Der Nase nach

Politische Gewalt in der einen oder anderen Form ist wieder auf dem Vormarsch. Friede und Freiheit sind nicht gottgegeben; sie müssen jeden Tag verteidigt werden. Das fängt schon bei scheinbar kleinen Fragen des politischen Anstands an.


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


Die Klage über den Sittenverfall ist uralt und gehört zum Standardrepertoire berufsmäßiger Wehklager über den ach so verdorbenen und verlotterten Zeitgeist. Immer wieder gerne zitiert wird der alte Sokrates mit seiner Schelte der ungezogenen Jugend von Athen: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“

Man liegt gewiss nicht arg verkehrt, wenn man annimmt, dass seither beinahe jede ältere Generation über die Jungen, die ihr nachfolgen sollten, ähnlich dachte. Da wundersamerweise auch nach über zweitausend Jahren die Zivilisation nicht untergegangen ist, obwohl es doch eigentlich von Generation zu Generation schlechter geworden sein müsste, wird man den Verdacht nicht los, dass es eher der Perspektivwechsel ist, der naturgemäß kommt, wenn die Haare grauer und weniger werden, als ein echter Veränderungseffekt, der zu solchen Diagnosen führt.

Wir müssen also achtgeben, nicht ins gleiche Horn zu stoßen. Durch was die Welt am Ende untergehen wird, können wir nur vermuten; durch schlechtes Benehmen gewiss nicht und – zum Trost der Alten und zu ihrer eigenen Desillusionierung sei es gesagt – durch die rebellische Jugend auch nicht.

Politisches Rabaukentum

Dennoch, gewisse Dinge stören einfach. Und wenn manches auch mit der verdichteten Berichterstattung zusammenhängen mag, so hat man doch den Eindruck, dass sie sich häufen; übrigens, und das stimmt bedenklich, nicht nur bei den Jungen. Sehen wir uns Beispiele an.

Ein alter Grundsatz ist: De mortuis nihil nisi bene, von den Toten nicht als Gutes. In Reinkultur hat er gewiss niemals gegolten. Kritik, freilich in freundliche Worte gekleidet, ist und war auch früher schon in Nachrufen nicht unüblich. Aber dass Rabaukenrotten Freudentänze aufführen, bevor der Leichnam bestattet ist, wie bei der Lady Thatcher in England nun geschehen, ist schon ein starkes Stück; und dass ein im Alter nicht weise gewordener Gewerkschaftsfunktionär, der nach Erhalt der Todesnachricht öffentlich ausspricht, nun werde er sich freudig betrinken, derlei Schamlosigkeit politisch überlebt, kann man nur als Anzeichen fortgeschrittener Verwahrlosung der politischen Kultur auf der Insel werten. Gewiss, die eiserne Lady hat sich Feinde gemacht in großer Zahl. Aber auch mit politischen Feinden kann man in Anstand umgehen, im Leben und im Tode.

Auf diesen Anstand meint verzichten zu können, wer fest daran glaubt, im Recht zu sein, und nicht nur im Recht, sondern auf der Seite es einzig Wahren und Guten im Kampf gegen diabolische Gegner, denen eine menschliche Behandlung nicht mehr zukommt. Zu diesen notorischen Rechthabern gehören manche Sozialideologen und Gewerkschafter in England augenscheinlich; dazu gehören in Deutschland, unter anderem, nicht wenige Pazifisten, Umweltaktivisten, Internetfreibeuter und selbsternannte Nazibekämpfer (die Nazis selbst natürlich auch). Und sie genießen weitgehend Narrenfreiheit in ihrem Tun.

Es ist schon ein recht merkwürdiger Vorgang, wenn eine Horde von Studenten einen leibhaftigen Bundesminister, Dr. de Maizière, bei einem Vortrag an der Humboldtuniversität zu Berlin niederbrüllt und nicht zu Wort kommen lässt, und dann die blamierte Hochschule trotz vorhandener Film- und Fotodokumentation nichts Erkennbares unternimmt, um die Täter zu identifizieren und wegen akademisch unwürdigen Verhaltens zu exmatrikulieren; über eine halb-distanzierende Mitteilung bei gleichzeitigem Lob der „antimilitaristischen“ Haltung der Protestler kam man nicht hinaus. Frieden erzwingen durch verbale Gewalt.

