Der Entrückte

Zuletzt war es fast ein wenig still geworden um den deutschen Papst, sodass man hatte hoffen können, sein fünfjähriges Amtsjubiläum am 19. April in angemessener Würde zu begehen. Die Hoffnung ist zerstoben, seit nach der us-amerikanischen und der irischen nun auch die deutsche katholische Kirche ihren Missbrauchsskandal hat.


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Hunderte Missbrauchsfälle in Bildungseinrichtungen und eine über Jahrzehnte andauernde Vertuschungspraxis der Kirche kamen ans Tageslicht. Dem Papst selbst gar wurde aus seiner Kardinalszeit eine etwas zwielichtige Rolle im Umgang mit einigen Fällen zugeschrieben. Eine ernste Krise also – aufs Neue; Papst und Kirche im Kreuzfeuer der Kritik – mal wieder.

Die Deutschen und ihr Papst: Das ist keine Erfolgsgeschichte, wenn man ehrlich ist. Recht warm geworden sind sie mit ihm nicht. Im Lauf der Jahre ist dort, wo sich Erwartungen gebildet hatten, die Zahl der Enttäuschten gewachsen; die Mehrheit ist gleichgültig; nach Stolz und Begeisterung muss man langesuchen.

Warum ist das so?

Die Antwort fällt nicht ganz leicht. Man muss gewiss differenzieren. Natürlich steht der Papst mit seinen inhaltlichen Aussagen gegen den – säkularen – deutschen Mainstream. Aber das ist nicht das eigentlich Entscheidende. Dass er mit seiner neuplatonischen, stark durch Augustinus und die Kirchenväter geprägten, im Kern vorscholastischen Theologie nicht mehr ganz auf der Höhe des heutigen Diskurses ist, kann man schwerlich leugnen; aber das ist ein Problem für die Intellektuellen und die Fachtheologen, nicht für das einfache Kirchenvolk und die normalgebildeten Außenstehenden. Den latenten Kulturpessimismus, den er mit sich wie einen Buckel herumschleift, muss man nicht sympathisch finden; aber für einen Konservativen – der man als Führer der ältesten noch existierenden Organisation der Welt fast zwangsläufig ist – ist er erlaubt. Und dass er die Identität der katholischen Weltkirche zu wahren sucht, elementare, unaufgebbare Positionen wie etwa in der Abtreibungsfrage verteidigt und im Gegenzug die Ökumene mit weithin beliebig gewordenen evangelischen Kirchen, die im einen Land schon geschiedene Frauen zu Kirchenführern machen und im anderen Homoehen trauen, anders als mit den Ostkirchen oder dem traditionellen Flügel der Anglikaner nicht weiter vorantreibt, ist kein Vorwurf, eher ein Kompliment; denn genau das, den „Markenkern“ seiner Organisation zu bewahren, ist seine Aufgabe.

Die Inhalte, in denen er im Übrigen von seinem verehrten Vorgänger nicht signifikant unterscheidet, sind nicht das Entscheidende. Das Hauptproblem des Papstes Benedikt XVI. ist ein Kommunikationsproblem. Er dringt nicht durch mit seiner Botschaft. Nicht nur mangels der „Popstarqualitäten“, die sein Vorgänger hatte; er ist allgemein kein Menschenfischer. Er spricht nicht mit der Stimme eines Predigers, sondern mit der feinen, fast seidenen Stimme eines Intellektuellen. Und diese Stimme spricht eine Sprache, die man draußen, außerhalb der Kirchenmauern, nicht versteht. Das ist der Hauptgrund dafür, dass der Wind sich seit seinem Amtsantritt im April 2005 gedreht hat.

Krise folgt auf Krise

Gewiss, übliche Verdächtige wie Heiner Geißler oder Kirchenrenegaten wir Küng und Drewermann fanden die Wahl Ratzingers auch damals schon ganz furchtbar. Aber die Mehrheitsstimmung war, zwar nicht unbedingt begeistert, aber doch freudig überrascht und ein wenig neugierig. Das hielt das ganze Jahr 2005 über, mit dem Weltjugendtag in Köln als Höhepunkt, und auch noch 2006, bis zum Besuch des Papstes in Bayern. Dort gab es das erste Missverständnis.

