Das rechte Maß

Vom Einsiedler-Philosophen Friedrich Nietzsche haben vor allem seine religions- und moralkritischen Spätwerke Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden. Dabei ist seine Frühphase als Kulturphilosoph mindestens genauso erinnernswert und aktueller denn je. Exemplarisch dafür steht sein erstes großes Werk: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.


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2011-11-25 dionysostheater

Dass über die alten Griechen nicht mehr so viel geschrieben würde wie früher, kann man nicht sagen. Die Antike, neben Rom das klassische Athen natürlich voran, gilt immer noch als Königsdisziplin der Historiker; diese Branche boomt nach wie vor, obwohl man eigentlich meinen müsste, dass längst alles gesagt sei zu dieser vergleichsweise kurzen und auf eine geographisch verschwindend kleine Weltgegend beschränkten historischen Epoche.

An Büchern also herrscht kein Mangel. Trotzdem kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass das allgemeine Bild – der normalen Bildungsbürger, nicht der Gelehrten – von den alten Griechen verglichen mit früher nicht reicher, sondern ärmer geworden ist. Genauer gesagt hat es sich halbiert, zum Bild einer fortschrittlichen, geistreichen Kultur, mit zivilisatorischen Errungenschaften wie der attischen Demokratie, und großen Denkern, Thales, Sokrates, Platon und vielen anderen, den Philosophen eben, deren Ideensysteme die Jahrtausende überdauerten; einer lebensfrohen Kultur, der man im Grunde nichts anderes entgegenbringen kann als eine mit Bewunderung angereicherte Sympathie.

Aber diese Kultur hatte auch eine zweite, düstere und pessimistische Seite. „Einerseits findet sich das Gemäßigte und Verständige, andrerseits das Unbändige und Urtümliche. Ersteres bewirkte die Entstehung von Philosophie, Kunst und Wissenschaft, letzteres trat in ziemlich primitiver Religion mit Fruchtbarkeitsriten hervor.“ So sagt es sehr kurz Bertrand Russel. Dieses Janusgesicht ist in der Wahrnehmung merklich in den Hintergrund gerückt; und zwar in dem Maße, wie die altgriechische Sprache und vor allem die griechischen Dramatiker im letzten Jahrhundert aus dem Bildungskanon herausgerückt sind.

Griechische Tragödien sind harter, leidenschaftlicher und grausamer Stoff. Es wird gelitten und gestorben. Markerschütternd, bloß als Beispiel, das Schicksal der armen Antigone von Theben, die ihren Bruder, der die Hand gegen seine Stadt erhob und dabei fiel, rechtmäßig bestatten möchte, um ihm den Eingang ins Totenreich zu öffnen, dafür gegen den Willen ihres Onkels, des Königs, verstößt und in den Tod geht. Sophokles hat daraus ein großes Drama gedichtet, bei dem wie stets Schuld und Verhängnis, Größe und Tragik eng beieinander liegen und die Akteure sehenden Auges in ihr Schicksal gehen, im Beharren auf ihrem göttlichen Recht halb bewundernswert, halb starrsinnig. „Um vieles ist das Denken mehr, denn / Glückseligkeit. Man muss, was Himmlischer ist, nicht / Entheiligen. Große Blicke aber / Große Streiche der hohen Schultern / Vergeltend, Sie haben im Alter gelehrt, zu denken.“ – So schließt der Chor am Ende der Antigone.

Die griechische Tragödie war nun für einen jungen deutschen Denker das Eintrittsbillet in den Olymp der Philosophen: für den Pfarrersohn Friedrich Wilhelm Nietzsche aus dem kleinen sächsischen Dorf Röcken, der hierüber sein erstes Buch schrieb. Für die Griechen schwärmte er seit seinen Jugendtagen in Schulpforta, und die alte Sprache war für ihn als Philologen tägliches Brot. Und so überrascht es wenig, dass er, dem der Weg auf einen Philosophie-Lehrstuhl mangels Ausbildung versperrt war, der aber dennoch philosophieren wollte, den Umweg über das griechische Drama nahm. Sein Leitthema ist genau der tiefe Riss, der durch das Drama und die ganze griechische Kultur geht und den er auf seine Welt, die des späten neunzehnten Jahrhunderts, überträgt.

