchst komplex.

 

Zum Weiterlesen

Gottfredson, M. R. & Hirschi, T. (1990). A general theory of crime.

Hermann, D. (2003). Werte und Kriminalität. Konzeption einer allgemeinen Kriminalitätstheorie.

Johnson, J. G., Cohen, P., Smailes, E. M., Kasen, S. & Brook, J. (2002). Television viewing and aggressive behavior during adolescence and adulthood. Science 295, S. 2468-2471.

Pratt, T. C., & Cullen, F. T. (2000). The empirical status of Gottfredson and Hirschi’s general theory of crime: A meta-analysis. Criminology 38, S. 931-964.


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Die Frage nach den Gründen für die Entstehung individueller Kriminalität setzt ein bestimmtes Theorieverständnis voraus. In konstruktivistischen Theorien ist die Einordnung einer Handlung in die Kategorie „Kriminalität“ das Resultat von Interaktionsprozessen. Kriminell ist somit nicht die Eigenschaft einer Handlung, sondern das Resultat eines Etikettierungsprozesses. Die forschungsleitende Frage müsste sinnvollerweise also lauten: Wie und weshalb wird das Etikett „kriminell“ vergeben? Die eingangs gestellte Frage ist deshalb nur in den sogenannten ätiologischen, also ursachengeleiteten Kriminalitätstheorien sinnvoll – diese nehmen an, dass Interaktionen in einem von den Handelnden geteilten System von Symbolen und Bedeutungen vollzogen werden. Es wird postuliert, dass es zwischen den Interaktionspartnern einen kognitiven Konsens über die Bedeutung von Worten, Gesten und Handlungen gibt.

Zudem setzt die Frage nach den Gründen für die Entstehung von individueller Kriminalität eine Variation in kriminellen Aktivitäten voraus. Wenn Kriminalität allgegenwärtig und eine anthropologische Konstante ist, können individuelle und situative, also aus der Situation des Individuums abgeleitete Merkmale keine Ursache von Kriminalität sein. Die Hypothese von der allgegenwärtigen Kriminalität (sog. Ubiquitätshypothese) wird insbesondere für die Jugendkriminalität vertreten. Allerdings müssen auch die Vertreter dieser Hypothese eingestehen, dass Häufigkeit und Schwere erheblich variieren.

Der Faktor Geschlecht

Rein empirisch gesehen findet man statistische Zusammenhänge in Form von Korrelationen zwischen verschiedenen individuellen und situativen Merkmalen einerseits und Kriminalität (Umfang und Schwere) andererseits. Allerdings kann man von einer Korrelation nicht auf Kausalität schließen – dazu wird eine theoretische Erklärung benötigt. Dies wird an Studien zu Geschlechterunterschieden in kriminellen Aktivitäten besonders deutlich. Die niedrigere Kriminalitätsrate von Frauen im Vergleich zu Männern wurde vielfach empirisch belegt, wobei die Geschlechterunterschiede hinsichtlich Gewaltkriminalität und schwerer Kriminalität besonders ausgeprägt sind. So zeigt beispielsweise eine Metaanalyse mehrerer Studien zu nicht in der Kriminalstatistik erfassten Straftafen (sog. Dunkelfeldstudien), dass die mittlere Geschlechterrelation für Raub und Sachbeschädigung ungefähr bei 1:3 liegt und für Körperverletzung etwa bei 1:4; bei leichten Delikten und bei abweichendem Verhalten kann man keine Geschlechterunterschiede erkennen. Auch unter Tatverdächtigen, Verurteilten sowie Inhaftierten findet man das gleiche Bild. Nach den polizeilichen Kriminal- und Justizstatistiken Europas beträgt beispielsweise die durchschnittliche Geschlechterverteilung der Tatverdächtigen bei Körperverletzungsdelikten 1:13. Unter den Verurteilten liegt sie bei 1:14, und im Strafvollzug sind 33mal so viele Männer wie Frauen wegen einer Körperverletzung inhaftiert. Die Geschlechterunterschiede findet man gleichermaßen bei deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen, in allen Altersgruppen sowie in Hell- und Dunkelfeldstudien.

