Der Sprung ins Dunkle

Das Jahr 1914 ist uns nah und fern zugleich. Fern genug, um über wechselseitige Schuldzuweisung und Verurteilung hinaus zu sein; nah genug, um aus dem Geschehen Lehren zu ziehen – jenseits platter Analogien.


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In Deutschland ist der Erste Weltkrieg in der historischen Wahrnehmung lange vom Zweiten überdeckt gewesen; gleichermaßen in Russland und Ostmitteleuropa; nicht so in England und in Frankreich. Das hat Gründe. Nicht zuletzt sicherlich, dass der Krieg von 1939 bis 1945 im Osten viel heftiger und grausamer tobte als im Westen. Auch, dass die westlichen Länder seit dem Ersten Weltkrieg keine Revolutionen und Regimewechsel durchlebten und auf die heroische Tradition von 1914 bis 1918 ungebrochen sich beziehen können. Doch hinzu kommt noch ein Drittes. Der Erste Weltkrieg eignet sich, wenn man es redlich meint, nicht zu einem einfachen, eingängigen Narrativ, zu einer nationalen Legende; im Guten nicht, und im Bösen auch nicht.

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, so sehr sie den Betrachter mit Grauen und Ekel erfüllt, verstört im Grunde nicht. Ein Volk, gefallen von einstiger Größe, nicht ohne eigenes Zutun, daniederliegend nach tausend Demütigungen, wählt sich in seiner Verzweiflung einen bösen Mann zum Führer, der all das Böse verkörpert und hervorbringt, was in einem Volk nur angelegt sein kann, lügt, betrügt, erobert und mordet und die Helfer sucht und findet, die jeder Tyrann immer fand und finden wird, wenn er morden will. Im Grunde ist es eine einfache Geschichte, und einfach sind auch die Lehren, die aus ihr zu ziehen sind.

Die Geschichte vom ersten der zwei großen Kriege ist so einfach nicht. Die ihn begannen, waren keine Monstren, keine pathologischen Gewalttäter; sie verstören durch ihre Harmlosigkeit. Redliche Regierungsbeamte, im Privaten hochanständig, in gewissen Grenzen rational denkend, ehrlich um die Wohlfahrt ihres Landes bemüht. Berchtold und Paschitsch, Bethmann und Sasonow, Poincaré und Grey, selbst der Kaiser Wilhelm, sie alle sind uns viel, viel näher als die Hitler, Goebbels und Himmler, die Lenin und Stalin der späteren totalitären Ära. Wohl, zum Teil, mit anderen oder anders gewichteten Wertmaßstäben als heute; Ruhm und Ehre, nationale Größe und Gesichtswahrung, kriegerische Männlichkeit, das sind Begriffe, die heute nur noch für wenige eine Rolle spielen und für die übrigen kaum verständlich sind. Aber Skurrilitäten hat jede Zeit, auch die unsere, und manches, woran wir heute ganz fest glauben, wird man in hundert Jahren gewiss auch verspotten, und nicht mit weniger Recht, als wir gelegentlich über unsere Vorfahren die Nase zu rümpfen neigen.

Die Suche nach den Ursachen

Nun besteht auch hier, wie beinah überall in dieser Geschichte, kein Konsens. Vielfach hat man versucht, die Geschichten beider Kriege einander anzugleichen, aus dem Kaiser Wilhelm etwa einen Dämon zu machen oder einen halben Irren. John Röhl hat sich hier die meisten Lorbeeren erstritten, der ein ganzes, reiches Forscherleben mit dem Nachweis verbrachte, dass Wilhelm II. charakterlich ein Scheusal, politisch unfähig und an Deutschlands schlimmem Schicksal in der ersten Jahrhunderthälfte schuld gewesen sei. Nicht ganz so weit gehende, aber ähnlich angelegte Psychogramme hat man von anderen Entscheidungsträgern des Juli 1914 angefertigt. Die Erzählung vom Ersten Weltkrieg wird so zu einer Schurkengeschichte; einfacher zu verarbeiten; weniger unheimlich.

