Die Datenpiraten

Die Veröffentlichung geheimer staatlicher Dokumente durch Plattformen wie Wikileaks bleibt illegal und gefährlich. Ob sie im Internetzeitalter auf Dauer eher Normalfall oder Ausnahme sein wird, bleibt abzuwarten. Vorher haben aber alle Beteiligten noch einen langen Lernprozess vor sich.


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Inzwischen wird es zur Gewohnheit, dass Datenpiraten und Geheimnisverräter unter Mitwirkung ihrer Helfershelfer in Netzplattformen und auch traditionellen Medien tausende und abertausende staatlicher Akten im Internet veröffentlichen. Teils mit politisch brisanten, teils mit militärisch sicherheitsrelevanten, teils mit harmlosen und teils auch mit völlig belanglosen Inhalten; hier und da mit vorgeschalteter journalistischer Qualitätskontrolle; stets aber mit dem nicht einmal unberechtigten Anspruch einer großen Enthüllung, denn immer sind auch einige Geheimpapiere dabei.

Aufklärer gegen Vertuscher?

Für die Fangemeinde von Enthüllungsplattformen wie Wikileaks ist die Frontlinie einfach: Hier die ehrlichen Aufklärer, die geschickten Rechercheure, die unbequeme Wahrheiten ans Licht bringen; dort die bösen Vertuscher in Regierung, Militär und Geheimdiensten, die lügen, betrügen und leugnen. Als Musterbeispiel wird dann immer die Enthüllung von Kriegsverbrechen angeführt, wie die mutwillige Tötung von Zivilisten in Krisengebieten durch die Interventionstruppen des Westens, die doch eigentlich Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Welt verbreiten sollten.

Und es ist ja nicht einmal ganz falsch: Militär und Geheimdienste neigen zu übertriebener Geheimniskrämerei und dazu, ein gewisses Eigenleben zu entwickeln. Diejenigen, die kritische Entscheidungen fällen und zu verantworten haben, sind oft die gleichen oder entstammen dem gleichen Zirkel wie jene, die über die Geheimhaltungsstufe der zugehörigen Akten entscheiden; die demokratische Kontrolle ist nicht immer hinreichend gegeben, Regierungsstellen und nichtöffentlich tagende Parlamentsausschüsse sind eben kein vollständiger Ersatz für eine kritische und informierte Öffentlichkeit. Es gibt Offiziere, die Vergehen ihrer Untergebenen decken, und es gibt Geheimdienste, die sich kriminell verstricken.

Allein: Bisher konnten die Demokratien des Westens mit diesem Mangel ganz gut leben. Und sie würden auch weiter damit leben können. Die Gefahren, die angeblich von einem militärisch-industriellen oder politisch-medialen Komplex ausgehen, sind in weiten Teilen Verschwörungstheorie und im kleinen wahren Kern, der bleibt, kalkulierbar und zu verschmerzen. Wer sich auf Geheimdienstoperationen und militärische Aktionen einlässt, weiß, dass er sich auf ein Spielfeld begibt, auf dem niemand ganz sauber bleibt. Die Welt ist kein Kindergarten. Wer junge Männer in den Krieg schickt, weiß, dass ein gewisser Prozentsatz dem psychologischen Druck nicht standhalten und die Kriegsregeln verletzten wird. Tötungen von Zivilisten und Gefangenen hat es zu allen Zeiten gegeben und immer nur teilweise und unvollständige Aufklärung. Das gehört, so zynisch diese Feststellung auch klingt, bis zu einem gewissen Grade zum normalen Schmutz des Krieges.

Auch Demokratien haben Staatsgeheimnisse

Trotzdem haben auch demokratische Länder legitime Staatsgeheimnisse. Nicht nur in der Diplomatie und in den Geheimdiensten, sondern auch im Militärischen. Was die eigene kritische Öffentlichkeit in der Heimat über militärische Operationen weiß, das weiß auch der Feind und weiß es auszunutzen. Informationen über Truppenbewegungen, Waffensysteme, Einsatzziele, Taktiken und Informantennetze der militärischen Nachrichtendienste sind höchst sicherheitsrelevant; sie zu veröffentlichen gefährdet Soldatenleben. Man muss das alte Wort in den Mund nehmen: Details über Militäroperationen des eigenen Landes in die Welt hinauszuposaunen, ist nichts anderes als Hochverrat; und mit Gefängnis nicht zu hart bestraft.

Werbung für freie Staaten mit freier Presse sind solche Aktionen übrigens nicht, jedenfalls nicht in der ausstrahlenden Wirkung in die Welt. Denn beschädigt werden nicht die autoritären Regime, die ihre Staatsgeheimnisse strikter waren, Verräter rigoroser bestrafen und im Zweifelsfall, Internet hin oder her, sehr verlässlich dafür sorgen können, dass die eigene Bevölkerung von den kritischen Enthüllungen wenig oder nichts erfährt. Beschädigt wird nur das Ansehen der Demokratien, nach innen wie nach außen.

