Das Handwerk der Macht

Mit Bismarck wird man niemals fertig, auch zum zweihundertsten Geburtstag nicht. Weil sein Wirken bis in die Gegenwart hineinreicht, wiewohl man vor plumper Aktualisierung sich hüten sollte. Weil sich das politische Handwerk, dessen Großmeister er war, in zentralen Dingen doch ewig gleich bleibt. Und weil konstant über ihn gestritten wird, seitdem er die politische Bühne betrat.


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OttovanBismarck1Was man aus einem Buch herausliest, liegt am Leser wenigstens so viel wie an dem, was darin geschrieben steht; was man in einem Bild sieht, ist vom Betrachter so stark bestimmt wie von den verwendeten Farben und dargestellten Motiven. So steht es auch mit denen, die man die großen Männer der Geschichte nennt. Wären auch alle Quellen erforscht, unser Bild von ihnen würde dennoch sich wandeln, weil wir, die Betrachter, uns mit der Zeit verändern. Wir sehen den gleichen Bismarck, die imposante, hochgewachsene Figur in Kürassierstiefeln und Generalsuniform vor dem Reichstag, darauf den kahlen Kopf mit dem markanten Schnauzbart und den tiefen, weichen Augen. Doch dahinter sehen wir ganz verschiedenes.

Der Deutungsstreit beginnt schon zu Lebzeiten. Die Bismarckzeit und die ersten Jahre danach fallen in die Phase des Historismus. Geschichte ist Leitwissenschaft, was vorher Philosophie und Theologie gewesen, später die Naturwissenschaft werden sollte. Sie bestimmt den Deutungshorizont des politischen Geschehens. Die Nation, vital und siegesstolz, besinnt sich auf die eigene Historie, wirkliche und geglaubte, germanische Sagen, Mittelalter, Waldromantik. Arminius, Siegfried, Kaiser Barbarossa: Das ist der Referenzrahmen, in den der Alte aus dem Sachsenwald eingefügt und bald selbst zum Mythos erhoben wird. Noch im dichterischen Nachruf Fontanes, der an sich kein Bismarckfreund war, klingt das durch:

Und kommen nach dreitausend Jahren
Fremde hier des Wegs gefahren
Und sehen, geborgen vorm Licht der Sonnen
Den Waldgrund in Epheu tief eingesponnen
Und staunen der Schönheit und jauchzen froh,
So gebietet einer: Lärmt nicht so! –
Hier unten liegt Bismarck irgendwo.

 

Junker und Bürgersohn

In Bismarcks Jugend standen die Zeichen noch anders, war die Zeit der Philhellenen, der Liebe zur Antike. Damals hätte man andere Vergleiche zur Hand gehabt und vielleicht bessere. Eine so vielschichtige Figur wie den listenreichen Odysseus von Ithaka kennt die germanische Mythologie nicht; die germanische Historie wohl nur, wenn man Hermann den Cherusker so deutet wie Kleist in seinem Befreiungsstück. Bismarck selbst war jedenfalls mehr bei den Klassikern zuhause, den griechischen, den römischen, die las man damals an den königlich-preußischen Lehranstalten. Über seine Schulerfahrungen und frühen Prägungen berichtet er auf den ersten Seiten seiner Memoiren.

„Als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts verließ ich 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, dass die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, einem dauernd zu gehorchen, während ich von den Erwachsenen manche bittre oder geringschätzige Kritik über die Herrscher hören konnte. Dazu hatte ich von der turnerischen Vorschule mit Jahnschen Traditionen (Plamann), in der ich vom sechsten bis zum zwölften Jahre gelebt, deutsch-nationale Eindrücke mitgebracht. Dieselben blieben im Stadium theoretischer Betrachtungen und waren nicht stark genug, um angeborene preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen. Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Harmodius und Aristogiton sowohl wie Brutus waren für mein kindliches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder. Jeder deutsche Fürst, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urteilen und natürlich zu finden, dass der Siebenjährige Krieg sich vorbereitete.“

Die Gedanken und Erinnerungen sind für die Nachwelt geschrieben, Bismarcks Selbstbeschreibungen immer mit Vorsicht zu gebrauchen. Dennoch blitzt hier einiges auf, was an ihm typisch ist, Geist und Witz, Ironie gegen sich und gegen andere. Standestypisch war das nicht. Bismarck war zwar preußischer Landjunker und trat betont als solcher auf, wahrte jedoch zugleich zu seinen Gutsnachbarn eine gewisse Distanz. Ganz einer der ihren war er nicht; seine Mutter stammte aus bürgerlichem Hause, das Beamte und Professoren stellte. Die Beziehung zu ihr war nicht eben harmonisch – „Als kleines Kind hasste ich sie, später hinterging ich sie mit Falschheit und Erfolg.“ Dennoch: Bürgerliche Ideen zählten mit zu seinem Erbe, und der geschilderte Widerstreit der Ideen, Vernunft und Autorität, Nation und Monarchie, dürfte einen realen Hintergrund durchaus gehabt haben. An der Freiheit des Geistes lag ihm viel. Die Dichter, die er am liebsten las, Shakespeare, Schiller, schätzte er ihres Stils und Geistes wegen, nicht weil sie stets obrigkeitstreu geschrieben hätten.

