Der Erdkreis als Heimat

Lion Feuchtwanger, Meister des historischen Romans, verdichtet im römisch-jüdischen Schriftsteller Flavius Josephus den Konflikt von Nation und Menschheit, Judentum und Weltbürgertum. Viele Fragen verweisen zurück auf ihn selbst und die eigene Zeit.


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„Jeder Mensch braucht eine Heimat.“ Auch die Bücherschreiber. Bloß welche? Schriftsteller sind ambulantes Volk; ihre Kunst körperlos, ortlos, heimatlos. Gewiss, Sprache ist Heimat, auch Bücher sind Heimat, geschriebene, gedachte, gelesene. Aber eher abstrakt und verkopft. Kaum ausreichend für den vollen, fühlenden Menschen. Oder?

„Jeder Mensch braucht eine Heimat, nicht eine, wie primitive Faustpatrioten sie verstehen, auch keine Religion, matten Vorgeschmack einer Heimat im Jenseits, nein, eine Heimat, die Boden, Arbeit, Freude, Erholung und geistigen Fassungsraum zu einem natürlichen, wohlgeordneten Ganzen, zu einem eigenen Kosmos zusammenschließt. Die beste Definition von Heimat ist Bibliothek.“

Von Bücherfreunden wird diese Sentenz Elias Canettis gern zitiert; gemeint ist sie ursprünglich ironisch; und dass sie stimmt, findet man fast nie. Allerdings gibt es Ausnahmen. Lion Feuchtwanger war eine solche. Zwar, ein Zuhause im örtlichen Sinn hatte er auch; München zunächst, bis es ihm in den Zwanzigern zu provinziell und nazistisch wurde; Berlin bis zur Machtergreifung; Sanary in Frankreich bis zu Krieg und Internierung; Pacific Palisades dann bis zum Tod. Aber wirklich daheim war er nur im Arbeitszimmer und der stetig zunehmenden, am Ende auf viele tausend Bände angewachsenen Bibliothek, umsorgt von der treuen Marta. Die glücklichsten Jahre verbrachte er in seiner Villa Aurora an der kalifornischen Küste, fern der Geburtsheimat, bis auf die Exilgenossen auch fern von der Sprachgemeinschaft, in deren Zunge er schrieb. Andere Schriftsteller, so in die Ferne gezwungen, verloren ihre Schöpferkraft, verdorrten wie ein Baum, von ihren Wurzeln abgeschnitten, sprachlich, örtlich, kulturell.

Feuchtwanger nicht.

Dass einer wie er auf die Frage von Nation und Weltbürgertum stoßen musste, erscheint zwangsläufig. Nicht zwangsläufig der Stoff, mit dem er sie bearbeitete. Aber immerhin naheliegend. Sein Genre, nach Anfängen als Dramatiker, war der historische Roman. Also eine historische, weltbürgerliche Zeit als Rahmen; Rom, das Vielvölkerreich, mit seiner universellen technischen Zivilisation drängt sich auf. Und eine Figur, die zwischen diesem Weltreich und der eigenen nationalen Herkunft schwankt, mal zur einen, mal zur anderen Seite neigend.

 

Literat bis in alle Poren

Lion Feuchwanger (1884-1958)

Auf den Historiker Flavius Josephus war Feuchtwanger, sehr jung noch, über eine Werkausgabe in der väterlichen Bibliothek gestoßen. Die jüdischen Stoffe lagen ihm. Zwar war dem Heranwachsenden die orthodoxe Religionsauffassung der Eltern irgendwann zu eng geworden, doch nahm er viele Bildungsgüter aus der familiären Prägung mit und setzte sie schöpferisch um. Mehrere Romane entstanden daraus; „Jud Süß“ gewiss am bekannten, „Die Jüdin von Toledo“, „Jefta und seine Tochter“. Mit wiederkehrenden Motiven; Bewährung der Juden in einer ihnen feindlichen Welt, Erfolg und Neid, Sendungsbewusstsein und Selbstüberhebung.

Davon auch viel im deutlich umfangreichsten Werk. Dreimal fünfhundert Seiten umfasst die Josephus-Trilogie, über zehn Jahre entstanden. Band I noch veröffentlicht zu Weimarer Zeit. Band II, das Manuskript fast vollendet, ging bei der Emigration verloren; in der Neufassung wurden zwei daraus, der dritte abgeschlossen just nach der Flucht aus französischer Internierung, über Spanien nach Amerika.