Diese Sichtweise, obwohl immer noch durch Forscher von Rang vertreten, ist in den letzten Jahrzehnten wieder von der Mehrheit zur Minderheit geworden. Die prominenten Neuerscheinungen zum Thema, Clarks „Schlafwandler“, Münklers „Der große Krieg“, erzählen die Geschichte anders, komplexer, multiperspektivisch. Und wenn ein Mann vom Fach wie Gerd Krumeich bei seinem Urteil bleibt, dass die Verantwortung für den Krieg primär einer Seite, den Mittelmächten, zuzuweisen ist, so in dem Sinne, dass die Politiker in Wien und Berlin eine Risikostrategie fuhren und schuldhaft sich verschätzten; nicht im Sinne einer lang angelegten Verschwörung zum Kriege. Die Schurkengeschichte ist aus der Mode gekommen. Im Grunde sind wir heute wieder nahe an der Deutung, zu der man in den 1950er Jahren, vor Fritz Fischer, schon einmal gelangt war. Was weniger erstaunlich ist, als es klingt; die wichtigsten Quellen zum Kriegsausbruch sind seit gut achtzig Jahren bekannt und im Kern unverändert. Seither wechseln nur deren Interpretationen.

Männer, die Geschichte machen

Interpretiert werden, mit Hilfe von Protokollen, Telegrammen, Erinnerungen, die Gedanken einiger Dutzend Männer an den Regierungsspitzen. Ihre Ziele und Absichten, Erwartungen und Befürchtungen, was sie wussten und was sie ahnten. Und was sie zu den Entscheidungen veranlasste, die, zusammengenommen, fatal zum europäischen Krieg sich verketteten.

Dass der Krieg rasch gewonnen würde, wussten sie, oder glaubten es zu wissen, oder redeten es sich ein. Gerade weil ein langer Krieg, wie der ältere Moltke 1890 schon geweissagt hatte, in Materialschlacht und Abnutzungskampf enden und der Jugend Europas dann ein blutiger Opfergang bevorstehen würde. Prophetische Worte vom drohenden Untergang findet man im Juli 1914 bei vielen der verantwortlichen Akteure. Darum jetzt nicht nachgeben, darum die Krise durchstehen, darum, wenn es hart auf hart käme, dem Feind zuvorkommen und die Sache mit einem schnellen Feldzug bereinigen, solange er gewinnbar schien. – Aber das war nur einer der widersprüchlichen Gedanken, die in den Köpfen der hohen Herren wohnten; heute konnte er bestimmend sein, morgen ein anderer.

Der vom unvermeidlichen Endkampf der Rassen zum Beispiel. Die Völker Europas in Germanen, Slawen, Romanen zu unterteilen, war damals eine Intellektuellenmode geworden, die zur publizistischen Begleitmusik der Vorkriegsjahre untrennbar hinzugehörte. In der Juli-Krise bildete sie eher die Hintergrundmelodie, die nur selten hörbar hervortrat, etwa in manchen Marginalien Seiner Kaiserlichen Majestät, Wilhelms des Zweiten. Dass sie in den wesentlichen Entscheidungsprozessen, für das österreichische Ultimatum, für die russische Mobilmachung, für die deutsche Kriegserklärung, für die englische Intervention eine direkte Rolle gespielt hätte, lässt sich schwerlich nachweisen. Aber im Hintergrund ist sie immer da; und der Fatalismus, dass der Krieg endlich doch einmal kommen würde, der dann zum Kriegsausbruch so viel beitragen sollte, gründete eben auch auf diesem geistigen, national-darwinistischen Unterbau und nicht nur auf den Interessengegensätzen der Machtblöcke.