Netztautologien

Das tangiert die Datenpiraten und andere Netzanarchisten freilich wenig. Deren Argumentation kreist merkwürdig um sich selbst und um das ungehemmte Sich-Ergötzen an den neuen technischen Möglichkeiten; und hat wenig Raum für die Interessen anderer. Im Namen der informationellen Revolution ist alles erlaubt. Das Stehlen von Informationen gilt nicht mehr als Vergehen. Weil es einfach geht, muss man es machen; weil man es nicht verhindern kann, darf man es nicht bestrafen; und weil man es nicht bestraft, tut es auch jeder. So die klassische technologische Tautologie des Netzes, ein immerwahrer Zirkelschluss und moralischer Freibrief für Datenräuber und Informationshehler.

Wie jede anständige Ideologie hat auch der Netzutopismus nun freilich seine inneren Widersprüche und leidet an einer frappanten Schizophrenie. Das schulterzuckende Sich-hinweg-Setzen über geltendes Recht, wenn es um Staatsgeheimnisse geht, beißt sich mit der pingeligen Paragraphenreiterei, mit der jedes Sicherheitsgesetz der Regierung vor den Verfassungsgerichten angefochten wird; das Leugnen einer staatlichen Geheimnissphäre entspricht so überhaupt nicht der Verabsolutierung der Privatsphäre, wenn es um das Sammeln von persönlichen Daten durch Behörden geht; das angebliche Mitleid mit den Opfern von Kriegsverbrechen entspricht so gar nicht der emotionalen Kälte, mit der die Gefährdung von Soldatenleben durch verantwortungslose Preisgabe von Geheimnissen hingenommen wird.

Müssen die Staaten, die gewählten Parlamente und Regierungen und die Gerichte sich also wehren? Ja, sie müssen. Allerdings nicht auf der technischen Ebene; dort haben sie gegen das weltweite, rasend schnelle, anonyme Netz keine Chance. Enthüllungsplattformen werden schneller nachwachsen, als man sie sperren oder löschen kann. Für jeden Kopf, den man der Hydra abschlägt, werden zwei und mehr nachwachsen. Aber auf der persönlichen Ebene haben sie durchaus eine Chance. Abschreckung, ältestes Hausmittel des Rechtsstaates, ist das Zauberwort. Die Diebe sind meistens nicht greifbar, die Hehler, also die Betreiber der Plattformen, aber in der Regel schon. Gegen sie kann man vorgehen – mit Strafurteilen; auf Basis des geltenden Rechts und völlig legitim. Auch wenn unter den Enthüllungen immer einige sind, über die man froh sein muss: Der Zweck heiligt im Rechtsstaat – anders als, manchmal, in Ausnahmesituationen im Kriege – keinesfalls immer die Mittel.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold

Ob man den Kampf mit der Hydra aufnimmt oder nicht: Derartige Fälle werden sich auch künftig regelmäßig wiederholen. Und um darin besser auszusehen als in den bisherigen, haben die beiden traditionellen Beteiligten auf diesem Feld, die Regierungen und die rechtskonform agierende Presse, noch einiges zu lernen.

Die Regierungen zunächst haben allen Grund in sich zu gehen, die veröffentlichten Dokumente zu prüfen, Verfehlungen, wo sie festgestellt werden, zu bestrafen und vor allem die internen Informationswege so zu verbessern, dass Vertuschungen künftig erschwert werden. Das trifft zuvörderst das amerikanische Militär und das Konglomerat der US-Geheimdienste, aber mutmaßlich auch die europäischen Verbündeten. Ferner haben sie in ihrem Krisenmanagement dazuzulernen, dringend ihre Datensicherheit zu verbessern und ihre Datensammlungs- und Vernetzungswut zu zügeln. Wahrscheinlich werden dezentrale Papierarchive eine unerwartete Renaissance erleben.

Sodann die Medien, deren in weiten Teilen hysterisches und schiefes Urteil die peinlichen Fehlleistungen der Regierungsapparate fast noch übertrifft. Es für eine Belastung der deutsch-amerikanischen Beziehungen zu halten, wenn Botschaftsreferenten über Guido Westerwelle das gleiche nach Washington kabeln, was die meisten deutschen Zeitungen schreiben, ist grotesk. Und das als die Hauptnachricht einzustufen, während zugleich Informationen über iranische Mittelstreckenraketen publik werden, die Westeuropa erreichen können, ist Ausweis des geostrategischen Desinteresses und manischen Nur-noch-um-sich-selbst-Kreisens des Berliner Politik- und Medienbetriebs. Mehr Einordnung, Prüfung und rationale Gewichtung von Nachrichten tun not, wenn der schnelle Informationsfluss im Netz für die wache Bürgerdemokratie denn wirklich ein Segen sein soll.

Und die Presse hat sich letztlich zu erinnern, dass sie die Rolle als „vierte Gewalt“ einer Demokratie, welche sie sich gerne selbst zuschreibt, nicht in Verantwortung gegenüber einem anonymen, körperlosen Netz oder einem Weltethos der grenzenlosen Informationsfreiheit ausübt, sondern gegenüber dem Staatsvolk ihrer Demokratie und damit auch dessen elementaren Sicherheitsinteressen. Auch für Journalisten ist manchmal Reden Silber und Schweigen Gold.


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