Mit dem Leben des Flavius Josephus, von Feuchtwanger kräftig erweitert um Früh-, Familien- und Hofintrigengeschichte, ist das massige Werk erstaunlich gut ausgefüllt. Josef Ben Matthias, Sohn aus guter Familie, Priester der ersten Reihe, ehrgeiziger junger Doktor, will nicht „in Jerusalem versauern“. Er lässt sich auf Mission nach Rom senden, um drei Schriftgelehrte aus der Haft zu befreien, die nach einem der vielen Aufstände gegen die römische Herrschaft in Judäa verurteilt wurden. Die Kapitale des Imperiums ist im ersten nachchristlichen Jahrhundert eine Weltstadt mit bunt durchmischter Bevölkerung; „mehr Griechen als Athen, mehr Afrikaner als Karthago“; auch eine große jüdische Gemeinde mit bedeutenden Künstlern, Kaufleuten, Fabrikanten – und mächtigen Freunden. Über sie erhält Josef Zugang zur Kaiserin und kann die Begnadigung der Gefangenen erwirken. Wodurch er zu erstem Ruhm gelangt, in dem er sich sonnt, noch eine Weile in Rom bleibt und sein erstes Buch schreibt – ein nationalistisches Heldenepos über den Aufstand der Makkabäer.

Als er nach Judäa zurückkehrt, ist das Land erneut in Unruhe. Ein Wahledikt in der römischen Provinzhauptstadt Caesarea benachteiligt die Juden gegenüber den Griechen; man fürchtet, fremd zu werden im eigenen Land. In Jerusalem bricht der Aufstand los, der römische Gouverneur wird davongejagt, sein Heer geschlagen. Josef, von seinem Ruhm zehrend, erhält unter der neuen Regierung wichtige Posten, wird Geheimsekretär im Tempeldienst und Kommissar für Galiläa. Dort gerät er in heftige Kämpfe mit den Römern, wird in der Festung Jotapat eingeschlossen und hält sie heldenhaft fünfzig Tage lang. Als einer der letzten Überlebenden wird er gefangengenommen – und wechselt spontan die Seiten. Im siegreichen General Vespasian glaubt er den Messias erkannt zu haben – „Gott ist in Italien“ –, sagt ihm jedenfalls die Kaiserwürde voraus. Dazu kommt es einige Zeit darauf tatsächlich. Worauf Vespasian, obwohl er seinen Gefangenen anfangs schäbig behandelt, den prophetischen Josef nun als Chronisten aufnimmt – er soll seine Geschichte schreiben und seiner Kaiserdynastie, der Flavier; aus Josef Ben Matthias wird Titus Flavius Josephus, Ritter des zweiten römischen Adels und Tischgenosse des Kaisers. Als solcher begleitet er den weiteren Feldzug, beobachtet die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und schreibt dann die Geschichte des Jüdischen Krieges – den Juden gegenüber ehrlich und gerecht, nach Vespasians Willen; die eigene Rolle dabei freilich ein wenig kleinredend.

 

Jude geblieben und Römer geworden

Die Weltstadt Rom als multikulturelles Zentrum

Die eigene Rolle – die definiert Josef nun ganz anders. Nicht mehr als nationaler Retter des jüdischen Volkes vor römischer Unterdrückung, oder mindestens als Märtyrer im aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht. Sondern als Versöhner zwischen Judentum und Weltbürgertum, der in Leben und Werk westliche Zivilisation und östliche Weisheit, griechische Philosophie und jüdische Religion verbindet. „Er war der erste Mensch, eine solche Weltanschauung beispielhaft vorzuleben. Er war eine neue Art Mensch, nicht mehr Jude, nicht Grieche, nicht Römer: ein Bürger des ganzen Erdkreises soweit er gesittet war.“ Und dichtet einen Psalm des Weltbürgers, in dem es heißt:

„Ein Knecht ist, wer sich festbindet an ein einziges Land / Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobe / Sein Name heißt: Erdkreis.“

Freilich: auch darin viel Überheblichkeit. Einer allein, auch ein berühmter Schriftsteller, einer von siebenundsiebzig, die das Ohr der Welt haben – einer kann diese Welt nicht ändern. Zumal als Jude nicht, der sein Judentum, wenn auch zum Weltbürgertum hin geöffnet, geweitet, doch bewahren will, eben über dies Judentum zum Weltbürgertum zu gelangen sucht. Für die Römer bleibt er zuerst Jude; damit Gegenstand von Neid und Ablehnung, auch im Erfolg und gerade im Erfolg. Woran Verkaufszahlen, Vermögen, auch eine Statue im Friedenstempel auf Dauer nichts ändern. Für die Juden aber, jedenfalls die radikaleren, nationalistischen, bleibt Josef ein Verräter; für die Strenggläubigen ein Ketzer, weil seine Stellung in Rom ihn oft mit religiösen Gesetzen in Konflikt bringt. Wirklich steht er zwischen Römern und Juden – aber mehr trennend als verbindend, und am Ende mehr Ärger als Nutzen stiftend.

