Als die Welt noch in Ordnung war

Vor einhundert Jahren starb der Prinzregent Luitpold. Sein Tod markiert das Ende einer der glücklichsten Epochen der bayerischen Geschichte.


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Prinzregent_Luitpold„München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunst des ersten schönen Junitages.“ So eröffnet der Wahlmünchener Thomas Mann seine Erzählung Gladius Dei. Nicht ganz frei von Ironie ob der gewollten Künstlichkeit der in Bayerns Hauptstadt angebrochenen Kulturblüte; aber doch auch ehrlich entzückt von der Farbenpracht, die sich dort darbietet. „Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft, die Kunst streckt ihr rosenumwundenes Zepter über die Stadt hin und lächelt.“

Die Stadt, München im ausklingenden neunzehnten, beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, ist in der Tat ein bedeutendes Kunst- und Kulturzentrum geworden, nächst Berlin das zweite im Deutschen Reich. Und sie, und mit ihr Bayern, hat ein Gesicht: das des kunstsinnigen, altväterlichen Herrschers, Prinzregent Luitpold. Hochverehrt, sind mehr Bauwerke und Errungenschaften nach ihm benannt als nach jedem anderen Wittelsbacher. In München kann man ihm kaum aus dem Wege gehen: Luitpoldpark, Prinzregentenbrücke,  Prinzregententheater; Prinzregententorte. Doch auch außerhalb der Hauptstadt ist er verewigt mit zahllosen Straßen, Plätzen, Schulen, Parks und Höhen – bis hin zum Prinzregent-Luitpold-Land in der Antarktis. So dass, wenn man heute das Allerweltswort Prinzregent in die Suchmaschine Google eingibt, unter den ersten zwanzig der eine Million Treffer mehr als drei Viertel auf Luitpold zurückführen.

Das Amt

Doch: Was ist das eigentlich, ein Prinzregent? Unserer monarchieentwöhnten Jugend muss man es erklären. Wenn sie ihren Tolkien gelesen hat, kennt sie das Motiv des herrschenden Truchsessen, der regiert wie ein König, aber keiner ist, und symbolisch erniedrigt auf einem einfachen Stuhl sitzt zu Füßen des leeren Königsthrons. Das liegt nahe daran. Was geschieht in einer Monarchie, wenn sie keinen König mehr hat, oder der König noch zu jung zum Herrschen ist oder dauerhaft zu krank dafür? Man setzt einen Statthalter ein, „Reichsverweser“ in einem schönen altdeutschen Wort, oder eben einen „Regenten“. Der Regent führt keinen Königstitel, auch nicht vorübergehend; es gibt keinen „amtierenden König“, König ist man und bleibt es bis zum Lebensende. (Darum gibt es im republikanischen Äquivalent auch keinen „amtierenden Bundespräsidenten“ und war jene damals häufig gebrauchte Wendung völlig fehl am Platz, als Bundesratspräsident Seehofer Anfang des Jahres interimistisch die Aufgaben des Staatsoberhauptes wahrnahm.)

Luitpold war Regent; zugleich aber auch Mitglied des Königshauses, Sohn eines Königs und Bruder eines Königs; darum Prinz-Regent. Dies war der gewöhnliche Weg in Europas Königsfamilien, auch Wilhelm von Preußen war einige Jahre Prinzregent gewesen anstelle seines regierungsuntüchtig gewordenen Bruders, bevor er König und später Kaiser wurde.

Gewöhnlich waren die Anfänge von Luitpolds Regentschaft nun eben nicht. Der 1886 entmündigte König Ludwig II., an dessen Stelle er fürderhin hatte herrschen sollen, starb nach nur drei Tagen unter bis heute nicht gänzlich geklärten Umständen im Starnberger See. Mordgerüchte gingen um und betrafen, verbunden mit einem angeblichen Brief des Königs, in dem er seinen Onkel des Hochverrats und der Usurpation bezichtigte, auch Luitpold persönlich. Im Volk rumorte es. Wenn Luitpold in den folgenden sechsundzwanzig Jahren, in denen er auch für Ludwigs schwermütigen Bruder Otto die Regentschaft übernahm, nie ernstlich erwog, selbst die Königswürde anzunehmen, so liegt neben seinen streng legitimistischen Ansichten in diesem Trauma des Anfangs sicherlich der Grund.