Ein nur zufällig auf einen pommerschen Gutshof geborener Intellektueller war er freilich auch nicht. Den Machtinstinkt der Junker hatte er gleichfalls geerbt, die harte, bisweilen rücksichtslose Vertretung ihrer, seiner Interessen wurde zu seinem ersten politischen Engagement. Seinem starken Tätigkeitsdrang fehlten anfangs freilich Basis und Richtung; sich in feste Strukturen einzufügen fiel dem jungen Mann schwer. Als Schüler ist er mittelmäßig, an der Universität fällt er mehr durch Sauf- und Fechtlust auf als durch Lernfleiß; die Verwaltungslaufbahn, wofür ihn die Mutter als zweitgeborenen Sohn vorsah, verläuft nicht eben erfolgreich, und der Endzwanziger, nun vom Vater mit der Verwaltung einiger Güter betraut, verlebt eine trübe, einsame Zeit auf dem Land, ersäuft im Alkohol. Das Junkerdasein allein ist ihm auch zu wenig; das öde Leben in der Provinz macht ihn depressiv. „Seitdem sitze ich hier, unverheiratet, sehr einsam, 29 Jahre alt, körperlich wieder gesund, aber geistig ziemlich unempfänglich, suche meinen Untergebenen das Leben in ihrer Art behaglich zu machen, und sehe ohne Ärger an, wie sie mich betrügen. Des Vormittags bin ich verdrießlich, nach Tische allen milden Gefühlen zugänglich. Mein Umgang besteht in Hunden, Pferden und Landjunkern, und bei Letzteren erfreue ich mich einigen Ansehens, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit lesen kann, mich zu jeder Zeit wie ein Mensch kleide, und dabei ein Stück Wild mit der Accuratesse eines Metzgers zerwirke, ruhig und dreist reite, ganz schwere Zigarren rauche und meine Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trinke. Denn leider kann ich nicht mehr betrunken werden, obschon ich mich dieses Zustandes als eines sehr glücklichen erinnere. So vegetiere ich fast wie ein Uhrwerk, ohne besondere Wünsche oder Befürchtungen zu haben; ein sehr harmonischer und sehr langweiliger Zustand.“

Aus der Lebenskrise hilft ihm die Ehe mit der guten Johanna, die Ruhe und Orientierung gibt, auch durch die Bindung zum christlich-pietistischen, konservativen geistigen Umfeld, in dem er sich fortan bewegt, der Familie seiner Schwiegereltern, der von Puttkamer, den Brüdern Gerlach, dem Professor Friedrich Julius Stahl. Deren Verbindungen eröffnen ihm die Chance zum politischen Engagement; das beginnt 1847 als Nachrücker im Vereinigten Landtag. Die drei Standpfeiler seines Lebens sind nun beisammen, Ehe, Glaube, Politik; nun erst werden Person und Zeitlauf eins, gibt es den Bismarck, den wir aus den Geschichtsbüchern kennen.

Der steht politisch auf der äußersten Rechten, schreibt für die Kreuzzeitung, gibt den Königstreusten der Königstreuen, wobei er in der Krone zuerst die Interessenvertretung des Adels sieht, der sie stützt. Als Parlamentsredner macht er sich durch scharfe Formulierungen und radikale Positionen einen Namen.

 

Der lange Weg zur Macht

Radikal ist auch seine Reaktion, als im Frühjahr 1848 in Berlin die Revolution ausbricht – ein Schlüsselereignis seines Lebens. Bismarck lässt die Gewehre zählen, will seine Bauern bewaffnen und mit einer Privatarmee gegen die Demokraten in der Hauptstadt zu Felde ziehen. Bei Hof redet man ihm das Abenteuer aus; dort setzt man auf Ermüdung und darauf, dass die Revolution sich erschöpfen und dann mit weniger Blutzoll aus der Welt zu schaffen sein wird; wie später geschehen. Bismarcks Ruf aber wird durch die Episode noch gestärkt. Des Königs Urteil ist einschlägig: „Roter Reaktionär, riecht nach Blut. Nur zu gebrauchen, wo das Bajonett schrankenlos waltet.“ In den Kreis der Vertrauten bei Hofe, mit der Majestät sich gelegentlich berät, die „Kamarilla“, findet Herr von Bismarck-Schönhausen dennoch Aufnahme. Und macht im Windschatten des Königs Karriere, wird, ohne vorherige diplomatische Laufbahn, preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt, dem zentralen Gremium des Deutschen Bundes, in dem die deutschen Staaten unter dem Präsidium Österreichs organisiert sind. Der zunehmende Dualismus zwischen Preußen und Österreich wird für acht Jahre Bismarcks Hauptbeschäftigung und lässt ihn, traditionell eigentlich ein Verfechter der konservativen Heiligen Allianz zwischen Wien, Berlin und Petersburg, später den offenen Konflikt suchen. „Ich war gewiss kein prinzipieller Gegner Österreichs“, schreibt er Anfang der 1850er an den damaligen Ministerpräsidenten in Berlin, „als ich hierherkam vor vier Jahren, aber ich hätte jeden Tropfen preußischen Blutes verleugnen müssen, wenn ich auch nur eine mäßige Vorliebe für das Österreich, wie seine gegenwärtigen Machthaber es verstehen, hätte bewahren sollen.“ Österreich und Preußen pflügten, meinte er, in Deutschland den gleichen Acker; Platz sei dort nur für einen von beiden.

