Demokratie in der Krise

Sinkende Wahlbeteiligungen, Politik- und Parteienverdrossenheit, inner- und außerparlamentarische Protest- und Dagegen-Bewegungen: Die Lage der deutschen Demokratie war schon einmal günstiger. Aber die aktuellen Schwierigkeiten sind nichts gegen das, was strukturell in einigen Jahrzehnten droht.


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Als die Berliner Politik im Gefolge der Weltfinanzkrise ihr Maßnahmenpaket zur Krisenbekämpfung schnürte, gab es unter den Einzelmaßnahmen sehr viele, deren ordnungspolitischen Sinn man bezweifeln konnte – von Rettungsschirmen und fragwürdigen Bauprojekten über kostspielige Rettungsprogramme für schon vorher halbtote Firmen bis hin zur Abwrackprämie, mit der die sonst so autoverliebten Bundesbürger in ein wahres Verschrottungsfieber versetzt wurden. Geschadet hat das den Akteuren wenig; die Krise wurde vorläufig überwunden, der Wähler vergaß gnädig. Das problematischste und am längsten nachwirkende Erbe dieser Krisenzeit, an das er sich aber vielleicht einmal noch unangenehm erinnern wird, ist jedoch keines der teuren Investitionsprogramme gewesen, sondern ein simples Versprechen. Eines, das Norbert Blüm früher schon einmal abgegeben hatte: „Die Rente ist sicher.“ Nur diesmal in Gesetzesform gegossen, als Ergänzung zur dynamisierten Rente Adenauerscher Prägung, die nun einer sehr eigenen Logik folgte: Steigen die Löhne, steigen auch die Renten; sinken die Löhne, sinken die Renten – nicht.

Kritiker gab es damals schon reichlich, unter anderem den Finanzminister Steinbrück; am Ende aber setzten sich die Sozialpolitiker gegen die Haushälter durch – wie fast immer –, und die Rentengarantie wurde wirksam: Trotz sinkender Löhne und Gehälter blieben die Renten konstant; in den Folgejahren stiegen sie dafür etwas langsamer, als es nach der alten Regelung geschehen wäre. Gegen über 20 Millionen Rentner war wenige Monate vor der Bundestagswahl kein Staat zu machen. Am prägnantesten formulierte der frühere Bundespräsident Roman Herzog damals den Sachverhalt: „Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentnerdemokratie. Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie.“

Damit ist allerdings nur ein Teil des Problems benannt, vor dem die bundesdeutsche und insgesamt die europäische Demokratie steht. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen denen, die Staatshaushalt und Sozialversicherungen finanzieren, und denen, die von den Zahlungen profitieren – aber selbstverständlich ebenso wählen und damit indirekt über die Leistungen mitentscheiden dürfen – droht zu kippen. In Ostdeutschland gibt es bereits zahlreiche Gegenden, in denen mehr Transferleistungsempfänger leben als Steuer- und Abgabenzahler; und das ist nur ein Vorzeichen dessen, was bei der seit vierzig Jahren stabilen Bevölkerungsentwicklung, nach der jede Generation um ein Drittel kleiner ist als die vorangegangene, unweigerlich flächendeckend kommen wird.

Und mehr noch: Die jüngere Generationen wird nicht nur immer kleiner, sondern auch immer bunter. In vielen Großstädten sind die Neugeborenen mit Zuwanderungsgeschichte bereits in der Überzahl, und angesichts der schon bei viel kleineren Prozentanteilen mäßig erfolgreichen Integrationspolitik darf man leise Zweifel anmelden, ob in dreißig Jahren in Berlin oder Duisburg noch flächendeckend Deutsch gesprochen wird. Deutschland wird nicht nur zum Greisen-, sondern auch zum Vielvölkerstaat. Das muss nun nicht zwingend zum Bürgerkrieg führen, es hat in der Geschichte durchaus viele gut funktionierende Vielvölkerstaaten gegeben. Aber eines stimmt bedenklich: Demokratien waren die wenigsten davon.

