Antinostalgie

Außerhalb Bayerns kennt man Ludwig Thoma für seine Lausbubengeschichten, Satiren und Spottverse, ein wenig auch den politischen Radikalismus seiner letzten Jahre. Zu seinen Bauernromanen schafft schon die bairische Sprache große Distanz. Als Zeitzeugnisse aber sind sie von hohem Wert und erschreckender Klarheit.

Dem Städter, selbst dem Dörfler von heute fällt es schwer, sich in die alte Landwelt hineinzuversetzen, um die vorletzte Jahrhundertwende oder kurz danach, als Feldarbeit noch ausschließlich Handarbeit, das Leben eng war und die weite Welt sehr fern. Ältere kennen aus dem Fernsehen vielleicht noch die Reihe vom königlich-bayerischen Amtsgericht in der fiktiven Provinzstadt Geisbach. Die hilft ein wenig in der Sprache, ein wenig in den Themen; Marksteine und Wegrechte, umtriebige Viehhändler und dampfige Rösser, Altbauern, die nicht übergeben möchten und ihre Söhne nicht heiraten lassen, Schranken der Klassengesellschaft auch auf dem Land zwischen Bauern und Knechten. Sie hilft nicht so ganz beim klaren Blick auf die Wirklichkeit, denn Georg Lohmeier, der das Spiel ersann, war als altem Monarchisten an nostalgischer Verklärung der Prinzregentenzeit gelegen, und so steht am Ende fast immer eine gütliche Einigung oder ein salomonisches Urteil des Gerichtrats. „Es war halt noch vieles in Ordnung damals.“

Ludwig Thoma, der in der Zeit lebte, ihren Geist ein gutes Stück publizistisch mitprägte, war eher ein Chronist verfallender Ordnungen. Oft witzig, mindestens ironisch wird es, wenn er die rasche Modernisierung um 1900 beschreibt; Nester, die ans Eisenbahnnetz angeschlossen werden und sich dem Fremdenverkehr öffnen, wodurch ihr ganzes Sozialgefüge sich verändert; Kulturschocks und Missverständnisse, wenn hochnäsige Großstädter, oft aus Preußen, den bodenständigen Einheimischen begegnen. Nie verschwiegen werden die Modernisierungsverluste, wenn alteingesessene Münchener etwa fürchten, dass ihr Viertel vom Flächenfraß des Massentourismus verschlungen wird, ihre stolze Residenzstadt sich verwandelt in ein Folkloretheater für Fremde, „das ganze Jahr ein Freß- und Saufkarneval“. Hier liegt die humorvolle Einsicht für den Leser eher darin, wie wenig sich bis heute an den Streitthemen eigentlich geändert hat.

Keine Heimatromantik

Gar nicht modern und gar nicht humorig kommen dagegen Thomas Romane daher, die freilich heute meist nur kennt, wer sie an bayerischen Gymnasien noch als Schulstoff vorgesetzt bekam. Bauernromane, Bauerntragödien sind alle drei; witzig, tragikomisch nur in Einzelszenen und natürlich in der Sprache, denn außer dem Erzähler reden alle in ihrer Mundart. Wer selbst nicht täglich Dialekt spricht, muss gelegentlich schmunzeln über lautsprachlich verpackte Sentenzen – „Mög’n tat i scho mög’n, aber kinna ko mer net“ – und über so manche derben Flüche – „Kramp’n, du mistiga!“ „Plana, elendiga“. Die Geschichten selbst aber sind harter Naturalismus, nicht weniger brutal als Sozialromane von Zola; die Protagonisten enden tragisch, im Suff, im Zuchthaus oder am Strick. Und durchaus keine Modernisierungstragödien; das Böse wird nicht von außen ins ländliche Idyll getragen, sondern kommt aus ihm selbst und hätte 1850 ebenso geschehen können wie 1900 oder 1910.