Von seinen alten Weggefährten trennt sich Bismarck über diese Frage. Die denken Außenpolitik in ideologischen Kategorien, sehen die Freundschaft mit dem legitimen Kaiser von Gottes Gnaden in Wien als ewig und unverrückbar, ebenso wie die Feindschaft mit dem Usurpator, der neuerdings in Paris herrscht, dem selbsternannten Kaiser Napoleon III. Bismarck denkt nicht in Freund-Feind-Kategorien, sondern in Interessen; für etwas anderes sich zu schlagen, sei einer Großmacht unwürdig. In einem Brief schreibt er einmal: „Die Interessen des Vaterlandes dem eigenen Gefühl von Liebe und Hass gegen Fremde unterzuordnen, dazu hat meiner Ansicht nach selbst der König nicht das Recht, hat es aber vor Gott und nicht vor mir zu verantworten.“ Den Interessengegensatz mit Österreich zum – wahrscheinlich kriegerischen – Austrag zu bringen wird zu einem Leitmotiv seiner Politik. Was freilich durchaus nicht ausschließt, wenn der Gegensatz einmal geklärt ist, mit Wien wieder zu einem guten Miteinander zu finden.

Vorerst muss er damit warten. Denn Konflikte sucht der neue Monarch an Preußens Spitze, der Prinzregent, später König Wilhelm, gleichfalls ein alter Konterrevolutionär von 1848, anfänglich durchaus nicht. In die Linie der neuen Ära, Versöhnung nach innen und nach außen, passt Bismarck nicht mehr. Außerdem misstraut ihm der Monarch, der ihn als zu wild und gefährlich einschätzt. Er wird ehrenvoll abgeschoben, als Gesandter erst in Petersburg, dann in Paris. Die Perspektive auf ein Regierungsamt, etwa das des Außenministers, die in den 1850ern durchaus bestand, scheint verloren. Erst als die neue Linie sich festfährt, wird Bismarck wieder interessant. Preußen hat seit der Revolution Verfassung und Parlament. Mit der Kammer gerät der König nun in Streit über die Heeresreform, letztlich und im Kern darüber, wer in der Heerespolitik das Sagen hat: Krone oder Parlament. Wilhelm, zeitlebens Soldat, will sich die Macht nicht nehmen lassen; als der Konflikt nicht gelöst werden kann, steht er vor der Abdankung. Da erscheint Bismarck auf der Szene, von Roon, dem Kriegsminister, eilig herbeigerufen; bietet sich als Diener der Krone an, treu bis zum Schafott.  Seine Ernennung zum Ministerpräsidenten soll eine Kampfansage an die liberale Kammermehrheit sein. Der König, tief verzweifelt, lässt sich überreden. Bismarck tritt sein Amt an – und behält es wider Erwarten siebenundzwanzig Jahre.

 

Die großen Erfolge

Bismarck beginnt  als Konfliktminister und bleibt es im Grunde bis zum Ende. Außenpolitische oder innenpolitische Krisen prägen seine ganze Amtszeit; man wird den Verdacht nicht los, dass er sie brauchte, zur Sicherung seiner eigenen Stellung, prekär, wie sie war, ohne einen Stand, eine Partei, eine mächtige Fraktion bei Hofe hinter sich. In der Krise blieb er unentbehrlich; jedenfalls für Wilhelm I., solange der regierte. Den Verfassungskonflikt beendet Bismarck siegreich – genauer: hält ihn in der Schwebe, bis nach den Erfolgen von 1866 die Stimmung allseits eine ganz andere ist und die Kammer in der Sache weitgehend nachgibt; die Fragen der Zeit, schien es, wurden eben doch durch Eisen und Blut entschieden, nicht durch Reden und Mehrheitsbeschlüsse. Das innenpolitische Patt und die Rückendeckung des bedrängten Königs geben Bismarck den Freiraum für die Abarbeitung seiner eigentlichen, außenpolitischen Agenda.

