Der gute Sünder
Oft finden wir Einsicht im Fernen und Abseitigen, kaum und gar nicht mehr glaublichen. Sehen im kunstvollen Mosaik mehr von uns als im ebenen Spiegel. Über Thomas Manns Schalkgeschichte Der Erwählte – „Spätform der Legende“, geschrieben für Zeiten, die gar so legendengläubig nicht mehr sind.
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Realistisch. Realistisch muss eine gute Geschichte sein, glaubhaft das Figurenkabinett, ungefähr logisch der Ablauf, mit nicht mehr Sprüngen, Zufällen, Unerwartetem, als das normale Leben auch zu bieten hätte. So erzählt man uns; Kursus im kreativen Schreiben, Lektion eins. Es stimmt wohl auch; für den Gegenwartsroman, den historischen Roman, die Erzählung von fernen, künftigen Welten auch, von denen man annimmt, dass sie mehr noch in Zahlen und Fakten rationalisiert sein werden als unser Heute.
Für manch anderes Genre stimmt es nicht. Alles zum Beispiel, was mit Zauber und Märchenhaftem zu tun hat, Phantastik und Legende; für gänzlich erdachte ebenso wie lose in der Historie verankerte. Bei Lion Feuchtwanger – Zeitgenosse Thomas Manns und guter Bekannter schon von Münchener Tagen her – sagt ein jemand: „Die Wirklichkeit ist bloßer Rohstoff und zum Gebrauch für das Gefühl wenig geeignet. Sie taugt erst, wenn sie zur Legende verarbeitet ist. Wenn eine Wahrheit sich halten soll, muß sie mit Lüge legiert werden.“
Die Legierung zu mischen fordert dann freilich hohe Kunst; Legende so zu bilden, dass sie in bestimmten Seelenschichten geglaubt werden kann; so schön nämlich sie zu machen, dass der empfängliche Glaubenswille im Leserherz die Zweifel droben im Hirn nicht verdrängt, nicht vergessen macht, aber in den Hintergrund, ästhetische Wahrheit vor und neben die historische, neben den Referenzrahmen der eigenen Erfahrung treten lässt. Und je geschickter der Dichter, umso mehr jenseits des Glaubbaren kann er beimischen.
Fromme Lüge

Thomas Mann (1875-1955)
Thomas Mann erwies sich auf seine alten Tage als überaus geschickter Legendenmischer. Groß und episch in den Josephsromanen, jener Verarbeitung einer kurzen biblischen Nebenerzählung zum massigen Elfhundertseitenepos. Kleiner, feiner, noch zugespitzter im Erwählten; mit hoher Kunst dergestalt geschmiedet, dass man vom Geschehen wenig, an der Botschaft viel glauben kann. Die müssen wir nun erzählen und manches dabei verraten; was jedoch nicht schadet, weil viel der fein-ironischen Erbaulichkeit darauf gründet, dass man vorweg durchaus ahnt, was kurz darauf sich zutragen wird.
Wann es sich zuträgt, wissen wir nicht genau; zu mittelalterlicher Zeit jedenfalls. Das Wo ist präziser. Grimald und Baduhenna, Herzogspaar zu Flandern und Artois, bleibt lang der Kindersegen verwehrt. Mit um die vierzig erst wird die Herzogin Mutter und verstirbt noch im Wochenbett; böses Vorzeichen für „Bedenken der Allweisheit gegen die Gewährung des Kinderwunsches“. Geboren sind Zwillinge, Wiligis und Sibylla, die bald stattlich heranwachsen, „jung-junge Dinger, bildhübsch mit blassem Antlitz“, eng zusammenhängen, „wie ein paar Zwergsittiche“ und einander weit mehr zugetan sind als für Geschwister statthaft. Als sie siebzehn sind, stirbt auch der Vater, vom „Tannewetzel“, vom Schlage also gerührt. Daraufhin „wohnte in dieser selbigen Nacht der Bruder der Schwester bei, als Mann dem Weibe“ – pflegen Herzog und Herzoginschwester über Monate ein heimlich-inzestuöses Verhältnis. Was anhält, bis die Sünde fruchtbar wird und Sibylla schwanger. Dann ist guter Rat teuer. Ritter Eisengrein gibt ihn: Wiligis soll abdanken und auf Bußfahrt gehen nach dem heiligen Land. Der tut’s und stirbt noch auf dem Wege. Sibylla aber, nun Herzog-Statthalterin, sich zurückziehen und heimlich ihr Kind gebären auf Eisengreins Burg. So geschieht’s; den Neugeborenen zu töten aber bringt man nicht übers Herz, setzt ihn vielmehr in ein Fass mit Geld und Geschmeid und Hinweisen auf seine noble, sündige Abkunft (ohne Name allerdings); und sendet ihn aufs Meer. Sibylla kehrt zurück nach Brügge, führt das Zepter, weigert sich aber, in schmerzlicher Erinnerung an Bruder-Mann und Neffen-Sohn, in eine Heirat einzuwilligen und einen neuen Erben dem Herzogtum zu schenken. Über viele Jahre weist sie alle Werber ab. Bis einer von ihnen, Roger von Arelat, Zwang gebraucht und ein Minnekrieg beginnt; Not und Gewalt kommen übers Land.