In über einhundert Jahren Forschung zu der Thematik wurden zahlreiche Erklärungsmodelle entwickelt. Insbesondere in älteren biologisch orientierten Arbeiten wurde versucht, die besondere psychophysische Ausstattung des weiblichen Geschlechts zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede heranzuziehen. Außerdem wurde vermutet, dass die geringere Häufigkeit und Schwere weiblicher Kriminalität das Ergebnis einer geschlechtsspezifisch unterschiedlichen und Frauen begünstigenden Kriminalisierung zurückzuführen sei. In neueren Ansätzen wurde postuliert, dass Frauen und Männer sozialisationsbedingt unterschiedliche Rollen hätten und bei der Lösung von Konflikten auf unterschiedliche Lösungsmuster zurückgriffen. Zudem wurde formuliert, dass Frauen und Männer unterschiedliche Moralvorstellungen besäßen; bei Frauen ständen Fürsorge und Hilfsbereitschaft im Vordergrund, bei Männern hingegen Gerechtigkeit. Die Frau sei, weil sie einer Ethik der Fürsorge und Liebe statt einer Ethik der Gerechtigkeit folge, weitgehend unfähig zum Bösen und zur Gewalt. In einem kultursoziologischen Ansatz wurde angenommen, dass Kriminalität durch Wertorientierungen erklärt werden könne. Die Werte eines Individuums seien allgemeine Zielvorstellungen, die einen Einfluss auf Einstellungen und Handeln haben. Frauen und Männer unterschieden sich in der Präferenz von solchen Wertorientierungen, die das Allgemeinwohl zum Gegenstand haben – folglich seien die Geschlechter in unterschiedlichem Ausmaß kriminell. Insbesondere der letztgenannte Ansatz wird in Bezug auf Gewaltkriminalität durch empirische Studien bestätigt: Die Orientierung von Frauen an modernen idealistischen Werten ist ausgeprägter als die von Männern; je bedeutsamer diese Werte sind, desto größer ist die Akzeptanz von Gewalt verbietenden Rechtsnormen, und je größer wiederum die Akzeptanz dieser Norm ist, desto seltener werden Gewaltdelikte verübt.

Der Faktor Alter

Eine weitere empirisch gut abgesicherte Korrelation ist die Beziehung zwischen Alter und Kriminalität. Jugendliche und Heranwachsende weisen – bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil – die stärkste und ältere Menschen sowie Kinder die geringste Straffälligkeitsneigung (im Fachjargon: Delinquenz) auf, so die Ergebnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik.

Diese Art der Altersabhängigkeit der Delinquenz findet man auch in Dunkelfeldstudien und in Untersuchungen aus anderen Ländern. Die eigentlich interessante Frage ist, wie dieser Zusammenhang erklärt werden kann. Auch dazu liegen unterschiedliche Hypothesen vor. Es liege an Entwicklungsproblemen in der Adoleszenzphase, am hohen Stellenwert der Peergroup in diesem Altersabschnitt, an altersabhängigen Gelegenheitsstrukturen oder an der individuellen Werteentwicklung.

Der Faktor Medien

In einigen Ansätzen wird der Medienkonsum als wichtige Ursache von Kriminalität genannt. Aufgrund der großen Anzahl von Veröffentlichungen zur kriminologischen Medienwirkungsforschung liegen bereits Metaanalysen vor, die den Forschungsstand zusammenfassen. Die Metaanalysen belegen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum medialer Gewalt und realem Gewalthandeln. Die zusammengefassten Korrelationen liegen für Befragungsstudien bei etwa 0,2 und für Experimente bei 0,3. In Panelstudien kann gezeigt werden, dass solche Zusammenhänge auch dann vorliegen, wenn die Messung des Medienkonsums zeitlich mehrere Jahre vor der Erfassung der Delinquenz liegt – dies spricht gegen die Hypothese, dass der Zusammenhang zwischen dem Konsum medialer Gewalt und Gewalthandeln lediglich durch einen indirekten Effekt, nämlich eine höhere Präferenz für Gewaltmedien bei aggressiven Personen zu erklären ist. Dieses Ergebnis wird beispielsweise in der Arbeit von Johnson et al. (2002) durch eine Panelstudie über einen Zeitraum von 17 Jahren bestätigt. Zwischen 1975 und 1992 wurden über 700 Personen viermal befragt. Die Analyse zeigte, dass der Fernsehkonsum im Alter von 14 mit der Häufigkeit aggressiver Handlungen im Alter von 16 und 21 korrespondiert. Dieses Ergebnis wurde auch für spätere Lebensabschnitte bestätigt. Diese Assoziationen blieben auch bei einer Kontrolle von anderen Einflussgrößen wie früherem aggressiven Verhalten, Kindervernachlässigung, Familieneinkommen, Nachbarschaftsgewalt, Bildungsstand der Eltern und psychischen Beeinträchtigungen signifikant.

Allerdings kann trotz der großen Anzahl umfangreicher Untersuchungen zu der Thematik eine Scheinkorrelation nicht vollständig ausgeschlossen werden. Es ist denkbar, dass die moralische Entwicklungsstufe, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Wertorientierungen Einfluss auf Medienpräferenzen, Medienkonsum, Aggressivität und Gewaltbereitschaft haben. Auch in diesem Forschungszweig der Kriminologie ist weiterer Forschungsbedarf offensichtlich.

Kosten und Nutzen

Versucht man sich der Frage nach den Gründen für die Entstehung von individueller Kriminalität nicht empirisch, sondern theoretisch zu nähern, wird man mit einer Vielzahl von Ansätzen konfrontiert. Zwei neuere Erklärungsmodelle sind die Kontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi (1990) und die voluntaristische Kriminalitätstheorie von Hermann (2004).

