Der Mensch ist kein Ding

„Manchmal frage ich mich, was wohl schwieriger ist, den Deutschen einen Sinn für Politik oder den Amerikanern auch nur einen leichten Dunst von Philosophie beizubringen.“ Dieses Zitat Hannah Arendts ist bezeichnend für Leben und Werk der 1906 in Hannover geborenen deutschen Jüdin.


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Aus der Welt der akademischen Philosophie kommend – sie promovierte bei Karl Jaspers und schulte ihr Denken an den bedeutendsten Philosophen ihrer Zeit, unter ihnen Edmund Husserl und ihr zeitweiliger Geliebter Martin Heidegger – wandte sie sich im Laufe  ihres Lebens mehr und mehr der Sphäre des Politischen zu. In ihr reifte die Erkenntnis, dass der Mensch primär ein soziales, mit seinen Mitmenschen aufs engste verbundenes Wesen ist, das nur in der Kommunikation mit anderen Menschen zum vollen Menschsein gelangt. Dies eben ist der Bereich des Politischen. „Immer dort, wo es ums Handeln und Sprechen geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel“, so Hannah Arendt in ihrem Werk „Vita activa“ (erschienen 1958 unter dem amerikanischen Originaltitel „The Human Condition“).

Nur das ist sinnvoll, worüber gesprochen werden kann

Ihr Denken wird geleitet von der Annahme, dass „was immer Menschen tun, erkennen oder wissen nur in dem Maße sinnvoll ist, wie darüber gesprochen werden kann“. Schaut man sich die zunehmende Spezialisierung in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen an, möchte man ihr zustimmen. Eine disziplinübergreifende sprachliche Verständigung ist oftmals nicht mehr möglich. Als Spezialist auf seinem Fachgebiet bewegt sich der einzelne Wissenschaftler in seinem eigenen Kosmos und kann sich allenfalls noch mit Kollegen angrenzender Fachdisziplinen verständigen. Noch schwieriger wird es freilich, wenn es darum geht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinzutragen. Angesprochen auf die teilweise bizarren Theorien zur Entstehung des Universums, die durch Versuche am Teilchenbeschleuniger LHC des Forschungszentrums CERN in der Nähe von Genf erhellt werden sollen, gibt der amerikanische Nobelpreisträger David Gross unumwunden zu: „Wir wissen selbst nicht, worüber wir reden. Es ist eine Phase äußerster Verwirrung.“ Wenn noch nicht einmal die Teilchenphysiker eine Vorstellung davon haben, was man sich unter Strings, Branen und Higgs-Teilchen vorzustellen hat, so ist der Versuch, dem Otto-Normalbürger die Grundstrukturen des Kosmos in einfachen Worten zu erklären, erst recht ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Hannah Arendt spricht in diesem Zusammenhang von einer „sprachlosen“ Wissenschaft, die Gefahr läuft, zum Sklaven ihres eigenen Erkenntnisvermögens zu werden.

Arendt analysiert in ihrem Werk „Vita activa“ drei Arten von praktischen menschlichen Tätigkeiten: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Damit stellt sie sich bewusst gegen die philosophische Tradition, die dem reinen Denken – der „Vita contemplativa“ – die höchste Bedeutung zumisst. Unter dem Begriff Arbeiten subsumiert sie alle Tätigkeiten, die der Aufrechterhaltung des Lebens dienen; in erster Linie die Tätigkeit der Nahrungsbeschaffung. Dieser sich ständig wiederholende Prozess des Arbeitens, der erst mit dem Tod des Menschen an sein Ende kommt, war über Jahrhunderte hinweg mit großer Mühe und Plage verbunden. Durch den technischen Fortschritt scheint es heute, als rücke ein von Mühe und Arbeit befreites Leben in greifbare Nähe. Hannah Arendt hält nicht viel von dieser utopischen Vorstellung. „Das Recht auf Glücklichsein gibt es nicht“, hält sie den Utilitaristen entgegen. Erst im Wechsel zwischen Arbeit und Verzehr, Erschöpfung und Ruhe, Mühsal und Erholung finde der Mensch sein inneres Gleichgewicht.