Der Mann

Was tun ob der Gerüchte, welchen man bei denen, die sie zu glauben entschlossen waren, auch mit gründlicher Kriminalistik nicht abhelfen konnte? Luitpold wurde offensiv, reiste viel und zeigte sich; was der exzentrische Ludwig nur selten und zuletzt gar nicht mehr getan hatte. Um den Prinzregenten wurde eine aktive und sehr erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit entfaltet, mit den Mitteln, die damals möglich waren: den Regenten selbst so oft wie möglich und auch in den fernsten Winkeln des Königreichs zu zeigen, Zeitungsartikel zu lancieren und Prinzregentengrußkarten zu vermarkten, die oft rührselige Szenen zeigten, etwa wie der tierliebe Luitpold einige Schwäne fütterte, und seine bescheidene Volkstümlichkeit bewusst zelebrierten. Man liest gelegentlich, der Kaiser Wilhelm sei das Musterbild des modernen Repräsentationsmonarchen gewesen. Reisefreudig, publikumswirksam, immer auf den guten Auftritt bedacht, um die Macht der Bilder wissend. Gewiss, das alles war er; doch er schwätzte zuviel. Luitpold tat dies nicht, das Übrige wohl. Weshalb das Wort auf ihn besser passt.

Freilich war er schon zu Beginn der Regentschaft recht bekannt gewesen; da war er fünfundsechzig Jahre alt. Er wird 1821 im neubayerischen Würzburg als dritter Sohn des Kronprinzen geboren, ohne viel Aussicht, dass er jemals den Thron erklimmen würde. Wie für nachgeborene Prinzen üblich, absolviert er eine lange Militärkarriere; lediglich die Waffengattung ist etwas ungewöhnlich, Hochadelige sind selten bei der Artillerie. Luitpold fühlt sich wohl dort, gerade auch unter den einfachen Soldaten. Er lebt bescheiden und spendet einen großen Teil seiner Einkünfte für die Armen, ist sehr naturverbunden, schwimmt gerne und geht bis ins hohe Alter häufig auf die Jagd, weswegen man ihn in  vielen Orten des Königreichs unter den Jägern kennt. Er heiratet früh, habsburgisch, wie häufig bei den Wittelsbachern; die glückliche Ehe mit Auguste Ferdinande bringt vier Kinder hervor. Mit der Politik nimmt Luitpold nur allmählich Fühlung auf. Als Prinz ist er Mitglied der Kammer der Reichsräte, der ersten Parlamentskammer in der konstitutionellen bayerischen Monarchie. 1866 noch Divisionskommandeur im Krieg gegen Preußen, vertritt er 1870 anstelle des unwilligen Königs Bayern im Großen Hauptquartier im gemeinsamen Krieg gegen Frankreich. Er überbringt den berühmten Kaiserbrief an Wilhelm I. und vertritt seinen König auch immer häufiger bei offiziellen Anlässen, da Ludwig sich mehr und mehr in die Märchenwelt seiner Schlösser zurückzieht.

Die Zeit

Das Bayern, das Luitpold ab 1886 regiert, ist nicht mehr das Bayern seiner Jugend. 1871 Teil des Deutschen Kaiserreichs geworden, ist es nur noch ein teilsouveräner Staat. Obwohl es von den Bismarck abgehandelten Reservatrechten ausgiebigen Gebrauch macht, etwa eigene Gesandtschaften im europäischen Ausland unterhält, ist es doch unverkennbar nun Teil eines größeren Ganzen. Manches von dem Ruf der guten, alten Zeit, die jenen Jahrzehnten vorauseilt, hängt gewiss auch damit zusammen, dass die ganz große, schwierige Politik nun in Berlin gemacht und deren Fehler auch Berlin angelastet werden; nicht dem Regenten in München.

Freilich war die Außenpolitik Bayerns schon seit der Erhebung zum Königreich eher vorsichtig-defensiv gewesen, bedingt durch die Notwendigkeit der inneren Konsolidierung nach den napoleonischen Erwerbungen in Franken und Schwaben und durch die fragile Mittelstellung zwischen mehreren Großmächten. „Das Bayern des Dreißigjährigen Krieges“, vergleicht der Historiker Golo Mann, „war ein echtes, wenn auch beengtes politisches Willenszentrum, zwischen den europäischen Mächten mit Umsicht und blutigem Ernst manövrierend. Seit Napoleon, vergrößert durch unzählige Reichssplitter, war es ein Gut-Wetter-Staat; es konnte sich nie wieder in schlechtes wagen, sich selber nicht mehr auf die Probe stellen. So ist es bis auf unsere Tage geblieben.“

