Der Vergessene

Über Jahrzehnte hin galt er als die fleischgewordene Hoffnung der Liberalen, Bismarcks Herrschaft überwintern zu können. Als er schließlich auf den Thron gelangte, war er schon ein todkranker Mann und seine Zeit vorüber. Mit dem Kaiser Friedrich starb vor 125 Jahren für lange Zeit die Chance auf ein westlich orientiertes, liberales, stärker demokratisches Deutschland.


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kaiser_friedrich„Heute ist der Tag wiedergekehrt“, hieß es 1890 in einer preußischen Schulzeitung, an dem „unser edler Kaiser Friedrich nach langem, schwerem Leiden heimging zu jenen Gefilden, wo kein Leid, kein Schmerz und keine Trauer mehr sein wird. Wie sollte unser Volk nun am heutigen Tage nicht gern das Gedächtnis an Kaiser Friedrich den Edlen in sich wach rufen; hat doch Gott in ihm (…) unserem Volke ein leuchtendes Vorbild nicht nur des Heldenmutes und der Pflichttreue, sondern auch der Liebe und der Standhaftigkeit im Leiden geschenkt.“ Und an anderer Stelle: „Im Volkesherzen ist es längst gesetzt, / Dein Monument, und jede Lippe flüstert: / Den Kaiser Friedrich, den wir kaum besessen / Ihn, ’seinen Fritz‘, wird Deutschland nie vergessen.“

Die Voraussage erfüllte sich nicht; Deutschland vergaß. Allzu verständlich nach 125 Jahren, wenn ein Monarch nur 99 Tage regierte. Verständlich auch, dass schon im Kaiserreich selbst die Erinnerung an Friedrich rasch verblasste. Zu traurig war seine Geschichte des ewigen Wartens und dann des frühen Sterbens mit noch nicht sechzig Jahren; gescheiterter Lebensläufe erinnert man sich ungern. Gescheitert war freilich nicht nur des Kaisers persönlicher Lebenslauf; auch die politische Weltanschauung, der er angehörte, die klassisch-liberale aus der Mitte des Jahrhunderts, wurde so ihrer Chancen und Gestaltungskraft geraubt. Diese politische Generation kam nicht mehr zum Zuge.

Eine verlorene Chance?

Gewiss, grau war sie geworden 1888, hatte ihre besten Tage schon hinter sich und das bescheidende Maß an Mitbestimmung, das sie in den 1860ern und 1870ern, halb verbündet, halb verfeindet mit Bismarck, noch besessen hatte, lange verloren. Und ob Kaiser Friedrich, wenn er früher an die Regierung gekommen oder nicht so schwer erkrankt wäre, wirklich eine kraftvoll liberale Politik hätte betreiben können, ist auch nicht unumstritten. Man sagt ihm Hochmut nach, den er wohl hatte und der eine konsequente Parlamentarisierung des Reiches und einen Machtverzicht des Monarchen nicht wahrscheinlich machte; er hätte durchaus selbst gestalten wollen. Und man fragt, was ein einzelner Mann denn in einem modernen Industriestaat überhaupt noch bewirken konnte, ob es nicht eine Überschätzung seiner Möglichkeiten bedeutet, zu meinen, er hätte der deutschen Politik eine ganz andere Richtung geben können.

Wenn man nun jedoch der Meinung ist, dass Friedrichs Sohn, der zweite Wilhelm, in seiner Regierungszeit nicht gerade segensreich agierte und Deutschland mit seinem persönlichen Regiment viel Unglück brachte – und es gibt immerhin eine starke Historikerfraktion, die das meint, am schärfsten gewiss John Röhl – kann man umgekehrt nicht verhehlen, dass der Vater, hätte er zehn oder zwanzig Jahre regieren können, wohl manche Weiche anders und vielleicht besser gestellt haben würde. Und was den Hochmut angeht: Hochmütig, elitär, ein wenig volksfern waren die deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts nun einmal, waren schon die Professoren von1848 in der Paulskirche zu Frankfurt gewesen; durch und durch demokratisch konnten sie, da das liberale Bürgertum nun einmal unter den Wählern eine kleine Minderheit war, schlechterdings nicht sein. Ob Deutschland schon reif war für die ganze, nicht nur die halbe oder Drittel-Demokratie, welche die Bismarck-Verfassung gewährte, ob eine Parlamentsregierung klüger agiert hätte als liberale Beamte, wer weiß es.