Nicht nur die Redefreiheit anderer wird übrigens behindert durch Anarchoaktionen, auch die Bewegungsfreiheit. Straßenblockaden, gegen Militärtransporte, An- und Abfahrten von Atomanlagen, tatsächlich oder vermeintlich verfassungsfeindliche, von Gerichten aber genehmigte Demonstrationen: Früher nannte man so etwas Landfriedensbruch; heute gilt es als Teil der Demonstrationsfreiheit, anderen die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum zu nehmen; wenn es denn dabei bleibt und nicht die andere Seite oder die abschirmenden Polizisten Opfer direkter Gewaltausübung werden. Oft genug weicht der Staat der Gewalt, auch der anderen Seite, und empfiehlt dann Menschen mit bestimmtem Aussehen oder bestimmten Ansichten, gewisse Gegenden zu meiden, statt mit den Prügelbanden aufzuräumen.

Immerhin nicht körperlich, aber virtuell ist der Zwang, den Netzaktivisten ausüben, etwa die Hacker von Anonymous mit ihren Angriffen auf Webseiten ihnen missliebiger Personen, Gruppierungen und Staaten. Am Ende aber mit dem gleichen Zweck: die Gegner mundtot zu machen und Angst unter ihnen zu verbreiten.

Radikalismus des Benehmens

Justiziabel ist das alles häufig, nicht immer. Gelegentlich fällt es in die Kategorie des bürgerlichen Anstands: „Das tut man nicht.“ Nun, heutzutage tut man es doch, und wenn die Öffentlichkeit auch nicht immer gerade Beifall klatscht, so findet sich doch erstaunlich wenig Widerspruch. Dem Furor der Empörten stellt sich ungern entgegen, wer nicht selbst sein Opfer werden will.

Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens sind dann außer kraft gesetzt: Respekt voreinander, höflicher Umgang miteinander; den anderen aussprechen lassen, überhaupt ihn zu Wort kommen lassen, in Schrift und Ton oder körperlos im Netz; sein Eigentum respektieren, Haus und Hof; ihn nicht körperlich bedrängen und seine Bewegung behindern, auf Straßen und Plätzen; und zuletzt: keine Gewalt ausüben, gegen Menschen nicht und gegen Dinge auch nicht. Gewiss, man soll das alles nicht gleichsetzen oder meinen, es gäbe eine automatische Spirale nach unten, bei der die erste Stufe, des Anfangseffekts wegen, schon beinahe genauso schlimm wäre wie die allerletzte: Fälle grausamen politischen Mordes, wie sie nun vor dem Münchener Landgericht verhandelt werden. Es gibt zwischen jeder Stufe himmelweite Unterschiede. Dennoch: Wo der Gegner nicht mehr als Mensch geachtet wird, gerät man auf eine abschüssige Ebene.

Die Politologen neigten und neigen immer noch mehrheitlich dazu, Radikalismus inhaltlich zu definieren, entlang der Grenzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die sind unscharf genug und variieren von Generation zu Generation, von Land zu Land. Ich glaube mittlerweile, man macht nicht viel verkehrt, man macht im Gegenteil viel richtig, wenn man Radikalismus habituell definiert. Denn vom Verhalten her ähneln sich die Radikalen aller Zeiten und Völker. Man braucht keine Verfassungsparagraphen zu studieren und mühsam zusammenzutragen, was wer dazu gedacht und gesagt hat. Man braucht nur zu beobachten, wer sich wie verhält, innerhalb oder außerhalb der üblichen Regeln des Anstands. Die sind nicht kodifiziert; man hat sie im Gefühl, oder man hat sie nicht; unanständiges Verhalten spürt man instinktiv, man kann es fast körperlich riechen. Lange Gedankengänge, mit denen beinahe alles rationalisierbar ist und gerechtfertigt werden kann, führen hier oft in die Irre; wer erkennen will, wo politischer Radikalismus anfängt und endet, braucht nur seiner Nase zu folgen.


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden