Also sprach Zarathustra

Von Nietzsche heißt es, er war mehr philosophischer Schriftsteller als akademischer Philosoph. Dies trifft insbesondere auf den „Zarathustra“ zu. Die in dichterischer Sprache vorgetragenen Lehren vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkunft des Gleichen und vom Willen zur Macht sind aufrüttelnd und provozierend, manchmal aber auch verstörend.


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zarathustra

Das Etikett „umstritten“, das heute jeder umgehängt bekommt, der nach Meinung bestimmter Leute gewisse rote Linien überschreitet, wäre für Nietzsche viel zu harmlos. Nietzsche ist „Dynamit“. Keiner hat sich so leidenschaftlich und rücksichtslos, aber stets mit immenser geistiger Kraftentfaltung in das politisch-ideologische Schlachtengetümmel seiner (und unserer) Zeit hineinbegeben wie er. So verwundert es nicht, dass wir ebenso glühende Bewunderer seiner einzigartigen Genialität wie hasserfüllte Verächter vorfinden. Wer so viele Emotionen hervorgerufen hat, muss Wichtiges, Aufrüttelndes, Provozierendes und Zeitloses verkündet haben. Nietzsche hat in der Tat Fragen aufgeworfen, Tabus gebrochen und fundamentale Richtungsänderungen vorgetragen, die Generationen erregten und immer noch erregen.

Seine Attacken entsprangen jedoch nicht purer Streitlust, obwohl es Nietzsche daran nicht ermangelte, sondern der Sorge um die Menschheit – eine philosophische Gipfelbesteigung! Statt sich lediglich über diese Angriffe zu empören, würde ich mir nach heutigen Erfahrungen eine heiße Diskussion darüber wünschen, ob Nietzsche mit seinen Zeitdia-gnosen im Grunde recht hatte oder nicht. Da die wichtigen politischen und gesellschaftlichen Grundthemen, über die einst heftig gestritten wurde, heute dogmatisch als endgültig geklärt behandelt werden, bleibt dieser Wunsch vorerst wohl noch eine Illusion.

Nietzsches Kampfansage gipfelt im „Zarathustra“, seinem Hauptwerk. Darin führt er uns mit hoher Emphase die Gefahren vor, die seines Erachtens die neuzeitlichen Umwälzungen mit sich bringen. Nietzsche wird damit zu einem der fundamentalsten Kritiker der Moderne und gleichzeitig einem ihrer bestgehassten.

Er, der seinem kranken Leben gewaltige Leistungen abtrotzte, schuf eine revolutionierende und konsternierende neue Menschensicht. Er erbarmte sich nicht vorrangig der mitleiderregenden Schwächen und Nöte des Menschen, sondern pries im „Zarathustra“ seine Stärken und appellierte an die Kraft der Überwindung. Dies empfanden schon viele seiner Zeitgenossen (für einen Pfarrersohn!) als empörend provozierend, irritierend – aber anderer-seits auch faszinierend und anregend. Heute ist die Botschaft von Nietzsches „Zarathustra“ erst recht politisch, moralisch und religiös völlig unkorrekt. Immerhin: Nietzsche hat Wellen geschlagen, die auch nach hundert Jahren noch nicht ganz abgeebbt sind.

„Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe!“

Die editorische Behandlung und Misshandlung seines Nachlasses reicht von den ersten fragmentarischen Veröffentlichungen ab 1906 durch Elisabeth Förster-Nietzsche und später Peter Gast bis zur heute wissenschaftlich anerkannten 15bändigen KSA (Kritische Studienausgabe) ab 1967 ff., herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.

Ursprünglich bezeichnete Nietzsche den „Zarathustra“ als sein krönendes Hauptwerk, vergab aber diese Herausstellung anschließend an sein unvollendetes Buch „Der Wille zur Macht“. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts erschien es auf dem Büchermarkt. In der KSA ist es dagegen in mehreren der insgesamt 7 Nachlassbände verteilt. Eine Fundgrube für Wissenschaftler. Für Laien dagegen nur schwer erschließbar. Und damit praktisch unkenntlich gemacht. Dabei wird mit diesem letzten großen Werk der „Zarathustra“ gewissermaßen fortgeführt:

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: Die Heraufkunft des Nihilismus.“

„Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ‚Wozu’?“

Wo ist dieses Streben nach Wahrheit und Tiefe geblieben?

Bereits auf den ersten 15 Seiten werden die Fronten klar abgesteckt: hier der „Übermensch“, dort der „letzte Mensch“. Gleich zu Beginn hämmert Zarathustra den Zuhörern seine „Glaubenslehre“ wie mit Paukenschlägen ein:

„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll“ – Diese Worte könnte man dem ganzen Werk als Motto und Leitmotiv voranstellen.

„Der Übermensch ist der Sinn der Erde … Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden …
Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen überwinden?

Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Mensch – ein Seil über einem Abgrund.

Ich sage euch, man muß noch Chaos in sich haben um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“

Mit schonungsloser Schärfe seziert Nietzsche den heutigen (modernen) Menschen:

„Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichen Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.

Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht.

Ein wenig Gift ab und zu. Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt zu einem angenehmen Sterben.

Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung …; beides ist zu beschwerlich. Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich.

Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.

Kein Hirt und keine Herde! Jeder will das gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt geht freiwillig ins Irrenhaus.