Der moderne Mensch unterwirft sich bereitwillig dem Diktat von Produktivität und Wachstum

Paradoxerweise habe die Technisierung in der Arbeits- und Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht zu mehr, sondern zu einem Weniger an Freiheit geführt. Dies gehe einher mit einer Verherrlichung der Erwerbsarbeit (nicht zu verwechseln mit der Arendt’schen Definition von Arbeit. Der Erwerbsarbeit geht es vor allem um das Geldverdienen. Sie ist das, „was man können muss, um nicht mehr arbeiten zu müssen“). Heute, im Jahr 2010, scheint sich die Situation eher noch verschärft zu haben. Erwerbsarbeit und Konsum werden zum Fetisch erhoben. Anstatt die durch den technischen Fortschritt gewonnene freie Zeit sinnvoll zu nutzen für Familie, kulturelle Aktivitäten und soziales Engagement, unterwerfen wir uns dem Diktat von Produktivität und Wachstum und machen uns freiwillig zu Sklaven der Erwerbsarbeit. Zum Problem wird es dann, wenn wir mit unserer überschüssigen, freien Zeit nichts mehr anzufangen wissen oder, noch schlimmer, wenn uns infolge der zunehmenden Automatisierung die Arbeit ausgeht. Dieses Problem erkannte Arendt bereits 1958: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ Dass dieses Problem aktueller ist denn je, zeigt nicht zuletzt die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen.
Während das Kennzeichen der Arbeit die ständige Wiederholung ist, handelt es sich beim Herstellen um einen linearen Prozess, der mit der Fertigstellung des Produktes an sein Ende kommt. Das charakteristische Merkmal des Herstellens sieht Arendt in der Zweck-Mittel-Kategorie. Das Endprodukt ist der Zweck, zu dessen Erreichung zweckdienliche Mittel eingesetzt werden. Was aber ist der höhere Zweck, der Sinn, nach dem wir streben? Die modernen Utilitaristen beantworten dies auf ihre Weise: Der Mensch selbst als gebrauchendes und konsumierendes Wesen ist der Endzweck. Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen wird zum höchsten Gut erhoben. Dieser Logik folgend müssen wir, um unsere wachsenden Konsumbedürfnisse zu befriedigen, immer mehr und immer effektiver produzieren. Auf diese Weise hat das anthropozentrische Nützlichkeitsdenken wesentlich zur Verherrlichung der Erwerbsarbeit in unserer Konsumgesellschaft beigetragen.

Als weiteres Kennzeichen der modernen Massengesellschaft diagnostiziert sie einen zunehmenden Konformismus. An die Stelle des individuellen Handelns sei ein gesellschaftlicher Zwang zum „Sich-Verhalten“ getreten. Bereits die griechische Polis war uns in diesem Punkt voraus, als „Ort des heftigsten und unerbittlichsten Wettstreites, in dem ein jeder sich dauernd vor allen anderen auszeichnen musste, durch Hervorragendes in Tat, Wort und Leistung.“ Recht hat sie. Leistung und individuelles Handeln werden zu wenig gewürdigt in unserer Gesellschaft; stattdessen knien wir nieder vor dem Goldenen Kalb der Political Correctness. Nicht opportune politische Vorschläge, die notwendige gesellschaftliche Debatten anstoßen könnten, werden durch die auf  dem Fuße folgende mediale Empörung bereits im Keim erstickt. Man hat sich gefälligst der gesellschaftlichen Norm anzupassen. Die Reaktionen auf Westerwelles im Kern sinnvolle Forderung, dass jemand der arbeitet, mehr verdienen muss als jemand, der nicht arbeitet, ist nur ein Beispiel von vielen.

Keiner der sogenannten Wirtschaftsexperten hat die Krise kommen sehen

Dieser für die Neuzeit charakteristische Konformismus habe das Entstehen der Nationalökonomie und der modernen Gesellschaftswissenschaften erst möglich gemacht, welche „die Berechenbarkeit der menschlichen Angelegenheiten als selbstverständlich voraussetzen.“ Damit, so Arendts Einwand, degradiere man den Menschen zu einem mit Hilfe von statistischen Werkzeugen erfassbaren, determinierten Wesen, womit man ihm indirekt die Fähigkeit zum individuellen Handeln abspreche. Eine späte Rechtfertigung für ihre These erfährt Hannah Arendt durch derzeitige die Finanzkrise. Die Ökonomen lagen mit ihren Modellen fast ausnahmslos daneben. Keiner der sogenannten Wirtschaftsexperten hat die Krise kommen sehen, eben weil der menschlich-subjektive Faktor in den Modellen nicht berücksichtigt ist (und gar nicht berücksichtigt werden kann).