Sünder und Heiliger

Papst Gregor der Große
Doch damit der Absonderlichkeiten nicht genug. Derweil ist Sibyllas Sohn in der Ferne zum Mann gereift. Auf wundersame Weise aus dem Meer gerettet, wuchs er auf als Fischer der Insel Sankt Dunkstan, wurde vom Abt des Zisterzienser-Klosters, der sein Geheimnis kennt, in den Orden aufgenommen und ausgebildet. Eines Tages stößt Gregorius, wie er nach dem Ziehvater heißt, auf seine adelig-sündige Abstammung und beschließt, als Ritter in die Welt zu ziehen; mit kleinem Vermögen ausgestattet, das der Abt vom Gelde aus dem Fass hat erwirtschaften lassen. Auf dem Festland angekommen, gerät er ins belagerte Brügge, wo Sibylla noch immer ihren Schoß gegen Roger von Arelat verteidigt. Gregorius fordert den Forderer zum Zweikampf, kann ihn überlisten und den Abzug der Belagerer erzwingen; der Minnekrieg endet, Flandern-Artois soll wieder blühen. Die dankbare Herzogin und ihr junger Retter entdecken rasch Sympathie füreinander; verlieben sich, heiraten, haben Kinder; der Sohn also mit der Mutter, die zugleich seine Tante, Kinder, die zugleich seine Vettern sind, und der Naturwidrigkeiten mehr. Nach drei Jahren Ehe stößt Sibylla in Gregors Kammer auf die Tafel, die einst dem Sohn man aufs Meer mitgab. Offenbar sind die Sünden und wiederum die Nöte groß. Man beschließt: Der Herzogswürde entsagen beide. Gregorius zieht als Büßer in die Wildnis und haust siebzehn Jahre auf einem einsamen Fels, am Leben gehalten nur von „Nährsaftquellen der Urzeit“; Sibylla lebt mit bescheidener Apanage in bescheidenem Haus und widmet fortan sich der Armenpflege.
