Das Rätsel

Sein Tod leitete die Katastrophe ein: Erzherzog Franz Ferdinand, Thronfolger von Österreich-Ungarn. In der Erinnerung verschwand hinter dem Anschlagsopfer alsbald der Mensch; auch weil Franz Ferdinand ein widersprüchlicher Charakter war, über den ein Urteil nicht leicht zu fällen ist. Vielen bleibt er bis heute ein Rätsel.


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Raetsel_1Eigentlich hätte der Mann, der am 28. Juni 1914 in Sarajevo starb, nie Thronfolger werden sollen. Als Sohn des jüngeren Kaiserbruders Carl Ludwig wären in der Rangfolge einige vor ihm gekommen. Doch die vielen Unglücke und Todesfälle in der Endphase der Habsburgermonarchie brachten ihn in diese Stellung, trotz einer schweren Tuberkulose-Erkrankung, trotz des Streits um seine nicht standesgemäße Ehe. 1914 war er unumstritten der kommende starke Mann, da der Tod des alten Kaisers Franz Joseph bald erwartet wurde.

Gewaltmensch und Familienvater

Auf die Herrschaft vorbereitet war Franz Ferdinand nur in Teilen; die für mutmaßliche Thronfolger vorgesehene Ausbildung etwa in Sachen Staatsrecht und Verwaltung hatte er nicht genossen und später nicht nachholen können, nur die Karriere im Heer absolvierte er recht erfolgreich und erwarb sich in diesem Bereich einige Kompetenz. Von der eigentlichen Macht hielt ihn der Kaiser noch fern, nur zu einer gewissen Mitsprache gelangte er in der Militär- und Außenpolitik. Wie Franz Ferdinand regiert hätte, wäre er zur Macht gelangt, ist daher naturgemäß Spekulation; aber Anhaltspunkte gibt es.

Über den mutmaßlichen Stil der Herrschaft lässt sich einiges aus den bekannten Charakterzügen des Erzherzogs ableiten, die er, jenseits der fünfzig, wohl auch auf dem Thron kaum abgelegt hätte. Er galt als herrisch und aufbrausend, misstrauisch und nachtragend, Widerspruch nicht duldend, Fehler nicht verzeihend, überdies mit einer dunklen Neigung zur Gewalt, rhetorisch ebenso wie körperlich, wobei er letzteres auf der Jagd an Tieren ausließ. Gewiss, die Jagd war damals bei den Adeligen ein beliebter Sport; aber bei Franz Ferdinand erreichte sie mit nach seinen eigenen Aufzeichnungen fast 275.000 erlegten Stück Wild die Ausmaße einer Sucht. Bei der Biographin Alma Hannig hinterlässt sie den Eindruck, „als hätte der Thronfolger sein Gewehr wie eine Art Fotoapparat benutzt. Alles, was er gesehen hat, was ihn fasziniert, überrascht oder irritiert hat, wurde niedergeschossen, eingesammelt und diente als Erinnerungsstück.“

Kein sehr sympathischer Eindruck ist es, den Franz Ferdinand hier vermittelt. Freilich ist das nur die eine Seite. Daneben gibt es den Familienvater, den liebenden Ehemann, man kann durchaus sagen: den Romantiker. Eine der Vernunftehen, die das Habsburgerreich groß gemacht haben, lehnt er für sich ab. Seine Wunschgattin ist Sophie Gräfin Chotek. Obgleich von altem böhmischem Adel, gilt sie den Habsburgern nicht als ebenbürtig. Eine Heirat scheint ausgeschlossen. Der Kaiser stellt seinen Neffen vor die Wahl: Verzicht auf den Thron oder Verzicht auf Sophie. Franz Ferdinand reagiert verbittert: „Wenn unsereiner jemanden gern hat, findet sich immer im Stammbaum irgendeine Kleinigkeit, die die Ehe verbietet, und so kommt es, daß bei uns immer Mann und Frau zwanzigmal miteinander verwandt sind. Das Resultat ist, daß von den Kindern die Hälfte Trottel und Epileptiker sind.“ Es folgt ein langer Streit. Am Ende steht der Kompromiss: Die Heirat darf stattfinden, aber es wird eine morganatische Ehe; Sophie wird nicht in die kaiserliche Familie aufgenommen, ihre Kinder sind von der Thronfolge ausgeschlossen. Franz Ferdinand fügt sich. Das Ergebnis ist zwiespältig: Einerseits lebt er ein glückliches Familienleben und bringt trotz der dienstlichen Verpflichtungen die Zeit auf, seinen drei Kindern ein vorbildlicher Vater zu sein. Andererseits bleibt seine Frau von vielen repräsentativen Anlässen ausgeschlossen. Weshalb Franz Ferdinand sich vom Wiener Hof mehr und mehr distanziert.