Opposition gegen Bismarck

Friedrich war liberal; dachte nicht eng preußisch wie noch sein Vater, dachte national, dachte aber auch europäisch. Geprägt wurde er gewiss durch seine Gattin, Victoria, die Engländerin war und ihn im anglophilen Sinne, nach dem Vorbild der britischen Verfassung, beeinflusste. Bismarck, der mit der Dame auf Kriegsfuß stand, verfehlte nicht, dies in seinen Gedanken und Erinnerungen zu bemerken: „Die natürliche und angeborene Sympathie derselben für ihre Heimat hatte sich von Hause aus gekennzeichnet in dem Bestreben, das Gewicht des preußisch-deutschen Einflusses in europäischen Gruppierungen in die Waagschale ihres Vaterlandes, als welches sie England zu betrachten niemals aufgehört hat, hinüberzuschieben und im Bewusstsein der beiden asiatischen Hauptmächte, England und Russland, bei eintretendem Bruche die deutsche Macht im Sinne Englands verwendet zu sehen.“

Nun, Fürst Bismarck sah immer und überall gerne reichsfeindliche Verschwörungen am Werk, wenn seiner Politik entgegengewirkt wurde. Das allerdings taten der damalige Kronprinz Friedrich und seine Gattin. Im Verfassungskonflikt, der sich um die Heeresreform entwickelte und der Bismarck 1862 ins Amt des Ministerpräsidenten gebracht hatte, bezog Friedrich öffentlich Stellung gegen die Regierung und distanzierte sich von Bismarcks Taktik. Die aggressive Außenpolitik, namentlich den deutschen Bruderkrieg gegen Österreich, der sich 1866 anschloss, lehnte Friedrich ab und bemühte sich bis zuletzt, den König vom Frieden zu überzeugen; als es freilich in Nikolsburg darum ging, den gewonnenen Krieg möglichst rasch diplomatisch zu beenden, um die Intervention fremder Mächte zu verhindern, war er dann wieder an Bismarcks Seite.

Wenn noch nicht im heutigen Sinn demokratisch, so war der Liberalismus des 19. Jahrhunderts vor allem tolerant, auch gegenüber religiösen Minderheiten; die gesetzliche Gleichstellung der Juden etwa, verspätet, wie sie auch kam, war Produkt dieses freiheitlichen Geistes. Dazu stand Friedrich aus ganzer Überzeugung. Als in den 1880ern Wirtschaftskrise, Zukunftsskepsis und Antimaterialismus sich zu einer neuen Form von Antisemitismus verdichteten und die Judenfeindlichkeit im Land wieder zu grassieren begann, bezog Friedrich klar öffentlich Stellung; im Gegensatz zu Bismarck, der zwar privat mit den Juden, allen voran seinem Bankier Bleichröder, sehr gut stand und im Stillen auch manches Gute wirkte, sich aber von öffentlicher Stellungnahme keinen politischen Gewinn versprach. Kronprinz Friedrich zeigte sich; legte seine preußische Feldmarschallsuniform und alle seine Orden an, die er sich bei den Düppeler Schanzen und bei Königgrätz, bei Weißenburg, Wörth und Sedan verdient hatte, und besuchte mit seiner Gattin demonstrativ den Gottesdienst in der Berliner Synagoge, als Zeichen dafür, wo das offizielle Deutschland und die kaiserliche Familie standen. Man muss leider sagen: Wo sie noch standen; der junge Prinz Wilhelm begann in jenen Jahren bereits, mit dem antisemitischen Hofprediger Stoecker zu sympathisieren. Nicht zu reden von dem, was später kam.

Dulden im Leiden

Jener eingangs zitierte Artikel aus der preußischen Schulzeitung zu Friedrichs zweitem Todestag endete weiland so: „Sein Leben sei auch uns allen ein Vorbild der Tapferkeit, der Pflichttreue und des Duldens im Leiden. Das walte Gott!“ Es lohnt nicht, um verpasste Chancen zu trauern; Geschichte wird nicht im Konjunktiv geschrieben. Aber erinnern an die großen Figuren, auch die leidenden und gescheiterten, um sich inspirieren zu lassen und zu lernen, das tut durchaus not, da in der Gegenwart die Vorbilder rarer werden. Das wollen wir tun und für einen Moment innehalten: im Gedenken an Kaiser Friedrich, den Edlen.


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