Die Bände II und III der Trilogie, nach dem jüdischen Krieg, sind eine lange Geschichte traurigen Scheiterns. Josefs Familienleben misslingt zum guten Teil; eine jüdische und weltbürgerliche Familie zugleich zu führen, die Kinder zu beidem zu erziehen, führt zu unlösbaren Konflikten. Auf Ehe folgt Scheidung, folgt Ehe und Scheidung und Wiederheirat; Söhne verliert er auf die eine oder andere, jeweils tragische Weise. Die Nähe zu den Kaisern, die er hat und sucht, Vespasian zunächst, dann dessen Söhnen Titus und Domitian, teils für politische Zwecke, teils aus purer Eitelkeit, bringt am Ende ebenfalls mehr Schaden als Gewinn, für die Sache der Juden wie für Josefs Familie. Schließlich wendet er sich wieder stärker seinen nationaljüdischen Wurzeln zu; im Werk – die jüdische Universalgeschichte, „Contra Apionem“, – und auch persönlich siedelt er wieder um auf seine Güter in Judäa; und als ganz alter Mann, da wieder Radikale den Aufstand gegen die Römer proben, zieht er, wie in jungen Tagen vom nationalistischen Eifer erfüllt, ins Kampfgebiet – und kommt dort um. So dass Feuchtwangers Fazit – 1940 geschrieben – eher pessimistisch wirkt. Oder nicht ganz. „Er hatte die Welt gesucht, aber gefunden hatte er nur sein Land; denn er hatte die Welt zu früh gesucht.“ Die Zeit des Weltbürgers war noch nicht da gewesen. Aber mochte dereinst kommen.

 

Macht und Geist

Sturm auf den Tempel in Jerusalem

Überhaupt: die Zeit. Beim Lesen gerät man gelegentlich in Zweifel, wie „historisch“ der Roman wirklich ist. Weniger, weil zur persönlichen Geschichte des realen Josephus – und in das Universum der Nebenfiguren um ihn herum – so viel hinzuerfunden wird, sondern weil die Erzählung vor Anachronismen strotzt. Schon sprachlich: Feuchtwanger antikisiert nicht, modernisiert im Gegenteil, bis hin zu den Volksnamen. Germanen heißen im Buch „Deutsche“, Briten „Engländer“, obwohl um 70 nach Christus niemand die Begriffe kannte. Auch die Alltagsworte wirken alles andere als antik: Legionen sind in „Armeekorps“ zusammengefasst, Probleme sind „trätabel“, der Fuhrmann heißt „Spediteur“, man unterzieht sich einem „Training“, trägt „Livree“, hat „Peers“. Freilich, das nachgebildete Sprachgemisch aus Aramäisch, Griechisch, Latein wäre ins Deutsche ohnehin nicht angemessen zu übertragen, und für das Rom des ersten Jahrhunderts, eine Weltzivilisation auf ihrem Höhepunkt, eignet sich die Sprache der zwanziger Jahre vielleicht besser als altertümlich angestrichenes „klassisches“ Deutsch.

Schwerer als die Sprache wiegen die Sachen selbst. Vor allem, wenn es um die Rolle der Juden geht; hier bildet Feuchtwanger sichtbar das Deutschland im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts eher ab als das antike Rom. Die jüdische Gemeinde dort, hunderttausend Mitglieder, mit prominenten Vertretern in Wirtschaft und Kunst, Freunden im Senat und am Hof, viel Einfluss im Umfeld der Macht, aber dunkel bedroht durch wachsenden Antisemitismus – sie entspricht weit mehr dem Berlin der Kaiserzeit und Weimarer Zeit. Auch Josefs Weltbürgertum über das Judentum, weil das Judentum das Übernationale ohnehin in sich trage, wirkt für das erste Jahrhundert konstruiert. Gewiss, der eine namenlose, gestaltlose Gott, die Konzentration auf Wort und Gesetz, auf das Abstrakte schlechthin birgt früh das Potential zur Weltreligion. Aber die Bindung an das Land Israel, an Jerusalem, an den Tempel ist doch im antiken Judentum noch dominant. Jüdischer Internationalismus ist überwiegend Diasporaphänomen, und um den Gedanken zu vertreten, dass man über das Judentum von selbst zum Weltbürgertum gelange, mussten Generationen der Zerstreuung vergehen. Umgekehrt wirken auch die Antisemiten, die es im Roman zahlreich gibt, erstaunlich vertraut. Vespasian in seinem anfänglichen Sadismus, der Tyrann Domitian, der Polizeiminister Norban stehen Figuren aus dem München der 1920er, dem Berlin der 1930er Jahre näher als den antiken Namensgebern.

