Bayern sind auch Deutsche

Trotz ein wenig Spott hier und da ist die Streitschrift „Bayern kann es auch allein“ des CSU-Grandseigneurs Wilfried Scharnagl durchaus ernsthaft diskutiert worden. Mit Recht – er stellt die richtigen Fragen.


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Als Ludwig I., Bayerns vielleicht größter König, 1842 in Donaustauf die Walhalla zu Ehren rühmlich ausgezeichneter Deutscher einweihte, tat er das mit den Worten: „Möchte Walhalla förderlich sein der Erstarkung und der Vermehrung deutschen Sinnes! Möchten alle Deutschen, welchen Stammes sie auch seien, immer fühlen, dass sie ein gemeinsames Vaterland haben, ein Vaterland, auf das sie stolz sein können, und jeder trage bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung.“ Es hat keinen glühenderen Nationalisten gegeben unter den deutschen Monarchen des 19. Jahrhunderts als diesen Bayernkönig; und auch Ministerium, Parlament und Bevölkerung hatten teil am gesamtdeutschen Patriotismus in dem Land, das nach den napoleonischen Erwerbungen selbst eine Nation im Kleinen, selbst schon ein Staat war, der weit über nur einen deutschen Volksstamm hinausging.

Bayern wurzelt in Deutschland, viel, viel tiefer als Preußen, das keine zweihundert Jahre zuvor außerhalb des alten Reichs und in Opposition gegen das österreichische Kaiserhaus proklamiert wurde, protestantisch, von der Reformation geprägt, wo Bayern eines der Zentren der Gegenreformation gewesen war und treu zum katholischen Kaiserhaus gestanden hatte, als es galt im Dreißigjährigen Krieg. Preußen gründete später das neue Deutsche Reich; nach allen Wechselfällen der Weltgeschichte gehört wenigstens seine brandenburgische Kernprovinz seit 1990 wieder zum gesamtdeutschen Staatsgebiet. Und Bayern, deutscher Zunge seit über einem Jahrtausend, dessen altes Herrscherhaus deutsche Kaiser und Könige stellte, soll nun nicht mehr Teil Deutschlands sein?

Wilfried Scharnagl jedenfalls denkt diesen Gedanken und denkt ihn ohne Schrecken. „Bayern kann es auch allein. Plädoyer für den eigenen Staat“ heißt sein Buch, das in diesem Jahr viel Furore gemacht hat. Der Redlichkeit halber muss man sagen: Sehr viel ist von einer tatsächlichen staatlichen Unabhängigkeit darin nicht die Rede. Sie erscheint hin und wieder als Denkmöglichkeit am Horizont, für den Fall, dass alle Stricke reißen sollten. Zunächst geht es Scharnagl um Autonomie, um größere Freiheit für Bayern. Die sieht er bedroht durch den Zangengriff eines doppelten Berliner und Brüsseler Zentralismus, durch die Kompetenzanmaßung von Bund und EU-Kommission, durch Gleichmacherei, ökonomische Gleichschaltung und einen „Raubzug gegen Bayern“ in Form einer doppelten Transferunion, durch den deutschen Länderfinanzausgleich und „ein kaum überschaubares Geflecht immer neuer Milliarden-Rettungsschirme“ auf europäischer Ebene.

Angeschlossen an Großpreußen

Das Unglück beginnt für Scharnagl aber lange vor Länderfinanzausgleich und ESM. Sein historischer Rückblick setzt am 21. Januar 1871 ein, an dem Tag, als die bayerische Abgeordnetenkammer den Versailler Verträgen, also dem Beitritt Bayerns zum drei Tage zuvor proklamierten neuen Deutschen Kaiserreich, nach langer Debatte zustimmte. Dieses Kapitel, das längste im Buch, fließt über vor Zitaten aus den damaligen Redebeiträgen, in denen bayerische Patrioten sehr hellsichtig warnten vor den Gefahren des neuen Reichs, vor dem Zentralismus und dem Verlust der bayerischen Eigenständigkeit, vor dem preußischen Militarismus und drohenden neuen Kriegen; am Ende aber gegen die herrschende nationalistische Zeittendenz keine Chance hatten und in der Abstimmung mit 48 zu 102 Stimmen unterlagen.