Denn diese Gegensätze an sich ergaben für den großen Krieg mitnichten hinreichend Grund. Zwischen England und Russland, England und Frankreich bestanden damals ernstere weltpolitische Interessenkonflikte als zwischen Deutschland und Russland, Deutschland und England. Erstere galten 1914 als beigelegt, letztere noch nicht; aber dass deswegen der Krieg ausgebrochen wäre, ist damit nicht bewiesen. Der Krieg brach nicht zwischen Deutschland und England aus, wegen der Flottenpolitik, die für England allenfalls ein Ärgernis war; nicht zwischen Deutschland und Russland wegen kleinerer Streitereien im Orient; nicht einmal zwischen Deutschland und Frankreich wegen Elsaß-Lothringen. Der Krieg entzündete sich zwischen Russland und Österreich auf dem Balkan, über Serbien.

Echte und falsche Kriegsziele

Das war kein Zufall. Die einzige Großmacht, deren Lebensinteressen der Konflikt berührte, war Österreich. Der aggressive großserbische, südslawische Nationalismus bedrohte den Bestand der Monarchie. Wer dabei historisch im Recht war, der alte Vielvölkerstaat oder die jungen Nationen des Balkans, wer will es entscheiden? Jedenfalls, der Konflikt war da, und er betraf Österreich-Ungarn mit seinen Serben, Bosniern, Kroaten, nicht zu reden von Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainern, in seiner Substanz. Hier ging es ums Überleben des Staates, nicht um die eine oder andere Grenzkorrektur an der imperialen Peripherie wie in vielen Vorkriegskrisen zuvor. Darum ist auch das verbreitete Urteil, die Lage am Balkan sei nicht mehr als der Auslöser für einen Krieg gewesen, der ebenso gut anderswo hätte ausbrechen können und mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgebrochen wäre, mit Vorsicht zu gebrauchen. – Österreich war die einzige Macht mit einem eindeutigen Kriegsziel: Ausschaltung Serbiens. Wobei es darüber, was es mit Serbien anfangen sollte, wie eine stabile Nachkriegsordnung auf dem Balkan hätte aussehen können, sich freilich auch nicht klar war.

Beim Bündnispartner sah es diffuser aus. Klare Kriegsziele, außer dem, den Krieg zu gewinnen, da er nun einmal da war, hatte Deutschland im August 1914 nicht. Die musste es sich nach Kriegsausbruch zusammensuchen, und tatsächlich stritten seine Eliten darüber leidenschaftlich und erbittert vier Jahre lang. Landraub und Reparationen waren die wenig geistreichen Ziele, auf die man kam; die gleichen, die dann in Versailles unter umgekehrten Vorzeichen an Deutschland vollstreckt werden sollten. Gewiss wäre es ungerecht, wenn man meinte, das ganze deutsche Volk sei diesem Rausch erlegen. Maßvolle Stimmen gab es unter den Politikern, in Reichstag und Parteien, in Universitäten und Industrie; längst nicht alles, was an annexionistischem Literatengeschwätz im Umlauf war, wurde offizielle Politik. Und was Politik wurde, war es vor dem Krieg so scharf und radikal auch nicht gewesen.

Fritz Fischer und seine Nachfolger haben die ausgreifenden Kriegsziele der späteren Jahre, den „Griff nach der Weltmacht“ akribisch untersucht; und die Schlussfolgerung gezogen, diese Ziele müsse Deutschland schon vor dem Krieg, jedenfalls in Ansätzen, verfolgt und ihretwegen den Krieg begonnen haben. Anhand der Quellen freilich gelingt dieser Schritt nicht. „Mit den Serben muss aufgeräumt werden“; Sorge um Österreichs Großmachtstellung, Furcht vor der weiteren Einkreisung; den dunklen Willen, sich notfalls durchzuhauen – das alles findet man reich und überreich in den Quellen des Juli 1914, den Marginalien des Kaisers, den Weisungen des Reichskanzlers, den Botschafterdepeschen. Ausufernde Kriegsziele findet man nicht.