Feuchtwanger verarbeitet also kein historisches Thema, sondern ein modernes, versetzt mit Ewigem. Letzteres vor allem, wenn es um die Figur des Schriftstellers selbst geht und sein Verhältnis zur Politik. Eine Hauptlehre, die man aus den fünfzehnhundert Seiten ziehen kann: Versucht der Künstler, sich in die Politik zu mengen, entsteht nur Unglück, politisch wie für ihn persönlich und auch intellektuell. Im ersten Band, um den jüdischen Krieg, arrangiert Feuchtwanger die Geschehnisse raffiniert so um, dass Josef für die Ereignisse, die er später in seinem Historienwerk beschreibt, direkt oder indirekt selbst verantwortlich ist. Seine Gefangenenbefreiung: eine Konzessionsentscheidung; im Gegenzug setzen die Römer das für die Juden ungünstige Wahledikt durch. Während des Aufstandes bewegen die drei Befreiten durch ein symbolisches Opfer den römischen Gouverneur zum Abbruch der ersten Belagerung Jerusalems; auf dem Rückzug wird sein Heer vernichtet. Die große Gegenoffensive der Römer: provoziert durch Josefs Aktionen in Galiläa. Der Schriftsteller macht Politik; am Ende ist der Tempel zerstört und Judäa verwüstet. Ähnlich dann in Rom; jede Hofintrige, jeder kurzzeitige persönliche oder politische Teilerfolg bringt am Ende Unglück über Josef und andere. Und auch seine intellektuelle, schriftstellerische Produktivität leidet; Machtsucht, Eitelkeit überkommen und beherrschen ihn, je mehr Bedeutung er erlangt. „Macht verdummt“, sagt Josephus. „Ich war nie dümmer als zu der Zeit, da ich an der Macht war.“ Freilich eine Weisheit, die er in machtloser Zeit von sich gibt und rasch vergisst, als wieder politischer Einfluss lockt.

 

Nicht Zion heißt das Reich

Wie übrigens ähnlich auch Feuchtwanger selbst. Weise Einsicht schützt vor törichtem Handeln nicht, wenn man sich in die politische Arena begibt. Seit den zwanziger Jahren und mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus verstärkt engagiert sich Feuchtwanger, durchaus ehrenwert, auf der politischen Linken, im Exil dann auch mit Sympathien für die Kommunisten als den schärfsten unter den Antifaschisten. Sobald es aber über Schriftstellerkongresse hinaus an eigentlich politisches Tun geht, handelt auch er nicht klüger als sein Josephus. 1937, auf dem Höhepunkt des stalinistischen Gewaltregimes, unternimmt er eine Moskau-Reise, lässt sich von den Machthabern über die Zustände täuschen, versteht die Sprache nicht, unternimmt keine eigenen Recherchen, besucht einen Schauprozess und findet die Angeklagten selbstverständlich schuldig, erhält Audienz bei Stalin und vergleicht ihn mit Kaiser Augustus, schreibt nachher einen Reisebericht, der nur als reinstes Propagandawerk und in jeder Hinsicht als ausgesprochen peinlich klassifiziert werden muss.

An sich nichts Außergewöhnliches; politische Dummheiten von Schriftstellern sind Legion, in alle ideologischen Richtungen. Interessant nur eben: selbst bei denen, die es – in ihren Büchern – eigentlich besser wissen.

Die Bücher aber, bei den Schreibern, sind das eigentlich entscheidende. Der Josephus bleibt gerade seiner Modernität wegen eines von Feuchtwangers stärksten. Nationalismus und Weltbürgertum, gegeneinander, miteinander im gleichen Kopf, findet man so eindringlich nirgendwo dargestellt.

Der Autor selbst, anders als sein Josephus, entscheidet sich am Ende übrigens eindeutig für das Weltbürgertum. Auch nach dem Krieg bleibt er in der Exilheimat wohnen. Eine Umsiedlung zurück nach München, nach Berlin oder ins nun zugängliche heilige Land der Juden wird nie ernsthaft erwogen.

Lion Feuchtwanger stirbt 1958 in Kalifornien. Dort liegt er auch begraben.

 

 

Die Trilogie

Lion Feuchtwanger: Flavius Josephus. Drei Romane: Der jüdische Krieg; Die Söhne; Der Tag wird kommen. Erschienen 1932–45. Hier verwendet: Dreibändige Ausgabe Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 1959/1997

 


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