Scharnagl weist auf die Ähnlichkeit zur heutigen europäischen Situation hin, darauf, dass auch heute die Abgeordneten oft nur nachvollziehen können, was vorab von exekutiven Stellen „alternativlos“ entschieden wurde, dass Kritiker der offiziellen Regierungspolitik als Feinde Europas diffamiert werden, wie man den bayerischen Patrioten damals vorwarf, schlechte Deutsche zu sein, wogegen sie sich in der Debatte ausdrücklich verwahrten. Er schilt die Wittelsbacher dafür, dass sie sich dem Druck aus Berlin so vergleichsweise widerstandslos ergaben (wobei, notabene, König Ludwig II. sich vergleichsweise noch am heftigsten wehrte). Freilich, er überschätzt ein wenig die Möglichkeiten der damaligen bayerischen Politik und unterschätzt den auch im bayerischen Volke vorhandenen starken Wunsch, nun Teil des größeren Gesamtdeutschlands zu werden. Wie auch immer man die Alternativen bewertet: dass die Zwischensituation von 1866 mit den vier mittleren süddeutschen Staaten, eingeklemmt zwischen Frankreich, dem großpreußischen Norddeutschen Bund und Österreich, kaum andauern konnte, bestreitet heute kaum jemand und bestritt auch damals nur eine kleine Minderheit. „Konnten diese Staaten für sich selber existieren?“, fragt der Historiker Golo Mann. „Am Münchener Hofe hätte man dies am liebsten geglaubt, getraute sich aber nicht, es laut zu sagen, und verfolgte mittlerweile mit vielen Reserven und Klauseln eine pro-preußische Politik, weil man musste. Dann gab es die ‚Bayrisch-Patriotische-Partei‘, die im Jahre 1869 einen gewaltigen Wahlerfolg errang. Es war eine Partei der Nur-Bayern, demokratisch-konservativ, ländlich und erzkatholisch. Man liest die Reden ihres kräftigen Wortführers Doktor Jörg noch heute mit Rührung und Zustimmung; wie er gegen den preußischen Militarismus wetterte, gegen die gesteigerten Lasten, welche das Bündnis mit Preußen brachte, gegen die Staatsvergötzung des Liberalismus. ‚Wir wollen bleiben, was wir sind‘, darauf lief es hinaus, und das ist ein Kernspruch, dem der Erzähler seine Sympathie nicht versagen kann. Aber ach, es gibt Zeiten, in denen man nicht bleiben kann, was man ist. Kann man es je? Ist es nicht das Wesen der Geschichte, dass sie ständigen Wechsel bringt und den Stein höhlt, auch wenn der Tropfen sich seiner Arbeit nicht bewusst ist? Wenn die Bayern nicht hätten Deutsche sein wollen, so hätten sie das viel, viel früher beginnen müssen.“

Dennoch hat das Kapitel seine Wichtigkeit, und zwar vor allem dort, wo, unausgesprochen, die Analogie zum Heute endet. Denn eine vergleichbar breite Europabewegung, wie es vor 1871 eine deutsche Nationalbewegung und Nationalbegeisterung gab, die gibt es nicht. Gewiss – was man heute gelegentlich vergisst –, auch Deutschland war damals in erster Linie ein Elitenprojekt, für Intellektuelle, Professoren und Studenten, Dichter und Komponisten, für an freiem Handel interessierte Unternehmer, für machtpolitisch denkende Zeitgenossen, die an der politischen Ohnmacht Deutschlands litten, wie wir heute an der Ohnmacht Europas leiden im Vergleich zu Amerika oder China, für ehrgeizige Parlamentarier und Minister. Aber die Bewegung reichte doch tiefer, weil eine rudimentäre gemeinsame Identität schon vorhanden war, durch die gemeinsame Sprache, durch gemeinsam erlebte Geschichte, die nicht vergessene Tradition des erst 1806 untergegangenen, altehrwürdigen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, auch – es gehört mit zur Wahrheit – durch die negative Abgrenzung gegen einen äußeren Feind, in Erinnerung an Napoleon I., 1870 in aktivem Kriege gegen Napoleon III., während wir heute – zum Glück – eines äußeren Feindes entbehren. Das heißt auch – was unseren Buchautor freuen dürfte –, dass die Aussichten für erfolgreichen Widerstand gegen den Zentralismus heute ungleich größer sind.

Die Niedergangsgeschichte Bayerns nach 1871 erzählt Scharnagl kürzer, und man dankt es ihm, denn es ist eine traurige Geschichte. Der Bedeutungsverlust im Kaiserreich, trotz der Sonderrechte, die man in Versailles ausgehandelt hatte, die wiederholten Demütigungen durch Kaiser Wilhelm II., das zur Schattenmonarchie verkommende Königtum im ersten Kriege; die Zentralisierungsneigung auch in der Weimarer Republik, schließlich die völlige Gleichschaltung im Nationalsozialismus: Man kennt das alles zur Genüge. Dass Bayern dennoch durchaus seine Rolle hatte im kommenden großen Unheil, dass München, nicht Berlin, Hauptstadt der Bewegung wurde und Nürnberg, nicht Potsdam, Stadt der Reichsparteitage, kommt freilich bei Scharnagl arg kurz weg.