Auch kaum einem der anderen Länder wird man für 1914 Interessen nachweisen können, die einen Krieg geradezu notwendig machten. Dass Frankreich Elsaß-Lothringen lebensnotwendig brauchte oder Russland die Vorherrschaft über den Balkan brauchte, erweist ein bloßer Blick auf die Landkarte als absurd. Vergleichsweise solide Interessen hatte noch England. Die Wahrung des europäischen Gleichgewichts und seiner eigenen Vorherrschaft zur See und in der Welt, was beides auf das gleiche hinauszulaufen schien, die Schwächung Deutschlands. Aber England stieg als letztes in den Krieg ein und trug am wenigsten zu seiner Entstehung bei.

Kriegsbegeisterung?

Nun mag man sagen, Politik sei nicht immer rational, Mittel und Zweck nicht stets im rechten Verhältnis, manches Symbolthema den Völkern, der schwankenden öffentlichen Meinung, emotional viel wichtiger, als die Sache an sich hergibt. Das stimmt; und tatsächlich fühlten die Männer des Juli 1914 sich unter dem Druck der Presse oder gaben jedenfalls nach außen an, dies und jenes sei der Stimmung daheim nicht zuzumuten.

Wie war diese Stimmung, war sie kriegerisch? Der Krieg, als er da war, wurde bekanntlich mit patriotischer Begeisterung aufgenommen, nicht überall, aber sehr deutlich in den Hauptstädten und insgesamt wohl von der Mehrheit der bürgerlichen Schichten, die in den Salons und Journalen den Ton angaben. Die Völker nahmen den Krieg an. Aber die Völker machten nicht den Krieg. Patriotische Kundgebungen gab es in den Hauptstädten im Juli 1914, Demonstrationen gegen den Krieg aber ebenso, Zehntausende marschierten mit. Wie eine offene Abstimmung geendet hätte, wissen wir nicht. In keinem der beteiligten Länder entschieden Parlament oder Plebiszit. Gemacht wurde der Krieg von einem kleinen Zirkel der Macht, Monarchen, Ministern, Diplomaten, Generalen, im Ganzen einigen Dutzend Personen, die von der Volksstimmung wohl beeinflusst waren, aber in sehr unterschiedlichem Grade. Von diesen Männern, auch den glühenden Imperialisten unter ihnen, wollte beinahe keiner den Krieg; wobei aktives Wollen und der Glaube, dass die Gegenseite zum Kriege rüstete und er ohnehin kommen werde und man besser zu früh losschlüge als zu spät, ineinander übergingen.

Trotz des ideologischen Überbaus, Nationalismus, Imperialismus, trotz der Begeisterung, die im August den Kriegsausbruch übertönte: Das Hauptgefühl des Juli 1914 ist die Furcht. Die Furcht Österreichs vor dem Aufstand seiner Balkanvölker; die Furcht Deutschlands, mit Wien den letzten zuverlässigen Bündnispartner zu verlieren, wenn man in der Krise nicht treu zu ihm stünde; die Furcht der Franzosen vor dem deutschen Bevölkerungswachstum, der Deutschen vor dem russischen; die Furcht der Briten und Franzosen, der russische Riese werde alsbald ihres Beistands nicht mehr bedürfen, weshalb man nun sich ihm als nützlich zu erweisen und zu schmeicheln bequemte; die Furcht der Russen vor dem Gesichtsverlust, wenn man zuließ, dass das kleine slawische Brudervolk der Serben von Österreich mit Krieg überzogen wurde; und überall, länger schon, die Furcht vor den feindlichen Rüstungen, auf die man mit eigenen Rüstungen reagierte, die anderswo dann neue Furcht auslösten.

Die Ideen von 1914

Machtblockdenken, Überschätzung der gegnerischen Aggression, Unterschätzung der eskalierenden Wirkung des eigenen Handelns; wachsende Panik. Das ist der Kern. Ein Krieg der Ideen war der Erste Weltkrieg im Anfang nicht. Doch damit begnügt sich der menschliche Geist nicht auf Dauer. Wo keine Ideen sind, erfindet er sich welche.