Im Grunde ist es die gleiche Agenda, die seit der Revolution an der Tagesordnung war. Das kleindeutsche Reich unter preußischer Führung stand 1848/49 und in modifizierter Form noch einmal 1850 in Erfurt schon einmal deutlich am Horizont. Es war nicht Bismarcks Erfindung. Auch nicht die Hindernisse, die damals und auch in den 1860er Jahren im Wege standen und die er nacheinander überwand: Nationalitätenfragen, der Dualismus mit Österreich, die Intervention der Großmächte. Dass das kriegerisch geschehen musste, war wohl nur im zweiten der drei Fälle von vornherein klar. Der Schleswig-Holstein-Konflikt, eigentlich eine regionale Episode, war die Wiederholung der gleichen Konstellation von 1848, nur mit dem Unterschied, dass Bismarck die Einmischung anderer Großmächte zu verhindern wusste, indem er die Kriegsziele klar begrenzte – den Krieg auf einen Kabinettskrieg im Stile des 18. Jahrhunderts reduzierte und nicht zu einem Nationalkrieg eskalieren ließ.

Auf den Konflikt mit Österreich dagegen arbeitet er gezielt hin, instrumentalisiert den Zollverein gegen Wien, verhindert eine Reform des Deutschen Bundes auf eine zeitgemäßere Struktur hin. Der Weg ist für Bismarck ein recht einsamer. Der deutsche Bruderkrieg ist, anders als die Kriege von 1864 und 1870, im Volk nicht beliebt; auch der König will ihn im Grunde nicht. Nicht ohne List und Täuschung und gezielte Provokation gelingt es schließlich: Österreich und der größere Teil des Deutschen Bundes machen gegen Preußen mobil. Der Krieg endet schnell und siegreich – was vorher durchaus nicht sicher schien – durch überlegene Waffen und Moltkes geschickte Aufmarschlogistik; auch dadurch, dass Frankreich im Westen neutral bleibt.

Beim Weg zum Frieden steht Bismarck wiederum allein, nur sind die Vorzeichen umgekehrt. Sein Friedensplan sieht vor, dass Österreich aus Deutschland ausgeschlossen und von Preußen dort verdrängt, aber ansonsten, am eigenen Vermögen und Territorium, geschont wird. Ein gedemütigtes, revanchistisches Österreich wäre für Preußen ein schwerer diplomatischer Ballast – darum ein milder Friede; und auch, um einen schnellen Friedensschluss zu erreichen, ehe sich nicht doch weitere Mächte zur Intervention bemüßigt fühlen. König Wilhelm sieht die Lage anders, denkt traditioneller: Ein siegreicher Krieg hat mit der Besetzung der feindlichen Hauptstadt, mit Gebietsabtretungen und Reparationen zu enden. In harten Kämpfen, unter heftigen Drohungen, auch mithilfe des Kronprinzen Friedrich, mit dem er ansonsten politisch verfeindet war, gelingt es Bismarck schließlich, den König zu überzeugen. Diese Stunde im mährischen Nikolsburg und der nachfolgende kluge Friede bildet für viele das Glanzstück in der an Höhepunkten nicht armen Serie diplomatischer Erfolge Bismarcks.

Gebietsgewinne gibt es zum Ausgleich anderswo: Die kleineren deutschen Staaten, die mit Österreich den Krieg gegen Preußen wagten, müssen bluten. Zum Teil verschwinden sie ganz von der Landkarte, wie das alte, ehrwürdige Königreich Hannover. Der Realpolitiker in Bismarck, der auf die Landverbindung zu den preußischen Rheinprovinzen schielt, ist in diesem Fall – wieder einmal – stärker als der Legitimist. Der beschränkt sich auf die Treue zum eigenen Monarchen. „Ich bin meinem Fürsten treu bis in die Vendée, aber gegen alle anderen fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie zu heben.“ Von seinen alten konservativen Freunden entfernen ihn die Annexionen von 1866 noch weiter. Von der Masse der preußischen Konservativen freilich nicht; die sehen im Verschlingen anderer Länder eine schon seit Friedrich dem Großen geübte gute Tradition.

 

Die Reichsgründung

Das Ergebnis von 1866 ist eine Dreiteilung dessen, was vorher der Deutsche Bund war. Österreich mit seinen deutschsprachigen Gebieten scheidet aus und geht fortan eigene Wege. Nördlich der Mainlinie entsteht der Norddeutsche Bund aus dem vergrößerten Preußen, Sachsen und einer Vielzahl von Kleinstaaten – mit eigenem Parlament und eigenem Kanzler, einem Titel, den Bismarck nun neben dem des Ministerpräsidenten führt. Dazwischen liegen die vier süddeutschen Staaten: Hessen-Darmstadt, Baden, Württemberg und Bayern – mit Preußen durch Militärbündnisse verbunden, aber unabhängig. Eine großpreußische Hegemonie in Deutschland, das Ziel, das dem Machtpolitiker Bismarck vorschwebte, ist damit erreicht. Ein Deutsches Reich noch nicht. Ob dieser Zustand auf Dauer angelegt war, ob er hätte andauern können, ist unsicher.