Dionysos und Apoll

Nietzsche beschreibt in seinem Tragödienbuch dieses Mit-, Neben- und Gegeneinander der beiden Bestandteile des griechischen Dramas mit dem berühmt gewordenen Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen – also dem Widerstreit zwischen dem Hellen und Klaren, dem Licht der Sprache und der Erkenntnis auf der einen, den dunklen, rauschhaften Leidenschaften, dem Mythos, der ungeheuren Erfahrung der Musik auf der anderen Seite. Vereinfacht gesprochen, steht von den beiden Göttern Apoll für die Vernunft, Dionysos für die Leidenschaften.

Beide Triebe zusammen formen den Charakter des Menschen. Und zwar ist dabei, wenn man Nietzsche folgen will, Dionysos immer zuerst da. Die apollinische Vernunft schafft selbst nichts, ist a posteriori aufgesetzt, liefert die Objektivierung im Seienden; die schöpferische Kraft aber liegt im Chaos selbst – bei Dionysos. Dionysisch-ursprünglich in der Tragödie ist der Chor, das Kollektiv, wohingegen Apoll dasteht „als der verklärende Genius des principii individuationis“ – verkörpert im Einzeldarsteller des Dramas. Sichtbar wird dieser Dualismus auch in der Artikulation beider Triebe: Der einzelne spricht, in Versen zwar, aber er spricht doch; der Chor singt. Die Musik ist ein ursprünglicheres Medium als die Sprache. Nietzsche sagt: „Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuren Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nötigte.“ Die Musik ist das Ursprünglichere – so Nietzsche. Aber er geht noch weiter und sagt, dass im Anfang nur die Musik gewesen sei. Denn die Überlieferung „sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprünglich nichts als Chor war.“ Nun, unbestritten ist, dass die attischen Tragödien vor Aischylos nur einen einzigen Schauspieler kannten. Und diese Rolle, meint Nietzsche, sei lange Zeit nur mit Dionysos besetzt gewesen, und wenn andere Figuren aufgetreten seien, so seien sie nur Masken des Dionysos gewesen – er neigte ja dazu, sich zu maskieren, dieser griechische Gott. Bei Sophokles waren es dann schon drei, bei Euripides vier Schauspieler, während der Chor in den Hintergrund trat und zum Zierwerk am Rande wurde. Die Tendenz geht weg vom Kollektiv und hin zum Individuum – auf und außerhalb der Bühne. Da Nietzsche aber sagt, dass „das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann“, weil der schöpferische Geist eben im Unpersönlich-Dionysischen liege, steht er dieser Tendenz ablehnend gegenüber. Am Ende bliebe nur noch das Epos, kaum mehr als ein müder Abglanz, eine sprachliche Hülle, die die Inspiration für ihren Erzählstoff aus der Vergangenheit – der toten Tragödie – beziehen muss. Denn nach Nietzsche „haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. (…) Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos verschieden.“

Das Ende der ursprünglichen Tragödie sieht Nietzsche bereits mit Euripides gekommen. Zum Feindbild hat er sich aber einen Größeren auserkoren: Sokrates, welcher der Sage nach dem Euripides beim Versmachen half. Sokrates steht für den theoretischen Menschen, der an der düsteren Tragödie keinen Gefallen mehr findet; der die apollinische Klarheit schätzt und nur noch verstanden werden will – in gewisser Weise die Vorstufe zum Bild des heutigen Wissenschaftlers. Zweck des Geistes ist die reine Erkenntnis – nach Nietzsche nachgerade verstiegen optimistisch: wer an die Erkennbarkeit aller Dinge glaube, der verkenne bereits alle Dinge. Aber selbst wenn alles erkennbar wäre: Was man völlig erkannt hat, das verliert seinen Reiz. Der grenzenlos-apollinische, auf alle Lebensbereiche, damit auch auf die Kultur übertragene Wunsch nach völliger Erkenntnis muss die Kultur zerstören, denn er vernichtet auch alle Mythen: „Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“ Die so entstehende Kultur heißt bei Nietzsche die alexandrinische, und sie ist eine langsam vergehende Kultur bar jeder Kreativität.