Kurz gesagt: Dem demokratischen Staat droht die Basis wegzubrechen, weil sein Staatsvolk langsam zerfasert und aus dem Gleichgewicht gerät. Eine veritable Existenzkrise droht; dagegen wirken die regelmäßig diskutierten aktuellen Krisenerscheinungen mit niedrigen Wahlbeteiligungen, schrumpfenden Parteien, immer stärker ausdifferenzierten, kurzlebigen 1-Themen-Bewegungen nachgerade harmlos.

Von Ketzern und Gläubigen

Wenn man diese Diskussion nun führen will, muss man sich gleich zu Anfang entscheiden, welche Rolle man spielt – ist man Demokratie-Gläubiger oder Demokratie-Skeptiker; oder, wenn Skeptiker zu negativ klingt, sagen wir Demokratie-Pragmatiker.

Man kann Demokratie nämlich auf zweierlei Weise legitimieren: naturrechtlich oder pragmatisch. Die naturrechtliche Sicht argumentiert vom Anfang her: Alle Menschen sind frei und gleich geboren, folglich ist die einzige angemessene Weise, in der sie sich gemeinschaftlich organisieren können, ein Staat der Freien und Gleichen, in der jeder die gleichen persönlichen Grundrechte besitzt und in gleichem Maße über den Kurs der Gemeinschaft mitbestimmen kann. Demokratie ist damit sozusagen gottgegeben.

Der Demokratie-Pragmatiker hält wenig von dieser Naturrechtsphilosophie. Er mag ihr Pathos und ihre Selbstgewissheit nicht. Er hält es lieber mit Churchill. Die Demokratie ist nicht heilig, sie hat zahlreiche Schwächen, wie andere Regierungsformen auch – nur weniger gravierende. Oder anders: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Wobei die systemische Überlegenheit der Demokratie empirisch wirklich evident ist: Keine andere Regierungsform bringt nachweislich soviel materiellen Wohlstand, individuelle Freiheit und technischen Fortschritt mit sich.

Überzeugte Demokraten sind beide Typen. Der Unterschied ist aber wichtig; denn für den Demokratie-Gläubigen sind alle Gedanken, die wir gleich diskutieren werden, pure Ketzerei.

Funktionsbedingungen der Demokratie

Zur pragmatischen Sicht auf die Demokratie gehört, dass diese Regierungsform auf einem System aus Konsensen beruht. Gewiss, es darf und soll in der Demokratie über alles gestritten werden. Aber über die entscheidenden Richtungsfragen herrscht im Grundsatz, jedenfalls bei einer großen Mehrheit im Volk und in den Parteien, Einigkeit. Beispielsweise besteht Einigkeit darüber, dass Deutschland ein Sozialstaat ist und bleiben soll; dass zu den Aufgaben des Staates, bei allem Streit über Details, prinzipiell gehört, Armut und Not zu bekämpfen, große Lebensrisiken wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit rudimentär abzusichern und einen angemessenen Ausgleich zwischen West und Ost, Nord und Süd, zwischen den Wohlhabenden und weniger Wohlhabenden und zwischen den Generationen herzustellen. Und dass die übergroße Mehrheit der Bürger bereit ist, ihren Teil der damit verbundenen Lasten zu tragen; dass die Arbeitenden also die Renten der älteren Generation über ihre Beiträge finanzieren, die Wohlhabenden über ihre höheren Steuern Partizipation und öffentliche Güter auch für die Ärmeren ermöglichen usw. Gäbe es diesen Konsens nicht, wäre das System nicht stabil, weil bei jeder Wahl über den Sozialstaat im Grundsatz (nicht nur um ein Prozent mehr oder weniger) gestritten würde und jeder Wahlkampf damit ein existenzieller Verteilungskampf unter sozialen Gruppen wäre, dieses Politikfeld mithin nicht mehr demokratisch organisiert werden könnte. Oder um mit dem Ökonomen Friedrich August von Hayek zu sprechen: „Demokratie ist nur um den Preis zu haben, dass allein solche Gebiete einer bewussten Lenkung unterworfen werden können, auf denen eine wirkliche Übereinstimmung über die Ziele besteht, während man andere Bereiche sich selber überlassen muss.“ Übernimmt der Staat weitere Aufgaben auf Gebieten, auf denen kein grundsätzlicher Konsens besteht, begebe man sich, so Hayek, auf den Weg zur Knechtschaft – nämlich zur Diktatur einer Mehrheit oder Minderheit, die ihre Interessen mit („alternativlosen“) Zwangsverordnungen durchsetze. Kehrt man das Argument um, bedeutet es: Kommt der gesellschaftliche Konsens abhanden, muss sich der Staat aus jenem Politikfeld zurückziehen; oder die Demokratie leidet.