Überzeugend sind die Geschichten, weil Thoma diese Welt selbst kannte. Als Förstersohn aus der Provinz stammend, hatte ihn eine wechselvolle berufliche Laufbahn für eine Zeit als Advokat in die Dachauer Gegend geführt, wo er mit den Rechtsgeschäften der Bauern und mit ihrem Alltagsleben in Berührung kam und auch manches Wirtshaus kennenlernte, das in den Büchern zum Handlungsort wird. Von dieser Erfahrung zehrte er literarisch bis ans Lebensende, und wenn man es nicht vorher wüsste, wäre gar nicht einfach zu erraten, aus welcher Phase jeder der drei Romane stammt, zwischen denen immerhin fünfzehn Jahre liegen.

Streiter und Säufer

Am ehesten gelingt das noch beim ersten, weil dort politische Konfliktlinien eine Rolle spielen. Dem Landwirt Andreas Vöst wird sein Engagement im Bayerischen Bauernbund zum Verhängnis, einer Konkurrenzorganisation zur klerikal geprägten Zentrumspartei; das macht ihm die Schwarzen zum Feind, der örtliche Pfarrer überzieht Vöst mit einem Kleinkrieg gehässiger Intrigen, bringt ihn um das Bürgermeisteramt und provoziert ihn zu Gewaltakten, die am Ende die Existenz kosten. Thoma war ein Feind falscher Frömmelei, politisierender Pfaffen und bigotter Heuchler in Sittlichkeitsvereinen, zeigte das zur gleichen Zeit sehr scharf als Redakteur der Satirezeitung Simplicissimus. Entsprechend klar sind die Sympathien im Roman verteilt. Vösts Tragik liegt, wie bei Michael Kohlhaas, darin, dass er zwar im Recht ist, aber im Kampf um sein Recht überzieht, kein Maß mehr kennt und keine Rücksicht auf die Folgen nimmt.

Gar nicht politisch einzuordnen wäre dagegen der letzte der drei Romane, erschienen in Thomas Todesjahr, der Zeit also, als der im Krieg zum radikalen Nationalisten veränderte, durch Niederlage und Revolution verbitterte Autor den Miesbacher Anzeiger mit Hetzartikeln vollschrieb. Davon im Buch kaum eine Spur; der Ruepp, auch Bauer bei Dachau, versäuft und verspielt nach und nach seinen Besitz, lässt Gelegenheiten, sein Schicksal zu wenden, aus Stolz und Starrsinn verstreichen, lügt und stiehlt und macht so alles noch schlimmer, für sich, seinen Erstgeborenen, der den Hof erben soll, und den zweiten Sohn, den er gegen Wunsch und Neigung aufs Gymnasium geschickt hatte, um eine geistliche Laufbahn einzuschlagen. (Auch Thoma hatte, nach dem Wunsch der Mutter, eigentlich Priester werden sollen.) Noch eine Generation später spürt die Familie die materiellen Folgen und sind früher offen erscheinende Lebenswege verbaut.

Väter und Söhne

Reinste Familientragödie ist der mittlere Roman, „Der Wittiber“ (Witwer). Hier kommt das Übel nicht von der Politik und nicht, oder nur momentweise, vom Alkohol. Dem Schormayer-Bauern von Kollbach ist nach langer Krankheit die Frau gestorben. Das reißt nicht nur eine große Lücke ins Leben des Witwers und das Arbeiten auf dem Hof – „koa bessere Hauserin is weit umadum net g’wes’n“, sondern macht den schwelenden Generationenkonflikt akut. Sohn Lenz (Lorenz) möchte den stattlichen Hof „mit gutding hundert Tagwerk Grund, sechs Roß und an die vierzig Stück Vieh“ lieber früher als später übernehmen, Tochter Ursula sich alsbald verheiraten. Der Vater, vierundfünfzig Jahre alt, ist zwiegespalten. Einerseits ist das Leben als Witwer nicht mehr das gleiche – „alloa is d’Arbeit aa nimma luschti“ –, andererseits fürchtet er den Machtverlust, möchte nicht als Austragler nur im Wege stehen und fühlt sich eigentlich für den Ruhestand noch zu jung.