Aber es gibt Hoffnung. Sie liegt, so Nietzsche in der Zurückführung der Tragödie auf die Musik, und zwar die deutsche Musik. „Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat, (…) die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“

Tiger und Panther

Denn Hoffnung hat er zu diesem Zeitpunkt noch. Der Nietzsche, der dieses Buch schrieb, ist noch nicht der verbitterte Einsiedler von Sils-Maria im Engadin, der „amor fati“ predigte und jedes Unglück zynisch bejubelte; es ist noch der junge Professor für klassische Philologie in Basel, der Kollege Jacob Burckhardts und eben der Jünger Richard Wagners aus der ersten Hälfte der 1870er Jahre. Auch sonst gibt es Unterschiede: Die „Geburt der Tragödie“ ist noch ganz klassisch geschrieben, nicht im aphoristischen Stil der Gaya Scienza oder im pseudo-biblischen Prophetentonfall des Zarathustra; essayistisch zwar und ohne Quellenapparat, aber in geschlossener Form. Noch kein „typischer“ Nietzsche in diesem Sinne, was für den ungeübten Leser aber eher von Vorteil ist. Ein weiterer Unterschied zwischen diesem Buch und den Spätwerken ist, dass es eine vergleichsweise große Leserschaft fand; der Zarathustra etwa blieb viele Jahre lang ein Geheimtipp und erlangte erst nach Nietzsches Tod echten Ruhm, das Tragödienbuch wurde schon von den Zeitgenossen wahrgenommen.

Allerdings, das muss man sagen, war die Aufnahme alles andere als freundlich: „Geistreiche Schwiemelei“, befand Nietzsches Mentor Ritschl, und das ist noch eine der wohlwollenderen Kritiken. Den schärfsten Verriss lieferte der später berühmte Philologe Wilamowitz-Moellendorf. Nietzsche hatte, etwas überschwänglich, im Buch ausgerufen: „Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen.“ Der Mann der Wissenschaft antwortet: „Halte Herr Nietzsche Wort, ergreife er den Thyrsos, ziehe er von Indien nach Griechenland, aber steige er herab vom Katheder, auf welchem er Wissenschaft lehren soll; sammle er Panther zu seinen Füßen, aber nicht Deutschlands Jugend, die in der Askese selbstverleugnender Arbeit lernen soll, überall allein die Wahrheit zu suchen.“

Verhaltener, aber in der Tendenz ähnlich ist die Reaktion der übrigen Zunft. Für die Philologen ist Nietzsches Werk kein Ruhmesblatt. Zum einen natürlich, weil es kein eigentlich wissenschaftliches, sondern ein spekulatives Buch, im Kern ein philosophisches Buch ist. Nun, das mochte vielleicht noch hingehen. Zum anderen aber war Nietzsches Frontalangriff auf den sokratischen, den theoretischen Menschen ein Affront gegen die damalige akademische Welt insgesamt, und das vergalt man ihm mit ehrlicher Abneigung – die Nietzsche übrigens erwiderte, noch ganz spät, im Ecce Homo, kann man das, mit Galle geätzt, nachlesen: „Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher ‚wälzt‘ – der Philologe mit mäßigem Ansatz des Tags ungefähr 200 – verliert zuletzt ganz und gar das Vermögen, von sich aus zu denken. Wälzt er nicht, so denkt er nicht.“

In der auf die Veröffentlichung folgenden Debatte findet Nietzsche nur wenige Unterstützer, seinen Freund Rohde etwa, später äußert sich auch Wagner öffentlich, aber im Ganzen bleibt die Resonanz verheerend. An der Universität laufen ihm die Studenten davon, im folgenden Wintersemester verirrt sich kein Philologe mehr in seine Vorlesungen. Es beginnt der lange Abschied von Basel und seinem Wissenschaftlerleben, auch von Wagner, die Reise aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen und hin zur Einsiedelei im Engadin. Quälende Jahre, auch geprägt von schwerer Krankheit, liegen dazwischen. Erst 1879 wird Nietzsche seine Professur aufgeben, sich ganz der Philosophie widmen, seinen eigenen Stil und seine großen Themen finden: die Moral- und Religionskritik, den Tod Gottes, den Übermenschen, die ewige Wiederkehr.