Der Anlass erscheint im Nachhinein geradezu lächerlich. Ein ehemaliger Professor kehrt an seine alte Universität zurück, hält noch einmal eine Gastvorlesung – über „Glaube und Vernunft“ – , spricht darüber, dass man niemals den Glauben mit dem Schwert verbreiten sollte und verwendet, weil es gerade gut dazu passt, das „ungewöhnlich schroffe“ uralte Zitat eines byzantinischen Kaisers, in dem gefragt wird, was der Prophet Mohammed mit seinen Eroberungszügen denn Gutes über die Menschheit gebracht habe.

Mit dem Sturm der Entrüstung in der islamischen Welt, wo man sich immer gerne und bereitwillig beleidigt fühlt, kann er nicht gerechnet haben, und die Reparaturarbeiten dauerten mehrere Jahre. Dass er in seiner Rede bei genauem Hinhören mit Kritik an anderen Glaubensgemeinschaften, namentlich übrigens primär den Protestanten, nicht gespart hatte, reizte natürlich zum Gegenargument. Aber Grund zur Empörung? Aus Sicht von Professor Ratzinger schwerlich.

Wie auch immer, von da an stand der Papst unter Verdacht, war unter Beobachtung; hatte die immer skandalwitternde Presse Blut geleckt und lauerte begierig auf jeden Fehltritt. Lange Zeit fand man nur Halbheiten, eine angeblich zu deutschenfreundliche Ansprache etwa in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau oder die Wiederzulassung alter Liturgieformen, die das zweite vatikanische Konzil einst abgeschafft hatte. Einige kritische Schlagzeilen gab es, aber für einen veritablen Skandal reichte es jeweils nicht. Bis zum Frühjahr 2008.

Diesmal brach der Sturm nicht von Deutschland aus los, aber dort tobte er besonders heftig. Der Sache nach ging es um vier Bischöfe der umstrittenen konservativen Pius-Bruderschaft, deren Exkommunikation der Papst als Gnadenakt aufhob. Einer der Bischöfe, Williamson, ging über den üblichen Anti-Judaismus seiner Bruderschaft freilich hinaus, leugnete oder relativierte mindestens den Holocaust, vor und nach seiner Begnadigung. So entstand der Eindruck, der Vatikan toleriere solche Aussagen, und sogar Bundeskanzlerin Merkel sah sich veranlasst, den Papst in der sehr merkwürdigen Form eines öffentlich erteilten Ratschlags zur Klarstellung aufzufordern. Am Ende ließ der Vatikan verlauten, dass man den Einzelfall nicht gründlich genug geprüft habe.

Diese Krise war symptomatisch für die Sprachschwierigkeiten zwischen diesem Papst, den einfachen Gläubigen und der säkularen deutschen Mehrheitsgesellschaft. Zu keinem Zeitpunkt gelang es, die krassen Unterschiede in der Vorstellungswelt der Beteiligten auszugleichen. Niemand, der Papst nicht, der Vatikan nicht, die Bischöfe nicht, auch nicht katholische Intellektuelle wie der Schriftsteller Martin Mosebach, die sich ehrlich bemühten, keiner konnte diesen geistigen (und sprachlichen) Graben überwinden.

Übersetzungsprobleme

Es war auch nicht ganz einfach. In der etwas eigentümlichen Werteordnung der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist die Holocaustleugnung nicht nur einfach strafbar, sondern eine Todsünde. Bischof Williamson erscheint in dieser Ordnung schlimmer als Betrüger, Räuber oder Mörder (denn die sind resozialisierungsfähig, Holocaustleugner nicht). Deshalb verfing auch der Hinweis nicht, dass ebensolche Betrüger, Räuber und Mörder auch nicht aus der Kirche geworfen (oder von der Wiederaufnahme ausgeschlossen) werden, sondern man ihnen Gnade zuteil werden lässt. Die vatikanische Sichtweise war mit der deutschen nicht kompatibel, nicht einmal dialogfähig. Dass die Wiederaufnahme der exkommunizierten Bischöfe eine diplomatische Geste sein sollte und keine ideologische Aussage; dass ein Schisma, eine Kirchenspaltung durch die Weihe eigener Priester der Pius-Bruderschaft aus vatikanischer Sicht ein tiefer und grauenerregender Einschnitt wäre und etwas fundamental anderes, als wenn, sagen wir, ein CDU-Ortsverein sich selbständig macht und zu den Republikanern übergeht; dass seit dem zweiten Vaticanum nur noch aus Glaubengründen exkommuniziert wird und weltliche Gründe – und auch die Leugnung historischer Tatsachen ist ein weltliches, kein geistliches Vergehen – keine Rolle spielen dürfen: All das zählte nicht, konnte nicht zählen in dem Moment, in dem das Sakrileg der Holocaustleugnung begangen wurde. Der Papst äußerte Bedauern über die Panne. Bei denen, die er nicht erreichte, blieb ein fader Nachgeschmack.