Schwankend, verunsichert, beginnt er unernste Spielchen; gaukelt einem Viehhändler, der ihn gegen Provision verkuppeln möchte, den Wunsch einer zweiten Ehe vor; beginnt, eine b’soffene G’schicht, ein kurzes Gspusi mit der Magd Zenzi (Creszentia). Um kein Gerede aufkommen zu lassen, würde Schormayer die Magd aus freien Stücken fortschicken; da mehrmals die Tochter und einmal auch der Sohn dies aber offen einfordern und er seine Autorität bedroht sieht, lässt er Zenzi aus Trotz noch die ganze Weihnachtszeit bis Mariä Lichtmeß im Hause bleiben; und noch darüber hinaus, als sich zeigt, dass die Affäre biologische Folgen hat. Zenzi und Ursula geraten in Feindschaft, das Leben auf dem Hof wird zum dauernden Kleinkrieg im Streit der beiden Weiber. Hansgirgl (Johann Georg), der gute Knecht, verzieht sich verärgert. Schlimmer noch der Disput zwischen Vater und Sohn; Drohungen mit der Gendarmerie, Drohungen mit Verkauf des Hofes und damit des Erbes. Ein letzter übler Streit („Lausbua, du nixiga!“); allmählich sich entfaltende Versöhnungsstimmung beim Vater; doch ehe es dazu kommen kann, grausame Bluttat. „Und dann lief er zum Brunnen und pumpte und wusch sich die Hände. Und wusch sich in fiebriger Hast die Hände.“ Nachher dann Zusammenbruch.

Versunkene Welt

Wenn die Romane nun weitgehend unabhängig neben Thomas übriger publizistischer Entwicklung stehen, sind sie dann zeitunabhängig? Nicht ganz. Viel Ewig-Menschliches steckt natürlich darin, gerade auf der negativen Seite: Neid, Missgunst, Sturheit; die Neigung, Fehler lieber fortzusetzen als sie sich und anderen ehrlich einzugestehen; Streitlust, Bosheit, Rachsucht. Nur wird das alles ungeheuer potenziert durch die Enge des bäuerlichen Lebens. Alle wohnen am selben Fleck, auf engem Raum, können sich kaum aus dem Wege gehen, zumal in der dunklen Jahreszeit nicht; soziale Mobilität ist begrenzt, Hof und Erstgeborenenrecht bestimmen die Lebensperspektiven, keiner kann ausweichen; als Alternativen bleiben in aller Regel nur Kirche oder Militär. Auch die dörfliche Gemeinschaft ist überschaubar, den Ruf reinzuhalten, nicht zum Außenseiter zu werden, ist existenziell wichtig, doch das Bemühen darum erzeugt oft Verbitterung.

Die Familie wiederum ist nicht „nur“ Familie, Familie und Materielles sind untrennbar verbunden, Arbeits- und Lebensgemeinschaft sind identisch. Liebe ist Luxus; kommt vor, ist aber nötigenfalls verzichtbar. Hier unterscheiden sich die Bauersfamilien im Kleinen nicht von den Adelsfamilien im Großen. Man macht Heiratspolitik, pflegt Beziehungen, erwirbt Anwartschaften. „Unter Stand“ zu heiraten bedeutet Ansehensverlust. Regent und Thronfolger stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis, der Junge, der regieren, muss dem Alten, der nicht weichen möchte, unweigerlich den Tod wünschen. So wird es überall sein, wo Grund und Boden und fester Besitz die Grundlage von allem bilden. Ist es, in Mitteleuropa, heute fast nirgends mehr. Thoma berichtet aus einer versunkenen, damals schon langsam versinkenden Welt. Bei ihm kann man eintauchen ins gänzlich fremde; fremdgewordene.

Eintauchen muss man dafür auch in die Sprache. Wer Bairisch nie gesprochen, gehört, gelesen hat, wird sich naturgemäß schwertun. Einsteigen kann man auch über die vom Bayerischen Rundfunk produzierten Filme mit den großen Volksschauspielern von einst; vom „Wittiber“ gibt es auch eine schöne Hörbuchfassung mit dem unvergessenen Gustl Bayrhammer. Hat man sich an den Dialekt ein wenig gewöhnt, wird auch die sonderbare, ans Lautsprachliche angenäherte Schriftfassung lesbar. Die Mühe lohnt sich. Denn es steckt mehr vom echten, alten Bayern darin als in tausend Karikaturen.