Autokrat und Friedensfürst

Trotz seiner unkonventionellen Ehe ist Franz Ferdinand ein Habsburger alten Schlages, dem siebzehnten Jahrhundert geistig näher als dem zwanzigsten; Absolutist oder Neoabsolutist, Verfechter des persönlichen Regiments, mit heftiger Abneigung gegen Liberalismus, Parlament und demokratische Mitbestimmung. Dass er die Monarchie als Kaiser reformieren würde, wurde gemeinhin erwartet, aber es wäre eine Reform eher zurück als nach vorne gewesen. Auch was den Ausgleich der verschiedenen Nationalitäten anbelangt, der dringend nötig war. Die Völker der Monarchie lagen in andauerndem Streit. Tschechen und Deutsche, Deutsche und Italiener, Kroaten und Ungarn, Ungarn und Rumänen, Polen und Ukrainer. Man hat Franz Ferdinand gelegentlich nachgesagt, er habe den Dualismus, der zwischen Österreich und Ungarn bestand, weiterentwickeln wollen, hin zu einem Trialismus unter Einbindung der Südslawen, zu einem modernen Föderalismus, gar zu den „Vereinigten Staaten von Großösterreich“ nach der Vision Aurel Popovicis. Daran ist wenig wahr; mit diesen Gedanken spielte er nur. Viel mehr ging es ihm um die Wiederherstellung der Wiener Zentralautorität aus der Zeit vor 1867, vor dem Ausgleich mit den Ungarn, die er aus tiefem Herzen verachtete. „Immer wieder komme ich darauf zurück, was ich immer sage und sagen werde, daß der sogenannte ‚anständige Ungar’ überhaupt nicht existiert und jeder Ungar, ob Minister, ob Fürst, ob Cardinal, ob Bürger, ob Bauer, ob Häusler, ob Hausknecht ein Revolutionär und eine Canaille ist.“

Ein Mann des inneren Ausgleichs war Franz Ferdinand nicht. Ein Mann der Verständigung nach außen schon eher; ehrlich überzeugt, dass die Monarchie zu fragil war, um große Konflikte durchstehen zu können. Feindschaft mit Serbien, Feindschaft mit Russland wünschte er nicht, im Gegenteil. „Eine volle Einigung mit Russland, ein Bündnis der drei Kaiser, die Aufrechterhaltung des Friedens und des monarchischen Prinzips, das ist das Ideal meines Lebens, für das ich immer schwärmen und mit allen Kräften arbeiten werde.“ Von einer kurzen Episode während des ersten Balkankrieges abgesehen trat Franz Ferdinand darum immer für Verständigung ein.

Kriegsvorbereitung sind die Manöver daher nicht, zu denen der Erzherzog Ende Juni 1914 nach Bosnien fährt. Franz Ferdinand freut sich auf die Reise. Es ist der erste Anlass, bei dem er und seine „unebenbürtige“ Frau innerhalb der Donaumonarchie offiziell gemeinsam als Thronfolgerpaar auftreten dürfen.

 


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