Auf deutscher Seite stammten sie tief aus dem romantischen Denken des 19. Jahrhunderts: Heldenvolk gegen Krämervolk, Kultur gegen Zivilisation. Ein Thomas Mann bemühte sich darum mit der ganzen Tiefe und Schwere, deren deutscher Geist damals fähig war. Andere große Männer taten sich hervor, mal lauter, mal leiser, mit mehr oder mit weniger intellektueller Redlichkeit. Friedrich Meinecke, Max Scheler, Ernst Troeltsch, Max Weber, Adolf Harnack und viele, viele mehr. Selten ist so viel Geist versammelt gewesen, um einem so profanen Gegenstande die Weihe zu geben. Torheit war es dennoch, wie wohl jede Kriegspropaganda Torheit ist, weil dem imaginierten Wesensunterschied zwischen Deutschland und seinen Feinden zu wenig Wirklichkeit entsprach. Deutschland war zivilisiert, technisiert, industrialisiert – Walther Rathenau würde gesagt haben: mechanisiert – wie England und Frankreich auch, das Gewinnstreben seiner Industriebarone gewiss nicht geringer als dort; Heldentum und nationale Begeisterung, großartig und einfältig, findet man bei den Völkern des Westens ebenso wie beim Volk der Mitte.

Umgekehrt machte die Propaganda der Entente aus dem Weltkrieg einen Abwehrkampf gegen unzivilisierte hunnische Horden und zugleich einen Kreuzzug für Freiheit und Demokratie. Das war gleichermaßen Unfug.

Wir wollen die Rechnung, die so oft geführt wurde, hier nicht noch einmal aufmachen zwischen deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und den Opfern des U-Boot-Krieges einerseits, dem russischen Wüten in Ostpreußen und Galizien und den Folgen der englischen Hungerblockade andererseits, und allem anderen, was die Völker Europas sich an Grausamkeiten wechselseitig zufügten, weil die Rechnung nicht lohnt. Es gibt graduelle Unterschiede, Wesensunterschiede gibt es nicht; all das Geschehene fällt, sehr verschieden zu dem, was im späteren Zweiten Weltkrieg sich ereignete, in die Kategorie der blutigen Grausamkeiten, die zivilisierte Nationen zu begehen neigen, wenn sie sich in einen blutigen grausamen Krieg verwickelt sehen. Ein Krieg der Zivilisation gegen Barbaren, von Römern gegen Hunnen war der Erste Weltkrieg nicht.

Was den Kampf für die Freiheit anging, so war er offensichtlicher Unsinn, solange die Entente mit dem zaristischen Russland im Bunde war, und genau besehen auch danach. Deutschland war keine Demokratie im Jahre 1914 oder nur eine halbe oder Dritteldemokratie, das ist wahr. Aber weder hatten die Alliierten den Krieg begonnen, um Deutschland zu demokratisieren, noch bedurfte es ernsthaft eines solchen Kreuzzugs. Der Trend ging in der wilhelminischen Zeit sehr deutlich zur Parlamentarisierung, da der moderne Industriestaat ein sozial und wirtschaftlich viel stärker steuernder Staat geworden war als der mager ausgestattete des Absolutismus, ein Rechtsstaat diese Steuerung mit Gesetzen vollziehen musste und das Instrument der Gesetzgebung der demokratisch gewählte Reichstag war; und wenn der Durchbruch zum parlamentarischen Regierungssystem nicht gelingen wollte, so hatte das manche Gründe, im Föderalismus, in Klassengegensätzen wurzelnde, vor allem aber den Grund, dass große Reformen und Revolutionen fast immer nur in Krisenzeiten stattfinden und in der wilhelminischen Zeit, in der Deutschland, auch seine ärmeren Schichten, nach innen immer wohlhabender und nach außen immer mächtiger wurde, es einen solchen Leidensdruck nicht gab. Nicht zu reden davon, dass auch die Ententestaaten auf dem Weg zur modernen Demokratie, zur vollen Pressefreiheit, zur Gleichheit des Wahlrechts etwa, de iure und facto noch eine gute Wegstrecke vor sich hatten. – Auch ein Krieg zwischen Freiheit und Diktatur war der Erste Weltkrieg nicht.