Im Bereich der Sozialpolitik ist dieser Kompromiss nun gerade sehr augenscheinlich am Bröckeln. Vor allem die Bereitschaft der schrumpfenden Mittelschicht, auf ewig die Melkkuh der Gesellschaft zu bleiben und übermäßig mit Steuern und vor allem Sozialabgaben belastet zu sein, ist begrenzt, ebenso wie die Bereitschaft der Jüngeren, die Renten der viel größeren Vorgängergenerationen zu finanzieren. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern, 1960 noch rund 5:1, liegt heute bekanntlich bei nicht einmal mehr 3:1 und wird in dreißig Jahren nur noch 2:1 betragen. Wenn die Zahler über die Belastungsgrenze hinaus gefordert sind, gibt es keinen Grundsatzkonsens mehr; dann beginnt der harte Verteilungskampf.

Die gemeinsame Sprache

Zu den Funktionsbedingungen der Demokratie gehört aber mehr als ein Konsens in Grundsatzfragen einer übergroßen Mehrheit der Bürger. Es gehört auch, ganz trivial, dazu, dass diese Bürger miteinander kommunizieren können; dass sie sich wie im alten Athen jederzeit auf der Agora zur politischen Willensbildung versammeln können. In der modernen Massendemokratie ist die Agora virtuell geworden, über Großorganisationen, Zeitungen, Radio, Fernsehen, Internet; aber es gibt sie. Und sie hat immer noch eine Voraussetzung: Dass die Bürger eine gemeinsame Sprache sprechen.

Die Demographie sagt nun – und keineswegs erst seit Sarrazin – dass diese gemeinsame Sprache langfristig keine Selbstverständlichkeit sein wird. Es ist keineswegs auszuschließen, dass mindestens die deutschen Großstädte in den nächsten Jahrzehnten balkanisiert werden; dass die Oberschicht zunehmend Englisch oder Chinesisch spricht und die Unterschicht Türkisch oder Arabisch; und dass ein großer Teil der Alltagskommunikation nicht mehr in einer für alle gemeinsamen Sprache (ob nun Deutsch oder Englisch oder Türkisch) stattfinden wird.

Mehrsprachige Gesellschaften aber zerfallen erfahrungsgemäß in Teilöffentlichkeiten mit eigenen Medien und mit auf die jeweilige Volksgruppe zugeschnittenen Großorganisationen; natürlich Kirchen, Vereine, Interessenorganisationen und so weiter, aber auch Parteien, die sich zur Wahl stellen. Und Volksgruppenparteien sind eine Anomalie in der Demokratie, sie stehen quer zum parlamentarischen System, weitgehend außerhalb des Wettbewerbs. Für Bürger außerhalb der Volksgruppe sind sie kaum attraktiv, und für die Bürger innerhalb der Volksgruppe oft die einzige wählbare Partei; ganz analog wie in früheren Klassengesellschaften die Parteien auch Klassenparteien waren, ein Arbeiter etwa kaum anders konnte, als SPD zu wählen, und die Wahlen primär durch das zahlenmäßige Verhältnis der Klassen entschieden wurden.

Solange es sich um verschwindend kleine Minderheiten handelt, wie etwa bei den Dänen in Schleswig-Holstein, ist diese Anomalie nicht systemgefährdend. Stehen sich aber vergleichbar große Blöcke gegenüber, gibt es 1. für die Mehrzahl der Bürger keine echte Wahlentscheidung mehr; 2. droht jeder Wahlkampf zu einem Konflikt der Ethnien zu werden; 3. nimmt die Akzeptanz des politischen Systems mangels gemeinsamer Öffentlichkeit rapide ab. An einem ähnlichen Phänomen leidet übrigens das Europäische Parlament, dem es mangels einer europäischen Öffentlichkeit nicht gelingt, ins Zentrum der Wahrnehmung zu gelangen, und das, trotz zunehmender Kompetenzen, in der Aufmerksamkeit meilenweit hinter den nationalen Institutionen rangiert.