‚Wir haben das Glück gefunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Nicht dem letzten, nihilistischen, armseligen Menschen, der Gott getötet hat, sondern dem Überwinder sollte also die Zukunft gehören. Für Heutige zweifellos ein inhumanes und antichristliches Paradigma und eine zutiefst aufrührerische Idee. Wir werden sehen, ob und wie lange Nietzsche die Zeiten überdauern wird – oder ob der letzte Mensch endgültig Realität geworden ist.

Immerhin hat Nietzsche den Kommunismus und seine Opfer vorhergesehen, die Massengesellschaft, den Nihilismus, die Oberflächlichkeit und Banalisierung der modernen Zeit.

Es wäre jedoch verfehlt und viel zu einseitig, im „Zarathustra“ nur eine Anklageschrift zu sehen. Denn in ihm funkelt und sprüht eine wundervoll poetische Sprache mit eindrucksvollen Reden über Glück, Lust, Leid, Leben und Erde. Diese dichterische Form, die zudem an die der großen Religionsstifter erinnert, macht den „Zarathustra“ auch zu einem sprachlichen Meisterwerk.

Die Schrift entstand vor allem in Sils-Maria in der Bergwelt des Engadin. Hier erholte sich Nietzsche in den Jahren 1881 und 1883 bis 1888 von seinem ebenso empfindsamen wie aufgewühlten Innenleben und von seiner u. a. mit Kopfschmerzen geplagten Physis. Auf einem Felsen in der Nähe seiner bescheidenen Unterkunft (heute Nietzsche-Haus) findet sich die Inschrift:

Hier saß ich wartend, wartend, doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend und bald des Schattens ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei
Und Zarathustra ging an mir vorbei.

Nietzsches „Zarathustra“ ist nicht leicht zu lesen. Doch zieht er auch heute noch den Leser in seinen Bann. Man spürt, er ist mit der explodierenden Kraft geschrieben, die in der Lage ist, „einen Stern zu gebären“. Klar und unmissverständlich ist Nietzsches leidenschaftliches Plädoyer für die Fortentwicklung des Menschen zum Übermenschen, der im Verlauf des Buches als „höherer Mensch“ bezeichnet wird.

Den größten Platz nehmen die Reden Zarathustras ein, mit denen er tiefsinnige Ermahnungen an die Auserwählten richtet und bestimmte Einstellungen anmahnt. Auch wenn dabei die Klarheit der Nietzscheschen Ausdrucksweisen überall dominiert, verlangt der Gegenstand des Buches neuartige Überhöhungen. So sind die manchmal mäanderhaft entwickelten Darlegungen nicht selten angefüllt von Allegorien, Visionen, Mythen, Metaphern, rätselhaften Andeutungen und einer ausgewählt- pathetischen Sprache.

Im 3. Teil spricht Zarathustra noch einmal deutliche Worte:

„Ihr höheren Menschen, dies lernt von mir: auf dem Markte glaubt niemand an höhere Menschen. Und wollt Ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt: wir sind alle gleich.

Ihr höheren Menschen … es gibt keine höheren Menschen, wir sind alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott sind wir alle gleich.

Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel wollen wir aber nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt.

Gute Sitten! Alles ist bei uns falsch und faul. Niemand weiß mehr zu verehren: Dem gerade laufen wir davon.“

Merkwürdig undeutlich behandelt Zarathustra die Frage, wie höhere Menschen ausgewählt werden. Am Ende bleibt, natürlich symbolisch, eine eigenartige Mischung von höheren Menschen ganz unterschiedlicher Provenienz. Philosophen sind Schöpfer von Ideen. Sie praktisch umzusetzen ist aber nicht mehr ihre Sache. (Die Französische Revolution ist den Philosophen sogar aus den Händen geglitten).

Sein hundertster Todestag im Jahr 2000 war noch einmal Anlass für eine breitere Nietzsche-Rezeption, die aber bald wieder abebbte. Und heute? Nietzsche stellt zweifellos eine unerhörte intellektuelle, politische und moralische Herausforderung dar, die den nach Form und Inhalt offensichtlich abgebrühten Nerv unserer Zeit mit ihrer niedrigen Vibrationstiefe kaum mehr erreicht. Zarathustra hat aufgezeigt, warum es zu dieser Entwicklung kommen musste.

Seine „gefährlichen Botschaften“ werden heute jedenfalls nicht mehr thematisiert. Die Gleichheit der Menschen anzuzweifeln gehört heute vermutlich zum größten Tabubruch. Jedenfalls wäre es politisch erschreckend unkorrekt. Über das für Nietzsche zentrale Verhängnis: „Der Nihilismus steht vor der Tür“ findet kein öffentlicher Diskurs mehr statt. Es gilt bereits als ungehörig, darüber zu reden. Statt sich mit derartigen heißen Eisen zu befassen, wird Nietzsche heute überwiegend nur noch einer nüchternen literarisch-philologischen und philosophischen Exe-gese unterzogen.

Wie haben sich rund 130 Jahre nach Erscheinen des „Zarathustra“ die von Nietzsche so heftig angegriffenen Gruppierungen entwickelt? Das Christentum, die Kirchen haben seither offensichtlich an Einfluss verloren. Die Ursachen sind ebenso bekannt wie jene, die zum Niedergang des Bürgertums führten, jedenfalls tritt es als stilbildendes Element heute nicht mehr in Erscheinung. In beiden Fällen war Nietzsche daran jedenfalls direkt nicht beteiligt.


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Werner Kunze

geb. 1927, VDSt München, Autor zahlreicher philosophischer Bücher, u. a. „Philosophie für Neugierige“ (Grabert, 2006) und „Die Moderne. Ideologie, Nihilismus, Dekadenz.“ (Bublies, 2011).

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