Dass er nicht andauerte, lag auch an Bismarck, aber keineswegs nur an ihm. Der Weg in den Krieg von 1870 ist nicht so geradlinig wie in den von 1866. Dass es gegen den preußischen Machtblock in Europa Widerstände gab, war durchaus zu erwarten. Auch Frankreich und Russland hatten lebhaftes Interesse an einer Mitgestaltung der deutschen Frage. Aus St. Petersburg, immerhin, war aktiver Widerstand noch nicht zu fürchten. Russland war noch vom Krimkrieg geschwächt, zudem traditionell ein enger Partner Preußens; die konservativen Monarchien standen sich nahe und hatten überdies – beide Profiteure der polnischen Teilungen, beide mit polnischen Untertanen, denen man einen eigenen Staat zu verwehren gedachte – gemeinsame Interessen.

Mit Frankreich stand es anders. Das Zusammenspiel zwischen Bismarck und Napoleon III. war zunehmend schwieriger geworden. Gegenleistungen für ihr Stillhalten 1866, etwa in Form Luxemburgs, hatten die Franzosen nicht erhalten; eine Kette politischer Misserfolge schwächte die Stellung des Kaisers in Paris, Regierung und Parlament drängten auf ein schärferes Vorgehen gegen das aggressive Preußen. So dass sich die Atmosphäre mehr und mehr aufhitzte und der Krieg zunehmend in der Luft lag. Der Nationalismus auf beiden Seiten trug seinen Teil dazu bei. Bismarck war kein Nationalist, er dachte in Interessen, nicht in Ideen; aber die Volksstimmung und die Haltung der Nationalliberalen waren Variablen, mit denen er rechnen, auf die er seine Politik abstimmen musste.

Keine Seite war wohl von vornherein zum Waffengang entschlossen, aber die Lunte war nun gelegt. Wie der Sprengsatz dann gezündet wurde, mit der Kandidatur eines Hohenzollernprinzen um den vakanten spanischen Thron, dem heftigen Streit darum, überzogenen französischen Verzichtforderungen, der Emser Depesche, ist seit Generationen gründlich erforscht worden. Wann genau Bismarck sich entschloss, den Krieg zu provozieren, weiß man freilich auch heute nicht mit letzter Sicherheit. Jedenfalls versteht er es, der Gegenseite geschickt die Kriegserklärung zu überlassen. Frankreich steht als Angreifer da; die Solidarität der süddeutschen Staaten hat Preußen damit sicher. Auch ist Frankreich – wie vorher Österreich – diplomatisch isoliert; keine Großmacht springt ihm zur Seite, auch Wien sucht keine Revanche für 1866. Die politischen Voraussetzungen für einen militärischen Sieg sind damit geschaffen; das ist Bismarcks Beitrag. Dass der Sieg erkämpft wird, ist dann erneut Verdienst der Heerführer mit dem Feldmarschall von Moltke an der Spitze

Zwischen den militärischen Erfolgen am Anfang, Friedensschluss und Staatsgründung am Ende liegen dann noch quälende Monate. Napoleon III. wird gestürzt; die neue republikanische Regierung will den Kampf zunächst fortsetzen; in Paris bricht der Commune-Aufstand los und lähmt die französische Politik für viele Wochen. Deutscherseits wird nun zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten über die Gründung des Deutschen Reiches verhandelt. Kaiser und Reich sind Dinge, nach denen die Volksstimmung nun im Siegesrausch verlangt. Bismarck nutzt die Symbole geschickt, um das Ergebnis der Verhandlungen zu verschönern, das ein so eindrucksvolles gar nicht ist. Faktisch wird der Norddeutsche Bund um die süddeutschen Staaten erweitert, bleibt aber ein sehr dezentrales Gebilde, in dem die Gliedstaaten weiterhin große Selbständigkeit behalten; kein Vergleich zum französischen, zum britischen Nationalstaat. Der Präsident des Fürstenkollegiums heißt nun deutscher Kaiser, der Bund heißt nun Deutsches Reich – aber in der Substanz ändert sich weit weniger als in den Begriffen. Bismarck ist das im Grunde recht. Die Vorherrschaft Preußens bleibt gewahrt, ohne dass es gezwungen wäre, fortan völlig in Deutschland aufzugehen, wie Friedrich Wilhelm IV., von der Revolution geängstigt, es 1848 noch glaubte geschehen lassen zu müssen.

