Der Rahmen ist weit

Man konnte die Uhr danach stellen: Kaum wird über ihre Gründung diskutiert, gerät die „Alternative für Deutschland“ unter Extremismusverdacht. Euroskeptisch, europafeindlich, rechtspopulistisch; mit braunen Flecken? Der Weg zum Stigma ist kurz, und jeder vergibt es nach eigenem Gutdünken. Das muss endlich aufhören. Wir brauchen klare Kriterien, was innerhalb unserer Demokratie an politischen Positionen möglich ist und was nicht. Und was innerhalb liegt, darf nicht länger diffamiert werden.


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Es fällt nicht ganz leicht, den Verteidiger jener etwas miefig wirkenden Altherrenriege zu geben, die sich unter dem Titel Alternative für Deutschland nun aufmacht, eine politische Gegenposition zur Allparteienkoalition in Sachen Euro-Rettung zu formulieren. Eine Prise zuviel Nostalgie und Weltschmerz darin, einige professorale Politikferne gemischt mit geistigem Provinzialismus hier und da und allzu offensichtlichen Anti-Brüssel-Reflexen – mögen muss man sie nicht.

Aber andere Parteien muss man auch nicht mögen. Eindimensional denkende Technikfreaks bei den Piraten nicht, die ins Transzendente hinüberreichende Gender- und Öko-Ideologie bei den Grünen nicht, den allgegenwärtigen Lobbyismusgeruch bei der FDP nicht; den Mief der Gewerkschaftstradition bei der SPD nicht und den provinziellen Landfrauenkonservatismus bei den Christdemokraten natürlich auch nicht. Antipathie aber rechtfertigt noch nicht, dem Gegenüber die Demokratiefähigkeit abzusprechen.

Genau dies geschieht nun jedoch bei der zur Gründung anstehenden „Alternative“; erwartungsgemäß. Dieses Schicksal teilen alle Parteineugründungen in Deutschland, die nicht unzweifelhaft links sind: Das Etikett rechtspopulistisch ist schnell bei der Hand und wird von der Journaille nach Gutdünken vergeben. Anlässe und Scheinbegründungen finden sich immer; ein missverständlicher Satz eines mittleren Funktionärs, ein wohlwollendes Statement irgendeiner FPÖ-Charge, die in Deutschland niemand kennt, und der Stab ist gebrochen. Das Heer der selbsternannten Nazijäger in den Linksparteien macht gerne mit, sonst wäre es ja ohne Beschäftigung; die Union hält taktisch still oder beteiligt sich, schließlich liegt es in ihrem Interesse, potentielle Konkurrenz frühzeitig auszuschalten.

Politisch verständlich ist das alles. Gegenüber den Beteiligten, den honorigen Professoren Lucke und Starbatty etwa, ist es dennoch eine Unverschämtheit. Bei schwacher oder nicht vorhandener Beweislage sehen sie sich nun mit Stammtischschwätzern gleichgesetzt und müssen sich ernsthaft die Frage stellen lassen, ob sie nicht das Klientel rechter Schlägerbanden mitbedienen. Als gäbe es zwischen der blinden Europaeuphorie des juste milieu und NPD-Dumpfbacken keine Abstufungen.

Klare Kriterien müssen her

Es ist ein demokratietheoretisches Unglück, wenn auch natürlich kaum zu ändern, dass immer die herrschende Mehrheitsmeinung in Journaille und etablierten Parteien darüber bestimmt, was demokratisch akzeptabel ist und was nicht, wer zum Club gehören darf und wer nicht. Es führt zu geistiger Inzucht und Allparteienkonsensen mit Ausgrenzungsneigung; genau so sind die Konstruktionsfehler von EU und Währungsunion entstanden – wer nüchtern nach den ökonomischen Wirkungen und Risiken fragte, galt als europaskeptisch, fortschrittsfeindlich, provinziell – also böse, obwohl er vielleicht nur ein anderes, sinnvoller organisiertes Europa anstrebte als der Mainstream.

Freilich gibt es keinen neutralen Standort oberhalb des politischen Geschehens, von dem aus sich sicher sagen ließe: Diese Aussage ist noch auf dem Boden der demokratischen Ordnung und jene nicht. Solche Objektivität gibt es allenfalls im Rückblick, und vielleicht nicht einmal dann. Aber man kann sich immerhin annähern: von außen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht die einzige Demokratie dieser Erde; eine recht solide und stabile gewiss, aber nicht einmal die älteste oder fraglos erfolgreichste auf der Welt. Was in anderen demokratischen Staaten selbstverständlich ist, kann in Deutschland zwar eine Minderheitenmeinung sein, aber wohl kaum außerhalb der demokratischen Grundordnung liegen. Es lohnt sich, diese Vogelperspektive für einen Augenblick einzunehmen. Denn so manche Trennlinie, die heute oft zwischen Gut und Böse gezogen wird, erweist sich so sehr schnell als augenscheinlich sinnfrei.