Reform des Wahlrechts?

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass alle diese Probleme lösbar sind. Dass man durch Geburtenpolitik, Zuwanderung, ein höheres Renteneintrittsalter und andere Maßnahmen ein leidlich gesundes Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Transferleistungsempfängern erhalten kann. Und dass man die wachsende Anzahl an Bürgern mit Migrationshintergrund zumindest so weit integrieren kann, dass sie im Alltag Deutsch sprechen und am politischen Leben teilnehmen. Man kann so denken – freilich, sehr klug wäre es nicht. Das schneckenhafte Reagieren sowohl der Parteien als auch aller anderen politischen Großorganisationen auf diese ja nun bereits seit mehr als vierzig Jahren auf uns zurollenden Megatrends gibt wenig Anlass zur Hoffnung und viel Anlass dazu, sich mit dem Worst Case des Scheiterns eingehend zu befassen.

Dieses Scheitern würde bedeuten: Das politische System, wie wir es kennen, wird nicht mehr funktionieren; es wird nicht mehr in der Lage sein, auf friedlichem Wege einen Konsens der großen gesellschaftlichen Gruppen herzustellen. Und der Ansatzpunkt ist jeweils der gleiche: das Wahlrecht.

Hier wird nun der Konflikt zwischen Demokratie-Gläubigen und Demokratie-Pragmatikern besonders scharf. Für den Demokratie-Gläubigen ist das Wahlrecht – und zwar das allgemeine, gleiche Wahlrecht – sozusagen heilig, es leitet sich direkt aus der Freiheit und Gleichheit der Menschen ab. Und jede Diskussion darüber ist per se antidemokratisch.

Die Demokratie-Pragmatiker, hier vor allem im angelsächsischen Raum anzutreffen, sehen das sehr viel entspannter. Das Wahlrecht ist demnach lediglich ein Mechanismus, um die für das Staatsvolk bestmögliche Regierung zu bestimmen; oder, auf diesen Unterschied hat etwa Popper sehr viel Wert gelegt, zumindest mit einer größtmöglichen Wahrscheinlichkeit eine schlechte Regierung verhindern oder schnell wieder abwählen zu können. Diese Funktion ist überragend wichtig, und wenn das aktuelle Wahlsystem sie nicht mehr erfüllen kann, ist das System eben zu ändern; ganz nüchtern, ohne Glaubenskriege. Völlig gerechte Wahlsysteme „mit Heiligenschein“ gibt es, wie die Methodiker mathematisch unwiderlegbar nachgewiesen haben, ohnehin nicht. Insbesondere aus diesem (seit Arrow in Umlauf gekommenen) Argument der methodischen Unvollkommenheit haben die angelsächsischen Liberalen – oder Libertarians – sehr weitgehende und teilweise übertriebene Schlussfolgerungen über die Bindekraft von Wahlentscheidungen gezogen; immer noch zu empfehlen ist hier das kontroverse Buch „Liberalism against Populism“ des amerikanischen Politologen William H. Riker. Die Grundaussage aber ist: Wahlsysteme sind nicht der Kern der Demokratie und schon gar nicht Selbstzweck. Oder noch einmal Hayek: „Die Demokratie ist vielmehr wesentlich ein Mittel und ein von der Nützlichkeit diktiertes Instrument für die Wahrung des inneren Friedens und der individuellen Freiheit.“

Stellt man das Wahlrecht einmal zur Disposition, so ergeben sich allerlei interessante Möglichkeiten. Bereits gelegentlich diskutiert wird die Variante eines Kinderwahlrechts, stellvertretend wahrgenommen durch die Eltern – um die schrumpfende jüngere Generation gegenüber der Masse der Rentner zumindest ein wenig zu stärken. Eine sehr viel radikalere Idee ist, die drohende Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung durch Transferleistungsbezieher, die zur Mehrheit werden, dadurch zu unterbinden, dass man das Wahlrecht an das steuerpflichtige Einkommen bindet; durch ein Mehrklassenwahlrecht oder, ganz extrem gedacht, indem nur noch die Steuer- und Abgabenzahler wählen dürfen. Und für eine ethnisch zergliederte Gesellschaft bietet sich das alte Mittel eines Proporzsystems mit stark ausgebautem Minderheitenschutz an, in dem jede Volksgruppe in ihrer Teilöffentlichkeit den politischen Diskurs führt, sozusagen ihr eigenes kleines Parlament wählt und die Gesamt-Volksvertretung nach einem festen Schlüssel zusammengesetzt wird.