Tief im Herzen glücklich ist mit dieser Lösung allerdings keiner, und eine echte Freudenstunde, wie man nach den berühmten Gemälden glauben könnte, scheint die Kaiserproklamation in Versailles nicht gewesen zu sein. König Wilhelm kann seinem neuen Titel wenig abgewinnen und trauert um das alte Preußen; die süddeutschen Fürsten – auch Teile der Parlamente – fürchten trotz aller Sonderrechte um ihre Eigenständigkeit und sehen zu viel Zentralismus; die Nationalliberalen wiederum deutlich zu wenig davon. Bismarck schreibt, von den ständigen Kämpfen ausgezehrt, er sehne sich danach, eine Bombe zu sein und den ganzen Bau in Trümmer zu setzen. Otto von Bayern hat die Zeremonie in Versailles in einem Brief an seinen königlichen Bruder mit düsteren Worten beschrieben, aus denen freilich gleichermaßen des Prinzen verletzliche Seele spricht wie die Szenerie selbst. „Ach Ludwig, ich kann Dir gar nicht beschreiben wie unendlich weh und schmerzlich es mir während jener Zeremonie zumute war … Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerisch und herzlos und leer.“

 

Saturiert

Im Siegesjubel geht das freilich zu einem guten Teil unter. Frankreich, der alte Störenfried, ist besiegt und der deutsche Nationalstaat gegen ihn, auf französischem Boden, gegründet. Die Volksstimmung ist eine ganz andere als nach dem preußischen Sieg von 1866; einen milden Frieden dem besiegten Feind gegenüber kann und will Bismarck nicht mehr durchsetzen. Wohl auch, weil er glaubt, dass Frankreich sich mit dem Verlust seiner kontinentalen Vormachtstellung ohnehin nicht wird abfinden können, und den französischen Revanchismus damit als feste Größe in seine Rechnung einsetzt. Frankreich muss eine hohe Kriegsentschädigung zahlen; zugleich annektiert das neue Deutsche Reich Elsass-Lothringen als Reichslande. Letzteres gilt unter den Historikern als einer der schwerwiegendsten Fehler Bismarcks. Freilich sprachen aus damaliger Sicht eine ganze Reihe Gründe dafür, historische und auch strategische. Die Argumente der Generale erwiesen sich übrigens, rein militärisch gesehen, durchaus als richtig, wie sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs an der südlichen Westfront zeigte. Durch die befestigten deutschen Stellungen in den Vogesen gab es für die Franzosen kein Durchkommen.

Nach diesem letzten Gebietsgewinn erklärt Bismarck Preußen und das Deutsche Reich für saturiert, also: befriedigt. Das ist einerseits taktisch geboten, denn die Nachbarn sind vom Umsturz der Machtverhältnisse in Mitteleuropa durchaus beunruhigt; Benjamin Disraeli spricht in London von einer deutschen Revolution, die stärkere Folgen haben werde als die französische. Andererseits spricht alles dafür, dass Bismarck es damit ehrlich meinte. Denn mindestens er war 1871 durchaus saturiert. Bismarck war als preußischer Konservativer in die Politik gegangen, wenn auch keiner, dessen Glaube an politische Ideen sehr stark war. Seine kurz- und mittelfristigen Ziele wechselten durchaus häufig. Doch Preußen nach außen stark und mächtig zu machen und die bestehenden Machtverhältnisse im Innern zu bewahren sind durchaus Grundkonstanten darin. Dabei war er Realpolitiker und zu Kompromissen fähig, und so ist seine Schöpfung von 1871 eben genau das – ein Kompromiss.

Im Innern hieß das Kompromiss mit dem Geist der Zeit, mit Nationalismus und Liberalismus, die anfangs ein- und dieselbe Bewegung waren, aus dem städtischen Bürgertum kamen und dessen Interessen entsprachen. Von Ideen mochte Bismarck wenig halten, das Bürgertum und seine zunehmende wirtschaftliche Macht war eine Realität, die man nicht übersehen konnte. Die Revolution von 1848 hatte Bismarck erlebt. Ihre Wiederholung konnte er vermeiden, indem er sich – als „weißer Revolutionär“ – an die Spitze der Bewegung stellte, die Revolution von oben selber machte und mit dem Geist der Zeit Kompromisse einging – freilich in der Form mehr als in der Sache und nur so weit, dass er und die Seinen am Ende doch am Ruder blieben; dem Volk so viel Demokratie zu geben, wie es die Königsherrschaft vertrug; und so viel Nation, dass Preußen am Ende doch Preußen bleiben konnte.

Wenn auch sehr in Bismarcks Sinne, waren die Kompromisse doch keineswegs substanzlos. Das politische System, dem er nun als Reichskanzler vorstand, gab den Liberalen sehr viel von dem, worum sie 1848 gestritten hatten: Verfassung, Parlament, zuverlässige Gerichtsbarkeit. Zwar, die Regierung blieb von Kaisers Gnaden, der Reichstag hatte wenig Gestaltungsmacht; aber immerhin Blockademacht und damit auch Verhandlungsmacht. Bismarck selbst bekam es in den neunzehn Jahren als Reichskanzler deutlich zu spüren, musste sich mit den Parteien herumärgern, Verhandeln, Überzeugen, Erpressen, Intrigieren, um die nötigen Mehrheiten zu organisieren. – Der Staat nun, den Bismarck gründete, war ein Nationalstaat, der nicht alle Deutschen umfasste, der rechtlich auch eher locker konstruiert war und den Einzelstaaten große Teile ihrer Souveränität beließ. Doch ein Nationalstaat gleichwohl. Der war viel, viel größer als die preußischen Kernlande, in denen Bismarcks Standesgenossen den Ton angaben. Aber doch so gebaut, dass die politische Macht schlussendlich in ihren Händen lag. Am Ende glich das verschachtelte Gebilde einem System von Aktiengesellschaften, in dem eine Minderheit des engagierten Kapitals die Entscheidungsgewalt behält. Adel und Militärmonarchie regierten das alte Preußen; Ostelbien wiederum dominierte auch das westwärts erweitere Groß-Preußen von 1866; dieses wiederum beherrschte durch sein Schwergewicht das Deutsche Reich, und jenes – seit 1879 – den Zweibund mit Österreich und damit im Grunde ganz Mitteleuropa. So dass eine im Niedergang begriffene kleine Elite, die preußischen Junker, die politische Richtung ihrer Zeit vorgab, deren ökonomischer Takt doch immer mehr von der Großindustrie bestimmt wurde.