Nicht Provinz, sondern Vollstaat

Ausführlicher und geradezu hymnisch wird es, wenn der Autor auf das Wiedererstehen Bayerns aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs zu sprechen kommt. Insbesondere lobt er die bayerische Verfassung in höchsten Tönen. Dieses „Bollwerk der Freiheit“ wurde „als Konstitution eines ‚Vollstaats‘ geschrieben und nicht eines Teilstaats, der sowieso in einem größeren Ganzen aufzugehen habe. Zwar ist Bayern durch die Gründung der Bundesrepublik zu einem ‚teilsouveränen‘ Staat geworden, aber es ist weit mehr als eine Bundesprovinz, obwohl es – mittlerweile nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Brüssel – immer wieder so behandelt wird.“

Ihren Rang schöpft die bayerische Verfassung nach Scharnagl daraus, dass sie schlicht älter ist als das Grundgesetz – „Ehe der Bund war, waren die Länder“ –, dass sie im Gegensatz zum Grundgesetz und übrigens auch zu den anderen Landesverfassungen durch Volksentscheid beschlossen wurde und nur durch solchen geändert werden kann sowie auch durch die kuriose Tatsache, dass der bayerische Landtag das für den Geschmack der Bayern zu wenig föderalistische Staatsgefüge des Grundgesetzes mit deutlicher Mehrheit zunächst ablehnte (um seine Gültigkeit für Bayern dann freilich doch anzuerkennen). Im übrigen blieb Bayern trotz des Verlustes der Rheinpfalz nach dem Kriege in seiner Substanz erhalten, ist kein neugegründeter Kunststaat („kein Bindestrichland“), sondern immer noch das alte Bayern mit seiner tausendjährigen Tradition.

Der Autor verweist darauf, dass die Bewegung für einen starken Föderalismus damals eine sehr breite war. Auch der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner wird als Verfechter bayerischer Eigenständigkeit freundlich zitiert. (Das alles ist richtig dargestellt, ohne auf die dumme Geschichtslegende, der bundesrepublikanische Föderalismus sei in erster Linie eine alliierte Erfindung, um Deutschland gespalten und damit schwach zu halten, auch nur einzugehen. Der Föderalismus ist urdeutsch, wenn es irgendetwas gibt, das deutsch ist, und die einzige Deutschland angemessene Staatsgliederung; was die Alliierten gedacht und gewollt haben mögen und was nicht, ist demgegenüber unbedeutend.)

Freilich sei – wie 1871 – durchaus nicht alles so gekommen, wie erwartet, Bonn und später Berlin hätten wie noch jede Zentralregierung versucht, ihre Kompetenzen auszuweiten auf Kosten der Länder, insbesondere von deren Finanzhoheit; vor allem der bayerische Landtag habe gelitten: „Von der Verfassung als Gesetzgeber eines Vollstaats konzipiert, muss er sich mit allen Kräften und über alle Parteigrenzen hinweg dagegen wehren, in die Nebenrolle eines Provinzparlaments gedrängt zu werden.“ Und zum Bund sei nun zu allem Überfluss die „von Landesblindheit geschlagene“ Europäische Union hinzugetreten und fordere ihrerseits den Regionen Kompetenzen ab.

Obwohl Scharnagl auch eine Reihe andere Aspekte streift, die Bildungspolitik etwa, gilt sein Hauptangriff der Umverteilungspolitik, dem deutschen Länderfinanzausgleich und der entstehenden europäischen Transferunion. Er rechnet wiederholt vor, welche Unsummen Bayern zu zahlen habe, allein rund ein Zehntel des Landeshaushalts direkt in den Länderfinanzausgleich, dazu indirekte Benachteiligungen durch Umsatzsteuerausgleich, Bundesergänzungszuweisungen und all das Unsichere, was in Europa noch kommen mag. Er fordert Wettbewerbsföderalismus statt Gleichmacherei, ohne den Solidaritätsgedanken ganz abschaffen zu wollen. Freilich verfällt er gelegentlich in die gleichen Simplifizierungen wie die offizielle Lesart der bayerischen Landesregierung, nach der Bayern nun jährlich mehr in den Länderfinanzausgleich einzuzahlen habe, als es insgesamt bis Ende der 1980er als Nehmerland selbst erhalten hat (was nur stimmt, wenn man geflissentlich unterlässt, die Inflationsrate einzurechnen), und nach der die Nehmerländer einfach eine solidere Haushaltspolitik betreiben und sparen müssten, um zum Geberland zu werden (was so direkt nicht stimmt, weil lediglich eine Umverteilung der Steuereinnahmen vorgenommen wird, ganz unabhängig von der Ausgabenseite). Richtig ist aber natürlich die Feststellung, dass der Länderfinanzausgleich in der jetzigen Form den Nehmerländern den Anreiz zur Entwicklung nimmt. Scharnagl schließt mit einer drastischen Forderung:

„Um diesen Raubzug gegen Bayern und den damit verbundenen Dauerskandal zu beenden, bedarf es eines Paukenschlages. Ein möglicher Vorschlag: Die bayerische Staatsregierung erklärt verbindlich, sie werde die Zahlungen des Freistaats in den Länderfinanzausgleich zum nächsten 1. Januar einstellen. Oder noch besser: umgehend.“

Bayern kann es auch allein

Wie kann Bayern seine Forderung nach mehr Freiheit nun durchsetzen? Scharnagls Rezept scheint zu sein: durch Separatismus, durch Abspaltungsdrohung. Jedenfalls liegt der Verdacht nahe, dass diese taktische Funktion die wesentliche Rolle bei dem Gedanken von der Unabhängigkeit spielt, wenn er entsprechende Bewegungen vor allem in Schottland, aber auch etwa in Katalonien als Vorbild empfiehlt. Ob er den Wunsch wirklich mit letztem Ernst hegt, einst Adlatus des bei aller bayerischen Identität doch auch stark deutschnational geprägten Franz Josef Strauß, bleibt unklar.

Dass Bayern alleine kann, rechnet Scharnagl gründlich vor, ohne dass man der Analyse widersprechen könnte. Natürlich hat das Land die Substanz dazu, mit zwölfeinhalb Millionen Einwohnern, als siebtgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union, mit über tausendjähriger staatlicher Tradition, mit einer gewachsenen, in sich vielfältigen, aber von einem gemeinsamen bayerischen Bewusstsein getragenen reichen Kultur. „Die Bayern erfreuen sich ihres Andersseins, ihrer Unverwechselbarkeit, ihrer Eigenständigkeit, ihrer Individualität.“

Die bayerische Erfolgsbilanz, die Scharnagl sehr ausführlich vorlegt – hier, aber auch nur hier kommt der CSU-Politiker in ihm recht stark zum Vorschein –, ist gar nicht mehr recht nötig, um das weiter zu untermauern. Natürlich ist Bayern „ein Standort ersten Ranges“, mit hervorragenden Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen, erstklassiger Infrastruktur und guter Verwaltung, niedriger und weiter zurückgehender Staatsverschuldung, hoher Investitionsquote, starken Großunternehmen und starkem Mittelstand, niedriger Arbeitslosigkeit, beinahe Vollbeschäftigung und faktisch ohne Jugendarbeitslosigkeit, darum einer hohen Attraktivität für Zuwanderer aus Deutschland und der übrigen Welt, einer noch wachsenden, auch in Zukunft absehbar nicht schrumpfenden Bevölkerung, dennoch trotz großem Migrantenanteil in den Großstädten bei weitem nicht mit den Integrationsproblemen wie andere Ländern und mit sehr niedriger Kriminalitätsrate.

Ob Bayern nun alleine muss, wird sich zeigen. Die europäische Krisenpolitik drängt auf die Entscheidung zu; möglich, dass es in den nächsten Jahren zu einer Volksabstimmung über eine neue deutsche Verfassung kommt, weil die Verlagerung weiterer Kompetenzen etwa in der Fiskalpolitik über das, was das Grundgesetz gestattet, hinausgeht. Es ist unschwer zu prognostizieren, dass die Eigenständigkeit der deutschen Bundesländer und damit auch Bayerns dann weiter beschnitten werden wird. „Deshalb bedarf jeder weitere Schritt in diese Richtung einer neuen Verfassung. Und über diese entscheidet das Volk. Überall in Deutschland. Auch in Bayern.“ Referenden über die Unabhängigkeit der Schotten und der Katalanen stehen in den nächsten Jahren bevor und werden in Europa für ein neues Klima sorgen. Und Ende des Jahrzehnts läuft in Deutschland der Länderfinanzausgleich aus…

Insgesamt: ein lesenswertes Buch, ein wichtiges Buch, trotz mancher Übertreibung und bewusster Sehfehler im Detail im letzten Grunde auch ein richtiges Buch. Es zeigt vor allem, dass es gegen den Brüsseler Zentralismus nicht nur den Widerstand der Nationalstaaten und der entsprechenden historisch kontaminierten Nationalismen gibt, sondern auch den Widerstand der Regionen. Europa wird ein Europa der Vaterländer und auch ein Europa der Regionen sein – oder es wird gar nicht sein.


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