Mehr als eine Ouvertüre

Von all dem findet sich im Tragödienbuch noch kaum eine Spur. Aber es ist doch mehr als eine bloße Ouvertüre zu einem später folgenden Hauptwerk, weil eine Leitlinie erhalten bleibt. Versucht man eine Schneise zu schlagen in den großen Wald der Themen, die Nietzsche beschäftigten, so ist der Ästhetizismus einer der vielversprechendsten Ansätze. Nietzsche ist ein begnadeter Psychologe mit Lust an der Enthüllung bis hin zur Vernichtung. (Vom Philosophen sagt er: „Er ist am nützlichsten, wenn es viel zu zerstören gibt, in Zeiten des Chaotischen oder der Entartung.“) Aus seiner vernichtenden Kritik der Moral als Bündnis der – vielen – Schwachen gegen die – wenigen – Starken kann man sehr schön herauslesen, wie viel Vergnügen es ihm macht, mit dem Hammer zu philosophieren. Neben diese Entlarvungslust tritt aber noch etwas anderes: eine erhabene Standhaftigkeit. Sich von bequem gewordenen Wahrheiten – „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nur als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen“ – zu verabschieden, verlangt nicht nur geistige Flexibilität, sondern auch den Mut, den Gedanken an die neue – unsicherere – Welt, also etwa eine Welt ohne Gott und ohne gesichertes moralisches Fundament, aushalten zu können. Diese innere Stärke fordert das „Werdet hart!“ des Zarathustra, und sie hat ihre ganz eigene, aristokratische Art der Ästhetik, nämlich die Ästhetik des Auserwählt-Seins: Die Übermenschen, die die Wahrheit (im negativen Sinne) auszuhalten vermögen, sind immer nur sehr wenige. Die schwerste denkbare Prüfung sieht Nietzsche im Gedanken von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, also der Abkehr von einem – wie auch immer definierten – Weltziel am Ende der Zeit. Dieses ästhetizistische Moment bildet bei aller Verschiedenheit der Themen das Bindeglied zwischen dem Tragödienbuch und Nietzsches Spätwerken.
Mehr also als eine Ouvertüre – das Leitmotiv bleibt. Das heißt freilich, dass auch die problematischen Teile von Nietzsches Philosophie sich vom Anfang bis zum Ende durchziehen; eine künstliche Trennung in einen „guten“ Kulturphilosophen zu Beginn und einen „bösen“ Moralnihilisten und Alleszermalmer am Ende lässt sich nicht durchhalten.

Schattenlinien

In den gleichen Zeitabschnitt wie die Entstehung des Tragödienbuches fallen welthistorische Ereignisse: 1870/71 findet der deutsch-französische Krieg statt. Daran hat am Rande auch Nietzsche teil, eine halb humorige Episode, denn der kurzsichtige und kränkliche Nietzsche meldet sich gegen alle Vernunft als Freiwilliger. Er begründet seinen Schritt – als Staatenloser ist er zu keinem Kriegsdienst verpflichtet – seiner Universität gegenüber so: „Wenn ich mir auch voll bewusst bin, welcher Kreis von Pflichten in Basel von mir auszufüllen ist, so könnte ich mich – bei dem ungeheuren Rufe Deutschlands, dass jeder seine deutsche Pflicht tue, doch nur mit peinlichem Zwange und ohne wirklichen Nutzen in ihrem Banne festhalten lassen.“

Wenn man von Nietzsches späterem Deutschland-Hass weiß, muss man fast ein wenig schmunzeln über diesen ungestümen National-Heroismus. Man mag sich mit Giorgio Colli, der eine Nietzsche-Edition herausgegeben hat, behelfen, der einmal meinte, Nietzsche habe alles gesagt und das Gegenteil von allem, oder mit dem Nietzscheaner Thomas Mann, der klug analysierte, man könne „sagen, dass Nietzsches Verhältnis zu den Vorzugsgegenständen seiner Kritik schlechthin das der Leidenschaft war, einer Leidenschaft, im Grunde ohne bestimmtes Vorzeichen, denn das negative wechselt beständig ins positive hinüber.“