Das konnte nicht ewig dauern, so viel musste Bismarck klar sein, trotz aller kunstvoller Verrenkungen, die er unternahm. Wenn Bismarck auch saturiert war, war es doch die Mehrheit der Deutschen auf die Dauer nicht. Den Zustand von 1871 für immer einzufrieren, das musste misslingen. Kräfte, die auf Veränderung drangen, suchte er mit Kampf, List und Kompromiss zu überwinden: Zentrum, Sozialdemokratie, großdeutsche Nationalisten und Kolonialenthusiasten. Die ständige Kampfsituation, das Erklären der Gegner zu Reichsfeinden trug zur nervösen, oft vergifteten Atmosphäre der Bismarckzeit bei. Dass sein Politikstil nicht sehr geeignet war, im neuen Reich eine gesunde politische Kultur zu entwickeln, liegt auf der Hand, und man hat Bismarck mit Blick auf Späteres oft vorgehalten, dass er die Deutschen nicht zu politisch erwachsenen Bürgern und den Reichstag zu einem funktionierenden Parlament erzog. Wobei zu fragen wäre, ob es denn ernstlich Sache eines preußischen Junkers sein konnte, solche Erziehung zu leisten, und ob es sich die Parteien im Schatten des großen Mannes nicht gar zu bequem machten.

Übrigens fielen in den neunzehn Jahren der Kanzlerschaft, trotz autoritärer Führung und trotz ständiger Nervosität, weiterhin Neuerungen an, die an Bismarck mit Recht gerühmt werden. Die ersten Jahre nach der Reichsgründung sind Jahre, in denen der neue Staat erst eigentlich Substanz annimmt; Vereinheitlichungen, Maße, Gewichte, Münzwesen, Justiz, tragen erheblich zu dem Boom bei, durch den Deutschland zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zur führenden Industrienation wird. Früchte von Bismarcks späteren politischen Kämpfen sind Zivilehe, Scheidungsrecht, Sozialgesetzgebung. Anderswo mussten diese Fortschritte in blutigen Aufständen erkämpft werden; in Bismarcks Preußen kamen sie als Reform von oben. Ob sie von Herzen kamen oder als taktische Kompromisse mit dem Geist der Zeit, macht im Ergebnis kaum einen Unterschied.

 

Was bleibt?

Viel von dem, was Bismarck einst schuf, hat die Zeiten überdauert. Auch den deutschen Nationalstaat gibt es noch, obwohl innerlich und äußerlich gegenüber dem von 1871 in stark veränderter Gestalt. Seine Geschichte fängt wohl oder übel mit Bismarck an. Worauf es dem Reichsgründer allerdings wirklich ankam, Königs- und Adelsherrschaft, Preußens Machtstreben, das europäische Mächtesystem, hat nicht überlebt; all das ging eine Generation nach ihm unter. Seine Gründungen waren oft Gründungen gegen die Zeit, nicht mit ihr, und dauerten nicht viel länger, als der große Genius da war, den Lauf der Zeit umzulenken, so gut es ging.

Historische Gestalten danach zu beurteilen, ob sie vor Generationen schon die Ideen vertraten, die sich derzeit als Sieger der Geschichte betrachten, wäre freilich vulgäre Selbstüberhöhung der Gegenwart. Bismarck wusste sehr wohl um die Vergänglichkeit solcher Siege, rechnete für sein Werk selbst nicht mit langer Lebensdauer. Das berühmte Wort, wonach man nur Gottes Gang durch die Geschichte verfolgen und sich im rechten Moment an seinen Mantel klammern könne, hat man ihm gelegentlich als Pose und gespielte Bescheidenheit ausgelegt. Das war es wohl auch; aber man findet solche skeptischen, von christlicher Demut geprägten Bilder immer wieder, auch in privatesten Äußerungen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er daran glaubte.