Doch auch das ist noch nicht das Ende. Zu Rom ist der Heilige Vater gestorben; im Konklave können sich die rivalisierenden Fraktionen auf keinen Nachfolger einigen. Ein Schisma droht. Da erscheint dem frommen Bürger Probus und dem Kardinal Liberius in zwei Visionen ein blutendes Lamm, das andeutet, wo der neue Papst zu suchen sei. Die beiden gehen auf große Fahrt ad petram und finden Gregorius, nach langen Jahren der Entbehrung zu einer tierischen Gestalt geschrumpft. Probus, in der Bewährung glaubensfester als der Kardinal, setzt durch, dass man ihn nach Rom mitnehme. Unterwegs erholt sich Gregorius, der Büßer nahe am Heiligen, so dass seiner Ausrufung nichts im Wege mehr steht. „Glockenschall, Glockenschall, supra urbem.“ Und er wird zum sehr großen Papst, Papst für die Sünder zumal; bittet den Heidenkaiser Trajan aus der Hölle frei, gestattet konvertierten Muselmanen, die Vielehe fortzuführen; verordnet Buße, aber in Maßen, ist duldsamer gegen Ketzer als gegen Eiferer. Sibylla aber, gewesene Herzogin zu Brügge, erhält Kunde von diesem großen Papst, erhofft sich Vergebung in eigener Sache und reist mit den Kindern nach Rom, wo es zum Wiedersehen kommt. –
Entsetzlich und hocherbaulich

Hartmann von Aue diente Thomas Mann als Quelle
Christlichen Ödipus hat man diese unglaubliche Geschichte gelegentlich genannt. Das allerdings wäre lächerlich untertrieben, allenfalls äußerlich richtig, und auch dann nur zur Hälfe. Ödipus ist Schicksalstragödie; der Junge, nach böser Prophezeiung ausgesetzt, tötet den Vater, ehelicht die Mutter ohne Wissen. Der Inzest im Erwählten ist doppelt, im einen Fall bewusst, im anderen mindestens geahnt; nicht aus dem Irrglauben, dem Schicksal entrinnen zu können, sondern aus Standesstolz und Eigenliebe. Vor allem Sibyllens instinktive Wahl, niemand anders als den Gleichrangigen, Bruder und Sohn, als Ehemann gelten zu lassen. Doch auch Gregorius, der bequem als frommer Mönch hätte weiterleben können, brennt vor Ehrgeiz auf das Adelsleben und deutet seine Herkunft aus der Sünde in einen Ritterschlag um – „wo Makel ist, da ist Adel. Niedrigkeit kennt keinen Makel.“ – Nicht also Ödipus in potencia, sondern eine ganz andere Art Geschichte, von Eitelkeit, Sünde und Vergebung.
Und, im Kern, eine optimistische. Sehr leicht wäre gewesen, eine Karikatur daraus zu machen, der Adelsfamilien, des Ritterlebens, der kirchlichen Moralvorstellungen. Das ist Thomas Manns Erzählung gerade nicht. Denn in seinen Figuren, wiewohl sie sündigen, sind die Gefühle noch stark und lebenskräftig, für Glaube, Adel, Reue und Pflicht zur Buße. Keine abgelebten Stände, die zur Legitimierung ihrer Stellung formelhaft alte Ehrenregeln vorbeten, ohne mehr an sie zu glauben. Sondern das Mittelalter auf seinem schöpferischen Höhepunkt, die abendländische „Kristenheit“ mit Institutionen, die fest von sich, ihrer Mission und dem Heiligen überzeugt sind.
Was auch für den Erzähler gilt, den Thomas Mann in die Person eines irischen Klosterbruders kleidet. Entsprechend ist der Stil nur halbironisch; hier leise Kritik am römischen Klerus, dort ein kleines Fragezeichen hinter dieser oder jener Kirchenlehre, aber im Ganzen kräftiger Glaube, so sehr in sich ruhend, dass er sich viel Milde im Urteil erlaubt, frei von moralischer Arroganz, ohne die Sünde, ohne das Böse darum leichtzunehmen.
Wie die meisten Stoffe Thomas Manns ist auch dieser gefunden, nicht erfunden; gefunden bei Hartmann von Aue, der wiederum aus dem Französischen inspiriert war. Keine regionale, keine nationale Legende, sondern gesamt-abendländische. Über der Geschichte schwebend durch fehlende Zeitangabe, auch örtlich relativiert durch die verwendete Sprache. Viel mit Internationalem versetzt, abstrakt und ohne Wurzeln, kunstvoll und künstlich. „Gott ist Geist, und über den Sprachen ist die Sprache.“
Fern ist die Erzählung darum den Lesern, heute wie vor siebzig Jahren. So sehr, dass Gut und Böse, Dafür und Dagegen das Urteil nicht mehr trüben und man sich ganz einlassen kann auf das Abstraktum Mensch in seiner fleischlichen Sündhaftigkeit wie seinem Streben zum Heiligen, gefangen zwischen Tier und Engel. Und bisweilen den göttlichen Funken spürt.
Das Buch
Thomas Mann: Der Erwählte. Erstveröffentlichung 1951. Hier verwendet: 30. Auflage, S. Fischer, Frankfurt 2015, 255 S.
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