Wenn er auch dem „ungeheuren Rufe Deutschlands“ willig nachkommt: Große Heldentaten leistet Nietzsche im Kriege nicht, er wird Sanitäter, steckt sich rasch bei den Verwundeten mit der Ruhr an und muss sich erst einmal gründlich auskurieren. Das ändert freilich nichts an seiner philosophischen Einstellung zum Krieg. Dionysische Leidenschaft, da gibt es kein Vertun, kann mitunter auch kriegerisch werden; der Nietzsche dieser Jahre ist, wenn kein Bellizist, so doch von der kulturstiftenden Wirkung des Krieges überzeugt, der zum Selbstzweck werden kann. Später wird er das ganz hart formulieren: „Ihr sagt, die gute Sache sei es, die den Krieg heiligt? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.“ Also sprach Zarathustra.

Das macht Nietzsche verdächtig, auch in dieser Zeit schon, lange bevor man Soldaten eine Taschenausgabe ebendieses Zarathustra mit ins Feldgepäck gab und ein junger Mann aus Braunau neben Wagner auch Nietzsche zu verehren begann. Nimmt man die späteren Jahre aber mit in den Fokus, so erscheinen einem, schreibt Thomas Mann, „Nietzsches Rodomontaden von der kulturerhaltenden und selektiven Funktion des Krieges als die Phantasien eines Unerfahrenen, des Sohnes einer langen Friedens- und Sekuritätsepoche mit ‚mündelsicheren Anlagen’, welche sich an sich selbst zu langweilen beginnt.“

Was Nietzsche für die Bühne, die griechische Tragödie, den Mythos an Leidenschaften für nötig erachtet: Für das tägliche Leben, gerade für die Politik scheint es nicht zu taugen, ja gefährlich zu sein. Nietzsche selbst hat, in der zweiten seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, die in den Jahren nach dem Tragödienbuch entstanden, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, eine Trennung vollzogen und vor den Folgen einer „monumentalistischen“, also ästhetizistisch nach der Mythisierung strebenden Historie gewarnt. „Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen Ähnlichkeiten den Mutigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus; und denkt man sich gar diese Historie in den Händen und Köpfen der begabten Egoisten und schwärmerischen Bösewichter, so werden Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutionen angestiftet und die Zahl der geschichtlichen ‚Effekte an sich’, das heißt der Wirkungen ohne zureichende Ursachen, von neuem vermehrt.“

Zwei Kammern?

Nietzsche zieht ganz folgerichtig die Konsequenz, eine Kultur müsse dem Menschen „gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nichtwissenschaft zu empfinden: nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. In einem Bereich liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden.“

Rüdiger Safranski analysiert dazu in seiner Nietzsche-Biographie: „In Nietzsches Werk blitzt die Idee des Zweikammernsystems immer wieder auf und verschwindet dann – sehr zum Nachteil seiner Philosophie. Hätte er an ihr festgehalten, würde er sich vielleicht einige Tollheiten seiner Visionen der großen Politik und des gattungspolitischen Willens zur Macht erspart haben.“ Mit einer ähnlichen Pointe beschließt Safranski übrigens sein jüngeres Buch zur deutschen Romantik: „Das Romantische ist phantastisch, erfindungsreich, metaphysisch, imaginär, versucherisch, überschwenglich, abgründig. Es ist nicht konsenspflichtig, es braucht nicht gemeinschaftsdienlich, ja noch nicht einmal lebensdienlich zu sein. Es kann in den Tod verliebt sein. Das Romantische sucht die Intensität bis hin zu Leiden und Tragik. Mit alledem ist das Romantische nicht sonderlich für Politik geeignet. Wenn es in die Politik einströmt, sollte es mit einer kräftigen Zugabe von Realismus verbunden sein. Denn Politik sollte sich auf das Prinzip der Verhinderung von Schmerzen, Leid und Grausamkeit gründen. Das Romantische liebt die Extreme, eine vernünftige Politik aber den Kompromiss. Wir brauchen beides: die Abenteuer der Romantik und die Nüchternheiten einer abgemagerten Politik. Wenn wir die Vernunft der Politik und die Leidenschaften der Romantik nicht als zwei Sphären begreifen und als solche zu trennen wissen, wenn wir statt dessen die bruchlose Einheit wünschen und uns nicht darauf verstehen, in mindestens zwei Welten zu leben, dann besteht die Gefahr, dass wir in der Politik ein Abenteuer suchen, das wir besser in der Kultur finden, oder dass wir, umgekehrt, der Kultur dieselbe soziale Nützlichkeit abfordern wie der Politik. Wünschenswert aber ist weder eine abenteuerliche Politik noch eine politisch korrekte Kultur.“