Insofern ist es kein scharfer Bruch, dass Luitpold eine eigene Außenpolitik kaum mehr betrieb. Aber auch auf innenpolitischem Gebiet entwickelte er nur wenige Initiativen und verhielt sich im wesentlichen unpolitisch. Wo sein Vater, der große König Ludwig I., noch stolz gesagt hatte: „Ich brauche gar keine Minister. Ich bin mein Minister, die Minister sind meine Schreiber“, ließ der Prinzregent sein Ministerium weitgehend gewähren. Die deutschen konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts sind ja alle gekennzeichnet durch wechselnde Gewichte im Dreieck zwischen Monarch, Regierung und Parlament, wobei die bayerischen Ministerien in der Regel eher fortschrittlich-nationalliberal geprägt waren, stärker als die Herrscher, stärker auch als die Parlamente und die Mehrheit des Volkes. Aber eine Allianz mit der katholisch-konservativen Abgeordnetenkammer hätte Luitpold in die Nähe eines parlamentarischen Regierungssystems gebracht, was ihm klärlich widerstrebte. Gelegentlich musste ein Minister ausgewechselt werden; ansonsten blieb der Prinzregent auf der politischen Reservebank. Immerhin wurde ganz gegen Ende, 1912, mit dem Grafen Hertling ein Vertreter der Landstagsmehrheit zu Luitpolds Erstem Minister.

Im übrigen aber beschränkte sich der Regent auf die Repräsentation und zum Wohle Bayerns auf seine Freude an der Förderung der schönen Künste. Wobei er, anders als die Könige zuvor, recht wenig an Bauten und an der Musik interessiert war und sich mehr den Malern und Bildhauern zuwandte. Er ließ viele Gemälde ankaufen, saß selbst oft geduldig Modell, lud auch noch recht junge und unbekannte Künstler an den Hof oder besuchte sie – oft unangekündigt –  in ihren Ateliers. Dabei ließ er recht viel Toleranz walten und förderte auch die moderne Malerei, weit jenseits seines eigenen Geschmacks, bis hin zu recht freizügigen Darstellungen. (Auch davon findet man eine Spur in Thomas Manns Gladius Dei.) So dass sich die bayerischen Städte, aber vor allem München zu wichtigeren Kulturzentren entwickelten als zuvor und ein sehr freier Geist dort herrschte. In Benno Hubensteiners Bayerischer Geschichte kann man nachlesen: „Die Tore standen weit offen, und niemand wurde ausgesperrt. Es war die Zeit, wo Ibsen und Lenin, Stefan George und Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind und Max Halbe, Thomas Mann und Otto Julius Birnbaum, Paul Klee und Wassily Kandinski in München lebten, wo Schwabing seinen schillernden Ruf begründete. Schwabing, das behäbige Bauerndorf draußen vor dem Siegestor, hingelagert um das Nikolai-Kirchlein und das Biederstein-Schlößchen, wurde mit einem Male zu einem Stück Großstadt mit langweiligen Straßen und öden Mietskasernen, zu einem Bohème-Viertel mit Ateliers und Literatur-Cafés, Geniebetrieben, Malweibern und weltanschaulichen Radikalisten.“

Goldener Oktober

Angesichts der dann folgenden Jahrzehnte neigt man in Bayern noch heute dazu, die Prinzregentenjahre als die gute, alte Zeit zu sehen, den goldenen Oktober, dem ein bitterer Winter folgte. Das ist natürlich; nostalgische Verklärung ist das Privileg der Konservativen, wie verwegene Träume das Vorrecht der Progressivisten sind. Die Vergangenheit war nie so gut wie die Erinnerung sie macht; die Zukunft wird nie so schön, als wenn die Blütenträume reiften. Im Rückblick erscheint vieles milder.

Vieles war aber auch milder als anderswo. Gewiss war der Oktober nicht golden für alle. Armut gab es im damaligen Bayern und Klassenkampf und manche Ungerechtigkeit. München erlitt das Schicksal aller Großstädte, als sich seine Einwohnerzahl in wenigen Jahrzehnten mehr als verdoppelte: Es wurde anonymer und hässlicher. Aber es ging doch gemächlicher zu mit der Industrialisierung in Bayern als an Rhein und Ruhr. Die Einkommensunterschiede und sozialen Verwerfungen waren weniger groß; Kulturkampf und Säkularisierung mit einem katholischen Herrscherhaus weniger vergiftet; die Klassengegensätze ohne die säbelrasselnde Rhetorik wie in Berlin weniger heftig. Und schon die Zeitgenossen hatten den Eindruck, in einer glücklichen Zeit zu leben, in der der Fortschritt herrschte. Mit alldem verband sich freilich die Ahnung, die damals in Europa eine allgemeine war, dass das Glück nicht werde dauern können. Und es ist viel bittere Ironie darin, dass ausgerechnet Luitpolds München nur zehn Jahre nach des Prinzregenten Tod Heimstatt werden sollte für die Nazibrut.

Die Geschichte kennt zuzeiten die Gnade der späten Geburt; sie kennt auch die Gnade des frühen Todes. Die letzte Krise und den Untergang der bayerischen Monarchie musste Luitpold nicht mehr erleben. Die erlebte sein Sohn, der ihm 1912 nachfolgte, zunächst als Prinzregent, dann, unter dem Namen Ludwig III., als vorerst letzter König von Bayern.


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