Gewiss sind Bismarcks Ideen nicht mehr unsere, so wenig wie Goethes Ideen oder Luthers Ideen. Bismarck war vor allem preußischer Klassenpolitiker, wenn auch kein ganz typischer. Preußen gibt es nicht mehr und auch seine Junker nicht; verglüht im Feuersturm des Jahres 1945 und vorher schon einen quälenden inneren Tod gestorben. Auch von der wilhelminischen Generation der Bismarckverehrer trennen uns Welten. Dass man Bismarck mit den hunderten Denkmälern und dem Bild, das man von ihm zeichnete – und an dem er selber mitmalte – nicht wirklich einen Gefallen tat, ist mittlerweile Allgemeingut. Die mythische Überhöhung hat das Bismarckbild am Ende mehr verdunkelt als erhellt. Wie seine Denkmäler, Kriegerfigur, mit Schwert und Schild oder prachtvoll zu Pferde – so war er ja nicht. Diplomat, Taktiker, „Magier der Macht“, das wohl; ein Krieger, eine Heldenfigur kaum. Odysseus eben; nicht Achill.

Ein böses Wort, mit dem man Bismarcks Herrschaftsstil bedacht hat, lautet cäsaristisch. Dass er kein Mann war, die Macht zu teilen, dass unter allen Zielen der Erhalt der eigenen Stellung ihm mit der Zeit – wie bei den meisten Politikern – das wichtigste wurde, ist wohl richtig. Dennoch ist das Bild schief. Die Cäsarenherrschaft ruhte auf der Macht der Waffen; nicht selten wurde der Herrscher durch das Heer ausgerufen. Bismarck hat nie die bewaffnete Macht befehligt oder danach gestrebt. Das Heer gehorchte in Preußen allein der Krone; Bismarck selbst hatte im Verfassungskonflikt der 1860er dafür gesorgt, dass es so blieb. Für die Militärs blieb Bismarck, trotz des Generalstitels, den man ihm wie anderen hohen Politikern der Form halber verlieh, immer ein Fremder; regelmäßig lag man im Streit, selbst in den großen Tagen von 1870. Eigentlich diktatorische Macht hat Bismarck kaum je besessen. Was man auch daran erkennt, wie leicht es Wilhelm II. am Ende fiel, den Kanzler nach neunzehn Jahren im Amt zu entlassen.

Zum Kriegerbild passt Bismarck auch charakterlich und körperlich nicht. Seine glänzend geschriebenen Briefe zeigen uns einen anderen Menschen – einen feinsinnigen Intellektuellen, klug, tiefsinnig; freilich immer ein wenig traurig, verletzlich, dabei oft selber verletzend, boshaft und zynisch; liebevoll zu seiner Frau, zu Tieren und Bäumen; voll Hass, auch nachtragendem, auf Vernichtung angelegten Hass auf seine Feinde; im Rahmen der politischen Vernunft aber auch imstande, diesen Hass zu mäßigen. Die Schilderungen zeigen ihn auch als Mann von einer starken Körperlichkeit, geplagt von Krankheit und Schmerz, freilich teils herbeigeführt durch den eigenen unmäßigen Suff und Fraß. Psychologen haben wohl viel davon hergemacht und Querverbindungen gezogen zu seiner Freude am Verschlingen, dem Erwerb von Besitz, Geld, mehr aber noch von Land, und der traditionellen preußischen Landgier und dem Annektieren fremder Erde.

Viel interessanter als Hass und Gier, die Bismarck hatte, ist aber, wie er sie zügelte und wie dennoch der Ausgleich zum wesentlichen Stilmittel seiner Politik wurde. Die nachfolgenden Generationen haben das Wort Realpolitik sehr einseitig verstanden: Dass der deutsche Michel, nachdem er sein Haupt lange Zeit in den Wolken getragen, derweil die anderen die Welt unter sich aufteilten, nun seine Interessen brachial durchzusetzen habe. Das mit den Interessen hätte Bismarck unterschrieben; die brachialen Mittel nicht. Sein Instrumentarium war viel größer; die Interessen des Gegenübers zu verstehen, in sein System geschickt einzubauen war viel häufiger sein Erfolgsmittel als blanke Gewalt, politische oder militärische. Bismarck konnte dreinschlagen, das gewiss; doch er konnte auch und viel öfter geschmeidig überreden, schmeichelnd den Gegner überspielen – und bisweilen, natürlich, intrigieren und erpressen. Die politische Leidenschaft, meinte er einmal, habe all seine anderen aufgezehrt. Aber politische Leidenschaft hieß für Bismarck nicht Fanatismus, sondern Liebe zum politischen Handwerk; er machte Politik, wie ein Maler malt, ein Tonsetzer komponiert, ein Dichter schreibt. Die Ideen, an denen er mit schwachem Glauben hing, sind abgetan; die Interessen, die ihm wichtiger waren, mit dem alten Preußen untergegangen. Was Bismarck aber ewig bleiben wird, so sehr unsere Deutung der Vergangenheit auch schwankt und schwanken wird, ist eben dies: ein genialer Handwerker, ein Künstler der Macht.


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