Zurück ins 19. Jahrhundert?

Der Demokratie-Gläubige wird spätestens hier sein entsetztes „Apage Satanas“ ausrufen und sich mit Grausen abwenden. Antidemokratische Hetze wird er für die freundlichste Umschreibung solcher Ideen halten. Aber so einfach ist es nicht. All das hat es historisch in europäischen Demokratien schon einmal gegeben. Und zwar nicht nur, weil man es zum jeweiligen Zeitpunkt nicht besser wusste oder konnte; sondern durchaus mit einleuchtenden Gründen.

Die europäischen Parlamente, die sich im Lauf der Jahrhunderte, angefangen mit dem englischen, in ewigem Kampf mit den Monarchen herausbildeten, entstanden nicht zuallererst im Ringen um abstrakte Menschenrechtskataloge, sondern um etwas sehr Konkretes: nämlich die Steuerhoheit. Und entsprechend waren in diesen Gremien auch vornehmlich die steuerzahlenden Schichten vertreten, denen es vor allem um die Einhegung der fürstlichen Macht ging – und um die Begrenzung der fürstlichen Verschwendungssucht, indem man das Budgetrecht fest beim Parlament verankerte.

In Deutschland war das nicht grundlegend anders. Wer etwa Büchners Hessischen Landboten einmal genauer liest, wird feststellen, dass dort nicht das Grund- und Menschenrechtspathos dominiert, sondern nüchternes Zahlenwerk – über den verschwenderischen Umgang des Fürsten mit dem Steuergeld seiner Untertanen.

Die Parlamente waren also zuallererst Interessenvertretungen der Steuerzahler gegen die Krone; sozusagen der freien Bürger gegen den sich große Steuersummen anmaßenden Staat. Erst nach und nach und durchaus nicht ohne taktische Überlegungen wurde das Wahlrecht auf alle Volksschichten ausgedehnt. In Deutschland war es der aller Sympathien für die Demokratie unverdächtige Reichskanzler Bismarck – und nicht die liberale Partei – der das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum deutschen Reichstag durchsetzte. Davon profitierten zwar nicht die Konservativen, wie Bismarck gehofft hatte, sondern Zentrum und Sozialdemokraten, aber die Liberalen verloren – wie erwartet; denn der Liberalismus war und ist zu jeder Zeit die Idee einer elitären Minderheit. Mit Bismarck begann auch die Sozialpolitik, begann die Industriepolitik und begann die Staatsquote zu explodieren, von rund 5 % der Wirtschaftsleistung auf ein Vielfaches; weil immer breitere Wählerschichten zufriedengestellt werden wollten. Hayek zieht eine direkte Linie von dieser Politik hin zum Sozialpopulismus der Nazibewegung.

Soweit muss man nun nicht gehen; und für wünschenswert halten sollte man eine Systemreform zurück ins 19. Jahrhundert gewiss nicht. Aber man muss nüchtern abwägen, ob die Alternative erfreulicher ist: Rentnerdemokratie und Dauerkonflikt der Volksgruppen.

Häresie und Inquisition

Natürlich kann man das alles als Panikmache zurückweisen und als geistigen Hochverrat an demokratischen Idealen. Noch ist die Lage ja erträglich. Aber es ist gut möglich, dass die Historiker in fünfzig Jahren zurückschauen werden auf die Gelegenheiten, die in unserer Zeit verpasst wurden, und uns ob unserer Blindheit und Prinzipienreiterei schelten werden, wo doch einige rechtzeitig eingegangene Kompromisse das bröckelnde System vielleicht hätten retten können.

Hochverrat ist letztlich eine Frage des Datums.


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