Europafeindlichkeit ist erlaubt

Zum Beispiel die logische Verknüpfung zwischen demokratischer Gesinnung und Europafreundlichkeit. Es gibt nämlich keine. Die meisten Demokratien liegen außerhalb Europas, können und wollen gar nicht Mitglied der EU oder einer anderen Kontinentalallianz werden. Und auch innerhalb Europas gibt es über jeden Zweifel erhabene Demokratien, die für sich EU- oder Euro-Mitgliedschaften ganz überwiegend und auf lange Sicht ablehnen, auch solche mit viel längerer demokratischer Tradition als Deutschland und einer deutlich glücklicher verlaufenen Geschichte: die Schweiz etwa oder Norwegen oder die nur mit einem Bein in Europa stehende älteste neuzeitliche Demokratie, die englische. Europafeindlichkeit mag rückwärtsgewandt, naiv, weltpolitisch unklug sein; in der Demokratie unerlaubt ist sie nicht, und sie in den „populistischen“, semantisch dem „Extremen“ sehr nahe stehenden Graubereich abzuschieben, ist infam und lediglich ein Zeichen, dass die übrigen Argumente ausgegangen sind.

Und die Aussage lässt sich ausweiten. Es gibt keinen logischen Zusammenhang zwischen Demokratiefreundlichkeit und der Mitgliedschaft in internationalen Zusammenschlüssen irgendeiner Art oder der Mitwirkung in internationalen Initiativen. Man kann internationale Militäreinsätze ablehnen wie die Schweizer, man kann die Nato ablehnen wie die Schweden, man kann auf eigenes Militär verzichten wollen wie die Isländer. Damit verlässt man eventuell einen Konsens der derzeit maßgeblichen politischen Parteien. Aber man verlässt nicht den Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Denn dieser Rahmen ist weit.

Etatismus und Marktradikalismus sind erlaubt

Auch auf dem Feld der Innenpolitik ist er weit. Es steht keine minimale und keine maximale Staatsquote im Grundgesetz oder in der Menschenrechtscharta, und das hat seinen Grund: Weil der Grad des staatlichen Interventionismus innerhalb des legitimen Entscheidungsrahmens der politischen Mehrheiten liegt. Unter den Demokratien der Welt findet man beinahe alle Schattierungen, hohe Staatsquoten wie in Schweden, niedrige wie in Amerika, eine von staatlichen oder halbstaatlichen Industriekonzernen dominierte, engmaschig regulierte Wirtschaft wie in Frankreich oder eine vom Finanzsektor getriebene libertäre wie auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Gewiss, welches Modell das wirtschaftlich erfolgreichste oder unter Verteilungsgesichtspunkten das gerechteste ist, darüber kann und soll man streiten. Aber mit echten Argumenten und nicht mit dem billigen Totschlagargument der angeblichen Demokratiefeindlichkeit des Gegenübers.

Es ergeben sich noch manch andere erhellende Einblicke, wenn man für einen Augenblick den Kopf über das innenpolitische Kampfgetümmel erhebt und schlicht einmal empirisch vergleicht. Zum Beispiel, wie unsinnig die Behauptung ist, die strikte Trennung von Staat und Kirche sei konstituierendes Merkmal jeder Demokratie. Die Zahl der strikt laizistischen Staaten auf der Erde lässt sich an einer Hand abzählen. Religionsfreiheit und eine neutrale Haltung des Staates gegenüber den Konfessionen findet man tatsächlich in allen modernen Demokratien; die sterile Trennung der Kultursphären Staat und Kirche auf dem Papier nur ganz selten und in der Wirklichkeit nirgends.

Im Zweifel: Vergleichen

Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Einzelbeispiele sind auch gar nicht entscheidend. Entscheidend ist der Grundgedanke: Die Binnenperspektive des innenpolitischen Kampfgetümmels ist denkbar schlecht geeignet für die Frage, wie man eine neue Partei einzustufen hat. Nicht weil selbstherrliche Leitartikler meinen den Richter spielen zu müssen oder Funktionäre der Konkurrenz sich zum Makler in eigener Sache erheben, gerät eine Partei außerhalb des demokratischen Spektrums. Sondern nur aufgrund von Personen und Programm. Und wann immer man die Adjektive populistisch oder rechtsaußen hört, sollte man sich einfach fragen: Wäre diese Position auch in Amerika, in Frankreich oder in England „rechtsaußen“? Und wenn nicht, warum sollte sie es dann bei uns sein?


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