Ausgangspunkt des Ansatzes von Gottfredson und Hirschi ist die Frage nach dem Wesen und der Natur der Kriminalität. Kriminelle Handlungen seien dadurch charakterisiert, dass sie mit geringen kognitiven und manuellen Fähigkeiten durchgeführt werden könnten und eine sofortige und leicht zu erlangende Belohnung versprächen, während das Bestrafungsrisiko tendenziell in ferner Zukunft liege. Aus dieser Phänomenologie der Kriminalität können deren Ursachen abgeleitet werden. Ein rational handelnder Mensch wird Kosten und Nutzen von Handlungen abwägen und deshalb in der Regel nicht kriminell handeln. Werden allerdings von einer Person die kurzfristig zu erreichenden Vorteile überbetont und die langfristig anfallenden Kosten kaum berücksichtigt, sind delinquentes Handeln und auch andere Formen abweichenden Verhaltens wahrscheinlicher als bei einer Person mit realistischer Nutzeneinschätzung. Die Fähigkeit, auch langfristige Kostenaspekte in Überlegungen einzubeziehen, wird als „Selbstkontrolle“ bezeichnet. Die Ausbildung dieser Selbstkontrolle geschieht weitgehend in der Familie und ist auf die ersten sechs bis acht Lebensjahre konzentriert, so Gottfredson und Hirschi. Eine unzureichende Beaufsichtigung der Kinder, das Nichterkennen von normabweichendem Verhalten und die fehlende Bestrafung führten letztlich zu Defiziten in der Selbstkontrolle. Dieser Ansatz wurde empirisch vielfach überprüft und in der Regel nicht falsifiziert. So ergab beispielsweise die Metaanalyse von 21 empirischen Studien zur Kontrolltheorie durch Pratt und Cullen (2000) eine mittlere Effektstärke von 0,27 für den Einfluss von Selbstkontrolle auf Delinquenz. Dieser Wert entspricht einer Korrelation von 0,13.

Normen und Werte

Die mikrosoziologischen Aspekte der voluntaristischen Kriminalitätstheorie basieren auf der Handlungstheorie von Parsons. Demnach sind Normen und Werte zentrale Kategorien zur Erklärung menschlichen Handelns. (Die Begriffe sind nicht redundant, Werte sind zentrale und abstrakte Zielvorstellungen und Lebensprinzipien, Normen dagegen Verhaltensvorschriften und Verhaltenserwartungen.) Der Mensch wird als produktiv-realitätsverarbeitendes Subjekt gesehen, das in eine komplexe Umwelt eingebunden ist. Zur Reduzierung der Komplexität, zur Verarbeitung der Informationen und zur Auswahl von subjektiv Wichtigem werden seitens der Akteure Normen und Werte verwendet. Diese Selektionsinstrumente beeinflussen das Ergebnis der Informationsverarbeitung sowie die Auswahl von Handlungszielen und von Mitteln zur Zielerreichung: Durch Werte können wichtige von unwichtigen Handlungszielen unterschieden und durch Normen können akzeptierte von nicht akzeptierten Handlungsmitteln abgegrenzt werden. Jede Handlung – und somit auch die kriminelle Handlung – ist demnach das Ergebnis der Wahrnehmung der Situation sowie der Auswahl von Handlungszielen und Handlungsmitteln, und auf allen Ebenen sind Werte und Normen von Bedeutung.

In empirischen Studien haben sich vor allem christlich-religiöse und leistungsbezogene sowie idealistische Werte als empirisch relevante, die Kriminalitätsneigung mindernde Faktoren erwiesen, während eine Kombination von materialistischen, hedonistischen und subkulturellen Werten den gegenteiligen Effekt hat. Die erstgenannten Werte stehen mit höherer Normakzeptanz im Zusammenhang, der zuletzt aufgeführte Wertekomplex korrespondiert mit niedrigerer Normakzeptanz. Je höher die Normakzeptanz, desto niedriger ist das Niveau der selbstberichteten Kriminalität. Die erklärten Varianzen für Normakzeptanz und Kriminalität liegen bei über 80 Prozent. Bisher konnte diese Theorie bei Untersuchungen verschiedener Bevölkerungsgruppen nicht falsifiziert werden.

Zu der Frage nach den Ursachen für die Entstehung von individueller Kriminalität liegen viele Antworten vor – auf eine universal gültige Antwort zu allen Fragen dieses Themenfeldes kann jedoch kaum gehofft werden, denn menschliches Handeln ist höchst komplex.

 

Zum Weiterlesen

Gottfredson, M. R. & Hirschi, T. (1990). A general theory of crime.

Hermann, D. (2003). Werte und Kriminalität. Konzeption einer allgemeinen Kriminalitätstheorie.

Johnson, J. G., Cohen, P., Smailes, E. M., Kasen, S. & Brook, J. (2002). Television viewing and aggressive behavior during adolescence and adulthood. Science 295, S. 2468-2471.

Pratt, T. C., & Cullen, F. T. (2000). The empirical status of Gottfredson and Hirschi’s general theory of crime: A meta-analysis. Criminology 38, S. 931-964.


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Dieter Hermann

geb. 1951, Professor für Soziologie und Kriminologie.

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