Der Sekretär Europas

Er war kein aktiver Politiker, prägte aber seine Zeit und stand auf dem Kontinent zeitweise fast alleine gegen den mächtigen Kaiser Napoleon. Er verkörperte als einer der ersten die europäische Idee und erstarrte am Ende im bloßen Verteidigen des bestehenden Allianzsystems. Ein Blick auf das schillernde Leben des Friedrich von Gentz.


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640px-Friedrich_GentzGolo Mann nannte ihn den größten politischen Schriftsteller in deutscher Sprache, Harro Zimmermann den Erfinder der Realpolitik. Dennoch ist Friedrich von Gentz weitgehend vergessen. Zu Unrecht; sein Leben ist Spiegel zweier ganzer Epochen, des anti-napoleonischen Freiheitskampfes und der folgenden Ära der Reaktion.

Er war nicht Reaktionär von Geburt an. Niemand ist das. Der 1764 in Breslau geborene Sohn eines preußischen Münzdirektors hatte, ehe er in den Verwaltungsdienst eintrat, als Studiosus zwei Jahre in Königsberg als Schüler Immanuel Kants verbracht; in seinen jungen Jahren war er ein liberaler Reformer, ein typisches geistiges Produkt des 18. Jahrhunderts. Konservativ machte ihn die Französische Revolution. Einerseits der Gang der Ereignisse selbst, den er anfangs mit Wohlwollen verfolgt hatte, der ihn aber, da der Blutzoll immer größer wurde, mehr und mehr abstoßen musste. Andererseits die Lektüre Edmund Burkes, dessen Reflexionen über die Revolution er ins Deutsche übersetzte und die als Gründungsdokument einer konservativen Weltanschauung durchaus gelten können.

Er nahm den Kampf auf, ohne qua Amt dazu berufen zu sein. Was er nun eigentlich von Beruf war – Beamter, Journalist, Übersetzer, politischer Agent – ist so leicht nicht zu sagen. Ein wenig von allem, im übrigen eine berüchtigte Lokalberühmtheit; privat führte er ein Lotterleben, war Lebemann durch und durch, Salonlöwe auch, eine der Hauptattraktionen im Haus der Rahel Levin; verlor Unsummen im Glücksspiel und war ständig in Geldsorgen. Daher verschmähte er auch nicht, für seine publizistischen Dienste sich von interessierter Seite bezahlen zu lassen, aus London zumeist und aus Wien, wohin er schließlich umsiedelte. Dabei schrieb er seinen Gönnern durchaus nicht nach dem Munde, blieb im Gegenteil bei seinem Standpunkt, gelegentlich nicht ohne Starrsinn.

Allein gegen Napoleon

Mitunter war er damit gänzlich isoliert, stand als Warner vor der französischen Aggression fast allein in den friedensgeneigten Hauptstädten, da Preußen und Österreich und zeitweise sogar England glaubten, sich mit dem neuerdings napoleonischen Frankreich arrangieren zu können. Über die Jahre lernte er seine Verbündeten beinahe mehr zu verachten als den Feind, all die Minister, Hofräte, Generale, zerstritten, wie sie waren, korrumpiert, da sie ihren Beuteteil auf Kosten kleiner Staaten bei Napoleons Friedensschlüssen mit davontrugen, kurzsichtig, da sie meinten, der Imperator werde an seinen Grenzen auf Dauer mehr dulden als bloße Vasallenstaaten. Dass sie 1805 und 1806 Schiffbruch erlitten, überraschte ihn nicht; er hatte es vorausgesagt. Dennoch tat er, was er konnte, um zu helfen, beriet, vermittelte, verfasste Kriegsmanifeste. Es änderte nichts. Austerlitz kam, und Jena kam, und Tilsit kam. Europa unterwarf sich dem Aggressor. Und Gentz versank in tiefe Verzweiflung.

Nachdem Europas alte Eliten so offenkundig versagt hatten, blieb ihm wenig, woran er glauben konnte. Er konnte nicht den allgemeinen Volksaufstand predigen wie der Freiherr vom Stein. Vom Volk verstand er nichts und hielt er nichts, von Volksbeteiligung gleich gar nicht. „Wie sollten Millionen von unwissenden Schwätzern, aus welchen ein sogenanntes Publikum zusammengesetzt ist, auch nur von fern zu beurteilen vermögen, was zu tun ist? Man muss die großen Elemente in der Nähe gesehen, erforscht, sich darüber halb zu Tode gedacht haben, um zu wissen, wie schwer es auch dann noch ist, das Richtige zu treffen.“

Gentz war schon arg desillusioniert und verbittert, als der Triumph am Ende doch kam und Napoleon besiegt war; er konnte keine rechte Freude mehr daran finden. Doch war er nun direkter am politischen Geschehen beteiligt als je zuvor. Als enger Vertrauter des österreichischen Ministers, Metternich, gestaltete er die Außenpolitik maßgeblich mit und wurde hochrespektierter erster Sekretär des Wiener Kongresses. Ruhe und Ausgleich waren nun seine einzigen Prioritäten: ein Friede der Mäßigung, der dem besiegten Frankreich die Würde erhielt, die Eroberer zügelte; ein System des Gleichgewichts. Das kam auch heraus und hielt eine Weile, mit Gentz und auch ein wenig durch Gentz, der noch bei fünf weiteren großen Kongressen die Feder führte.

Mit Metternich in die Reaktion

Dem gemäßigten Friedenssystem nach außen entsprach ein gemäßigtes Unterdrückungssystem nach innen. Beides gehörte unter Metternich und seinem Freunde Gentz zusammen. Die Studenten in ihrem nationalistischen Eifer, in Deutschtümelei und Franzosenhass, verachteten sie, hielten sie für neue Jakobiner. Gentz, als Oberzensor, hatte die Karlsbader Beschlüsse durchzusetzen, tat es mit wenig Freude, aber pflichtbewusst. Das Freiheitsstreben der Griechen, der Unabhängigkeitswille der Italiener und der Balkanvölker, kurz alles, was Veränderung bedeuten mochte, war ihm nun drohende Revolution und eine Gefährdung des Friedens. Ordnung predigte er jetzt, Ordnung um jeden Preis; beinahe gleich, welche Ordnung. „Jeder Feudalismus, selbst ein sehr mittelmäßig geordneter, soll mir willkommen sein, wenn er uns nur von der Herrschaft des Pöbels, der falschen Gelehrten, der Studenten und besonders der Zeitungsschreiber befreit.“ Dass der Gang der Geschichte durch Pressezensur und ähnliche Pressionen aufzuhalten war, glaubte er, wie Metternich, nicht ernstlich; es gab Momente, in denen ihn die traurige Gewissheit des eigenen Scheiterns innerlich zerfraß.

Zum Reaktionär machte ihn die Angst. Nicht die Angst um die Macht von Staaten, Klassen oder Dynastien; die scherten ihn wenig. Die Sorge um Europa und um sein inneres Gleichgewicht trieb ihn um wie einst gegen Napoleons übermächtiges Frankreich. Was später kam, nachdem dieses Gleichgewicht verloren gegangen war, sollte Europa ermuntern, ihn nicht zu vergessen.


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