All die Zwecke und Ziele, die man im nachhinein in den Krieg hineinprojizierte, waren wahlweise geistige Schimären, an denen man sich berauschte, oder verstummen gemessen am großen Schlachten und Morden in ihrer Kleinheit.

Lernen aus der Katastrophe

Hatte der Krieg dann überhaupt einen Sinn? Nach ernsthaftem, langem Wägen wird man es verneinen müssen. Er war sinnlos. Sinnlos nicht in jenem rein rhetorischen Begriff, in dem unsere aus böser Erfahrung pazifistisch gewordene Zeit jeden Krieg für zwecklos und verbrecherisch erklärt. Viele Kriege der Geschichte hatten durchaus Sinn und Berechtigung. Dieser nicht.

Man entehrt sie nicht, wenn man es so deutlich sagt, die Gefallenen und Verwundeten und all jene, die Not und Opfer litten für ihr Land und das, was ihm zu seiner Freiheit und Ehre zu tun geboten schien. Man erklärt damit auch nicht die Verantwortlichen für den Krieg schlechthin zu Verbrechern. Jeder hatte Gründe für das, was er tat, aus seinem Blickwinkel oft vernünftig erscheinende, und das hohe Ethos von Pflicht und Opfer gehört selbst dann zum Edelsten, das die menschliche Kultur hervorbrachte, wenn der Glaube an das, wofür Pflichten geleistet und Opfer gebracht werden, anfechtbar geworden ist. Millionen fanden für sich Sinn in diesem Krieg. Aber die Addition subjektiver Sinngebungen ergibt doch für das Ganze keinen Sinn.

Was hilft uns dann die Erinnerung daran? Da die Zeitzeugen verschieden und die damaligen Kriegsgegner alle ihren Frieden miteinander gemacht, ist der Krieg nun endgültig Geschichte geworden. Die großen Kämpfe sind ausgekämpft. Die Suche nach Ursachen und Verantwortlichkeiten wird wohl niemals enden; aber sie beschäftigt nur mehr die Zunft der Historiker, ist nicht mehr Quell nationaler Leidenschaften.

Was wir mit diesem Kriege heute tun können, ist aus ihm zu lernen. Zu sehen, wo die Fehler lagen, und sie in vergleichbarer Lage nicht zu wiederholen. Gewiss ist es billig, mit dem Wissen des Nachgeborenen zu urteilen, dieser Monarch oder Minister oder Botschafter oder General habe in jener Lage einen Fehler begangen. Aber die Lehren wurden zu teuer erkauft, um sie einfach zu vergessen.

Dass die die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts, nach dem Ende der großen Ideologien, der Welt von 1914 wieder ähnlicher geworden ist, gehört zu den offensichtlichen Wahrheiten, die zu erwähnen keine der jüngsten Neuveröffentlichungen zum Thema versäumt. Freilich sollte man sich nicht in simplen Gleichsetzungen überbieten. Vieles von dem, was nun wiederkehrt, ist historisch recht gewöhnlich. Dass in Europa Phasen von Hegemonie, Bi- und Multipolarität sich abwechseln, Mächte aufsteigen und andere herabsinken, ist seit zwei Jahrtausenden historische Realität; und dass nach ideologisch oder religiös aufgeladenen Konflikten sachliche, von nüchterner Realpolitik geprägte Phasen folgen, ist auch normal. Ähnlich ist uns das Jahr 1914 vielfach mehr im historisch Üblichen als im Besonderen. Was es auszeichnet, ist heute oft ganz anders strukturiert als damals: die handelnden Politiker, die Entscheidungsmechanismen, die internationalen Beziehungen. Und dennoch: Vorsicht bleibt stets geboten; der Friede ist zerbrechlicher, als man oft denkt.


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