Unter den Tätigkeiten der „Vita activa“ misst sie dem Handeln und Sprechen, als genuin politischen Tätigkeiten, die höchste Bedeutung zu. Ohne handelnde und sprechende Menschen „wäre die Welt ein Haufen beziehungsloser Dinge.“ Handeln ist für sie dabei immer Selbstzweck. „Die Größe einer Tat liegt weder in den Motiven noch in den Zielen, sie liegt einzig und allein in ihrer Durchführung, im Modus des Tuns selbst.“ Schon die alten Griechen haben im Handeln und Sprechen eine Kunst gesehen, ähnlich wie Theater oder Tanz, in der man es zu einem gewissen Virtuosentum bringen kann. Die moderne Arbeits- und Konsumgesellschaft wolle davon nichts mehr wissen. Sie sei von einem Machbarkeitswahn ergriffen, der das für den Prozess des Herstellens typische Zweck-Mittel-Denken mit einer großen Selbstverständlichkeit auch auf den Bereich des Politischen übertragen habe, mit fatalen Folgen für das menschliche Miteinander.

„Im Bereich des Politischen kann sich Moral auf nichts anderes berufen als auf die Fähigkeiten des Versprechens und Verzeihens.“

Schaut man sich unsere Gesellschaft mehr als 50 Jahre nach Erscheinen von Vita activa an, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Handeln und Miteinandersprechen werden, wenn sie keinem spezifischen Zweck dienen, oftmals nur als Gerede und eitle Betriebsamkeit abgetan. Arendts Analyse dieses Phänomens ist so einfach wie bestechend: Die weitverbreitete Skepsis gegenüber der Politik im Allgemeinen und der Demokratie im Speziellen gründe darin, dass wir Menschen uns intuitiv dagegen sträuben, die charakteristischen Merkmale des Handelns und Sprechens – die Unabsehbarkeit der Folgen und das Nicht-wieder-rückgängig-machen-Können der einmal begonnenen Prozesse – zu akzeptieren und in unser Handeln zu integrieren. Zu allen Zeiten sei deshalb die Versuchung groß gewesen, die „zerbrechlichen menschlichen Angelegenheiten“ durch eine technische Regelung des Miteinanders zu ersetzen. Alle diese Versuche, menschlicher Pluralität (als ummittelbare Folge der Einzigartigkeit jedes Menschen) Herr zu werden – angefangen von Platons Philosophenkönig, der vermöge seiner Weisheit regiert, bis zum Monarchen, der über seine Untertanen herrscht – liefen im Kern darauf hinaus, Politik überhaupt abzuschaffen. Ursache hierfür sei ein „nur zu begründetes Misstrauens gegen menschliches Handeln“. Damit politisches Handeln trotzdem gelingen kann, sei es deshalb unabdingbar, sich Versprechen zu geben und diese zu halten. (Nicht umsonst handeln die Regierungsparteien zu Beginn einer Legislaturperiode einen Koalitionsvertrag aus.) Doch Versprechen alleine genügen nicht. Da man die Folgen des eigenen Handelns und Sprechens niemals vollständig überblicken kann, muss ein Weiteres hinzukommen: das Verzeihen. Denn auch wenn Menschen ihre Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen treffen, machen sie doch Fehler und laden Schuld auf sich. Merkwürdigerweise wurde und wird das Verzeihen in der Politik eher spöttisch belächelt, während das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, in der politischen Theorie und Praxis zu allen Zeiten eine außerordentliche Rolle gespielt hat. Hannah Arendt bleibt dabei: „Im Feld des Politischen kann Moral sich auf nichts anderes berufen als auf die Fähigkeit des Versprechens und auf nichts anderes stützen als den guten Willen, den Unwägbarkeiten, denen Menschen als handelnde Wesen ausgesetzt sind, mit der Bereitschaft zu begegnen, zu vergeben und sich vergeben zu lassen.“

Mit ihrem Buch Vita activa will Hannah Arendt nicht mehr und nicht weniger, als der Politik ihre Würde zurückzugeben. Sie begreift den Menschen als ein zur Freiheit begabtes Wesen, das im Kierkegaard’schen Sinne existenziell leben soll. Dazu bedarf es Menschen, die stets aufs Neue den Mut beweisen, sich als Person, sprechend und handelnd in die Gesellschaft einzubringen. Eine stete Herausforderung.

 

Hannah Arendt: Vita activa – Vom tätigen Leben, Piper Verlag, 2008, 415 S., 12,95 €


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Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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