Und nun also, wieder zwei Jahre später, der nächste Skandal. Die Schritt für Schritt offenbar gewordenen Fälle des Missbrauchs von Kindern durch katholische Geistliche sind natürlich von ganz anderer Qualität als ein missverständliches Zitat oder eine zu großzügige Begnadigung. Der Sache nach geht es um veritable Verbrechen, nicht einfach um Kommunikationsfehler. Aber mit einer offenen, selbstkritischen Kommunikation wäre der Schaden für die Kirche wenigstens zu minimieren. Stattdessen verfallen Bischöfe und Vatikanvertreter in eine reflexartige Defensivhaltung – nicht alle natürlich, Kardinal Lehmann oder Erzbischof Marx sind prominente Gegenstimmen –, mutmaßen eine Verschwörung gegen Papst und Kirche, formulieren aberwitzige Theorien über den Zusammenhang von Kindesmissbrauch und sexueller Revolution, greifen zuständige Minister offen an und vermuten einen Antikatholizismus, den sie gar mit Antisemitismus vergleichen. Wenn man gerecht ist, wird man sagen müssen: Die Repliken sind nicht völlig verfehlt, wie die reflexartige und, wissenschaftlich gesehen, unsachgemäße Forderung nach Abschaffung des Zölibats zeigt, die nicht nur innerkatholisch diskutiert, sondern von kirchenfeindlichen Kreisen wie Granatmunition eingesetzt wird. Aber es sieht eben sehr deutlich nach einem unchristlichen Mangel an Demut aus, nach Unfähigkeit zur Selbstkritik, nach Selbstgerechtigkeit. Vertrauen gewinnt man so nicht zurück.

Der Papst schließlich reagiert bis dato gar nicht. Auch das liegt an den speziellen Maßstäben des Vatikans. Innerkirchlich gilt ein Papstwort, gar eine Papstentschuldigung in einer solchen Sache als ein ungeheuerlicher Vorgang, der gründlicher Prüfung und einer möglichst vollständige Aufklärung des Sachverhalts bedarf – wie nun im Falle Irlands erfolgt. Ihn einfach zu wiederholen, wenn eine Woche später ein Dutzend neuer Fälle aufgetreten würde, wäre undenkbar. Außerhalb der Kirchenmauern denkt man nicht in so langen Zyklen, rechnet, medial überdreht, mit täglichen Statements und permanenter Wiederholung. Aus dieser Sicht erscheint ein Papst, der ungerührt die Ostermesse feiert und die Vorfälle in Deutschland kaum eines Wortes für würdig befindet, seltsam entrückt – als ginge die ganze Angelegenheit ihn nichts an.

Es geht nicht darum, zu entscheiden, welche Sichtweise nun angemessener ist. Beide passen nicht zueinander, sind nicht ineinander übersetzbar. Kommunikativ wird auch diese Krise nicht gut gelöst werden. Der Ruf ist – diesmal nachhaltig – beschädigt.

Nach fünf Jahren scheint sich das Pontifikat Benedikts XVI. mindestens aus deutscher Sicht totgelaufen zu haben. Dass Ruder bald herumzureißen, dürfte kaum gelingen; in seiner Heimat kann der Papst, nun schon dreiundachtzigjährig, wahrscheinlich nicht mehr viel bestellen. Damit mag er freilich leben können. Die Zukunft der katholischen Kirche liegt ohnehin im Süden der Erde.


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