Das Goldene Kalb

Länger arbeiten (mindestens bis 67), weniger Urlaub (20 Tage genügen), mehr Frauen in Führungspositionen! Ach ja, fast hätten wir es vergessen: Wachstum, Wachstum, Wachstum! Täglich erreichen uns neue Vorschläge, wie man das Bruttoinlandsprodukt steigern und die Wirtschaft ankurbeln kann. Das Räderwerk des Kapitalismus will schließlich geölt werden.


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GoldCalfAngesichts der bisweilen penetranten Dauerbeschallung durch die Medien und Teile der politischen Klasse drängt sich mir unweigerlich die Frage auf: Wieso ist unsere Gesellschaft derart auf die Erwerbsarbeit fixiert? Die neuerlich vorgebrachte Forderung, Frauen doch endlich durch eine Quote in die Chefetagen der Wirtschaft zu hieven, ist nur eine Spielart davon. Es ist schon merkwürdig: Anstatt sich den technischen Fortschritts der letzten hundert Jahre zunutze zu machen, um weniger zu arbeiten und die hinzugewonnene Freizeit sinnvoll zu gestalten, häufen wir Überstunde auf Überstunde an und begeben uns freiwillig in das Hamsterrad des work-around-the-clock.

Nehmen wir einmal an, ein Mensch des 19. Jahrhunderts würde sich in der heutigen Zeit wieder finden. Er würde sich verwundert die Augen reiben: Trotz des gewaltigen technischen Fortschritts arbeiten die Menschen nicht weniger, sondern mehr! Und die Frauen versuchen den Männern in nichts nachzustehen. Völlig unverständlich wäre es für ihn, zu sehen, wie Erwerbsarbeit, beruflicher Erfolg und der damit verbundene gesellschaftliche Status in der modernen Gesellschaft zum Fetisch erhoben werden; zum goldenen Kalb vor dem wir bereitwillig niederknien.

Gibt es denn nichts Wichtigeres auf dieser Welt? Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, verfügt über unzählige Talente (die sich am allerwenigsten darin zeigen, ob jemand einen Vorstandsposten in der Wirtschaft erreicht hat). Der eine ist mit Empathie begabt, der andere mit Humor gesegnet, der nächste hat musikalisches Talent, wieder ein anderer besitzt die Gabe der Menschenführung. Diese ungeheure Vielfalt der menschlichen Natur wird in brachialer Weise nivelliert, indem wir den Fokus in geradezu perverser Weise auf die Erwerbsarbeit richten. Getreu dem Motto: Ich bin, was ich leiste. Bleibt die Frage, ob Managerinnen wirklich glücklicher sind als Mütter, die für ihre Kinder da sind.

Das Getöse in den Medien zur Frage der Gleichstellung der Frau im Beruf hat mittlerweile eine ohrenbetäubende Lautstärke angenommen. Wenn denn nur 50 Prozent der Frauen in Spitzenpositionen angekommen sind, dann, ja dann haben wir das Paradies auf Erden!? (und die Feuilletons dieser Republik nichts mehr zu schreiben…) Dieser Logik zufolge müssten Frauen umso glücklicher sein, je höher sie auf der Karriereleiter nach oben steigen. Dass dem mitnichten so ist, belegen zahlreiche Studien.

Lassen wir uns also nicht länger einreden, dass unser Wohl und Wehe irgendetwas mit unserem beruflichen Erfolg (was ist das überhaupt?) zu tun hat. Das Rückgrat unserer Gesellschaft bilden Mütter und Väter, die ihre Kinder ins Leben begleiten, Menschen die kulturelle Arbeit leisten und sich ehrenamtlich engagieren. Ihnen vor allem gebührt Dank und Anerkennung. Zivilgesellschaftliches Engagement und Zuwendung den Mitmenschen gegenüber macht das Leben reicher, nicht das Schielen auf irgendwelche Spitzenpositionen in der Wirtschaft. Wie wenig relevant die ganze Diskussion für große Teile der Bevölkerung ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Anteil herausgehobener Positionen in Wirtschaft und Politik, auf die es die Frauen (angeblich) abgesehen haben, im Promillebereich liegt. Also, Frauen (und Männer): Lasst euch nicht ins Boxhorn jagen!


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Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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