Man darf sich freilich fragen, ob dieses Urteil noch ganz aktuell ist. „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“ – so hat Thomas Mann seinen großen Nietzsche-Aufsatz, aus dem wir oben zitiert haben, überschrieben, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, geprägt von der ungeheuren Zerstörungskraft, die dionysische Leidenschaften entfachen können. Seither sind freilich sechzig Jahre hingegangen, und neue Erfahrungen sind hinzugekommen. Politik läuft, jedenfalls in Europa, heute kaum mehr Gefahr, von überschießenden Leidenschaften verzehrt zu werden. Wachsamkeit mag immer angebracht sein, aber neue Zeiten bringen neue Herausforderungen. Und die Herausforderung liegt für die heutige Politik immer mehr darin, ihre stark versachlichten, fast schon technokratischen Themen – Jobcenter, Gesundheitsprämien, kalte Progression und manches andere – einer immer distanzierteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Die großen, emotionalisierenden Themen sind in Europa spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs abhanden gekommen. Das ist gewiss eine Chance – für Pragmatismus. Aber auch eine Gefahr – denn mit Technokratie allein lässt sich keine Begeisterung erzeugen. Es ist zu kurz gedacht, das nachlassende Interesse der Bürger an der Politik – in Wahlbeteiligungen, Parteiaustritten, teilweise bereits herrschendem Kandidatenmangel auf Kommunalebene recht gut messbar – allein auf den Verdruss über verkrustete Parteistrukturen und farblose Politiker zurückzuführen. Politiker, Parteien, auch Verfassungen sind niemals perfekt und waren es nie, aber Begeisterung für die Sache überwindet solche Schwächen. Erst wo die Begeisterung schwindet, rücken die Schwächen in den Fokus. Begeisterung, wenn man will: Leidenschaft zu wecken, nicht nur sachlich zu überzeugen ist deshalb eine der Aufgaben für die Regierenden in der Demokratie; und sich nicht in Zahlen und von Expertenkommissionen erdachten technokratischen Formeln – „Agenda 2010“ war da ein Musterbeispiel – zu verlieren.

Ein erster Anfang wäre schon, Politiker mit ein wenig Charisma nicht mehr unter Generalverdacht zu stellen. Wenn ein Politiker Überzeugung vermittelt und die Menschen erreicht – wie in Amerika anfänglich der Präsident Obama, wie in Deutschland zeitweise der Freiherr zu Guttenberg – so hat man als Demokrat zunächst einmal Anlass sich zu freuen; und nicht überkleinlich nach Schwächen zu suchen, die ein jeder Mensch in der Politik natürlich mitbringt, und nach der ersten Gelegenheit zu gieren, den so schnell Emporgestiegenen wieder vom Sockel zu stoßen wie bei Obamas nach den ersten Jahren noch nüchterner Regierungsbilanz oder der persönlichen Verfehlung, die zu Guttenberg sich mit seiner Dissertation leistete.

Noch einmal: Wachsamkeit ist gewiss angebracht; man darf das Rad nicht überdrehen und in alte Fehler zurückfallen. Aber stillstehen darf das Rad auch nicht. Es braucht das rechte Maß.


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