Die ungeschriebene Biographie

Im vierten Gesprächsband mit Peter Seewald blickt Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. auf sein Papstamt und sein lebenslanges theologisches Wirken zurück. Der Leser erfährt manches neue Detail; wartet aber noch auf Seewalds geplante Biographie.


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@  LO STRANIERO - il blog di Antonio Socci, unter http://www.antoniosocci.com/ (28.11.2016)

Am Ende geht es nahe. Man diskutiert Grabsprüche. Cooperatores veritatis – Mitarbeiter der Wahrheit –, Joseph Ratzingers altes Bischofsmotto kommt ins Gespräch. Das ist die Stelle, wo beim Leser spätestens Wehmut aufkommt. Gewiss gehören Überlegungen zum Tod für Theologen sozusagen zum täglich Brot. Für den emeritierten Papst werden sie freilich von der intellektuellen Überlegung immer mehr zu praktischen Fragen. Vielleicht werden die Gravuren auf dem Grabstein das nächste sein, was die interessierte Öffentlichkeit von ihm wahrnimmt. Und die Inhalte dieses Buchs tatsächlich, wie der Titel sagt, letzte Gespräche gewesen sein.

Eine lange Wegstrecke

Drei dieser Gesprächsbände mit Ratzinger-Benedikt hat Seewald schon veröffentlicht. Zwei noch mit dem Kardinal-Präfekten, einen mit dem Heiligen Vater; den vierten nun mit dem papa emerito. Um den ist es still geworden zuletzt. Auftreten, publizieren will Benedikt nicht mehr, mit dem Nachfolger nicht in öffentliche Konkurrenz treten; und die nachlassenden Kräfte des Alters lassen es auch leider kaum mehr zu.

Werk Nummer vier: Gewisse Wiederholungen sind da unvermeidlich. Manches Neue steht neben vielem Bekanntem. Auch hier werden Jugend und Werdegang des großen Theologen noch einmal ausführlich dargestellt. Das Pontifikat und der jetzige Ruhestand machen nur den kleineren Teil des Buches aus. Dafür steht es für sich selber; man muss die anderen nicht lesen, um ein volles, rundes Bild des alten Papstes zu erhalten.

Seewald selber freilich hat in den zwanzig, fünfundzwanzig Jahren zwischen den Gesprächen eine weite Reise zurückgelegt. Aus katholischer Familie kommend, geriet er in der Nach-68er-Zeit auf Abwege, marxistische, kommunistische, und suchte sein Heil außerhalb der Kirche. Als man Anfang der 1990er beim SZ-Magazin auf die Idee kam, ihn ein Interview mit dem Kardinal Ratzinger führen zu lassen, war er innerlich schon halb auf dem Weg zurück, tastend, suchend. Die Begegnung hat Seewalds Wiederbekehrung aber mindestens beschleunigt. Heute ist er tiefgläubiger Katholik und in seiner Weltsicht stark durch Ratzingers Theologie geprägt.

Die beiden können also miteinander. Anders wäre ein solches Gespräch auch nicht möglich. Einerseits locker in der Atmosphäre, es wird viel gelacht und gescherzt. Andererseits tief und menschlich nah. Volle journalistische Distanz darf man nicht erwarten und erhält man auch nicht. Dafür aber einen Papst, der sich recht weit öffnet, auch Fehler, Zweifel, Unsicherheiten bekennt; weit mehr, als man in tagesüblichen „kritischen“ Interviews mit vorgestanzten Fragen und vorgestanzten Antworten erwarten kann. Sollen die Kollegen ruhig meinen, der päpstliche Haus- und Hofjournalist habe ein weiteres Propagandawerk produziert. Der geneigte, wirklich interessierte Leser weiß es zu schätzen.

Heitere Traurigkeit

Das Buch liest sich angenehm. Durch die Gesprächsform enthält es weit weniger Text, als die 286 Seiten befürchten lassen; die Lektüre ist bequem an einem Tag zu schaffen. Die fünfzehn Kapitel bilden drei Hauptteile. Den Rücktritt und das jetzige Leben des Emeritus im vatikanischen Kloster, die Biographie bis 2005 und schließlich das Pontifikat.

Was lernt man? Über den fast Neunzigjährigen eine Menge. Es herrscht eine sehr gemischte Stimmung beim Bewohner von Mater Ecclesiae. Kein Leiden am Machtverlust, Erleichterung vielmehr, dass die Last des Amtes nun von ihm genommen ist. Dafür drückt die Last des Alters; Furcht vor dem Tod, ein wenig, trotz allen Gottvertrauens, vor langem Leiden, langer Krankheit. Aber immer noch Freude am Alltag, an den Lektüren, auch am Schreiben der wöchentlichen Predigten für die kleine, verbliebene Gemeinde.

Auf sein Pontifikat blickt Benedikt entspannt zurück. Er ist ganz fern davon, sich selbst für zu wichtig zu nehmen, für groß und auserwählt zu halten. Nennt sich ein armseliges Männlein, dem aller Jubel und alle Ehren doch immer nur in Stellvertretung gegolten hätten für den Gekreuzigten über ihn. Wer die Worte liest, kann nicht recht glauben, dass das nur gespielte Bescheidenheit, routinierte christliche Demutsfloskeln sein sollen, wie seine Gegner meinen. Fehler und Versäumnisse in seiner Amtszeit sieht Benedikt, wenn auch vielleicht andere, als manche Kritiker meinen. Aber er glaubt, seine Pflicht getan und gegeben zu haben, was er geben konnte. Ein großes Reformpontifikat konnte und wollte er nie einleiten. Gewählt mit achtundsiebzig Jahren, schon nicht mehr ganz gesund, nach Hirnblutung und Schlaganfällen auf einem Auge blind. Und eben ein Professor, ein Intellektueller, kein großer Administrator, dem gegeben wäre, die Kirche umzuwälzen, wie sein Vorgänger es getan hatte und sein Nachfolger es nun wieder versucht. So tat er, was er am besten konnte: Den Glauben verkünden in Wort und Schrift. Mit philosophischen Reden wie vor den Vereinten Nationen, im Deutschen Bundestag; mit den großen Predigten, mit den drei Enzykliken und den drei oder zweieinhalb Büchern über Jesus von Nazareth. Und auch, wenn man nachzählt, mit einer ganzen Reihe von Reisen, wenn auch beiweitem nicht so vielen wie sein weltläufiger, anfangs freilich deutlich jüngerer Vorgänger.

Das lange Nachwirken des Konzils

Über Joseph Ratzingers Jugendjahre erfährt man manches Detail, manche hübsche Anekdote, im Grunde aber das altbekannte Bild. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, sehr bayerisch, ländlich-katholisch, Priester und Kirchenmusiker unter den Vorfahren; der Vater Gendarm, die Mutter Köchin, zwei ältere Geschwister. Besuch des Gymnasiums wie Bruder Georg, trotz hoher Kosten. Konservative Erziehung, weltanschaulich sehr fern vom aufziehenden NS-Regime, aber dennoch natürlich von ihm berührt, Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst, zum Schluss kurzzeitig in der Wehrmacht und dann in Kriegsgefangenschaft. Glückliche Jahre des Theologiestudiums danach, Priesterweihe durch Kardinal Faulhaber, Dienst als Kaplan, im Pfarramt; Promotion über Augustinus, Habilitation über Bonaventura; im zweiten Anlauf, die abgelehnte erste Fassung landete aus Zorn im Feuer. Professor, erst in Freising, dann in Bonn und Münster.

Interessant sind die Aussagen, wie bedroht in den fünfziger Jahren die scheinbar noch ganz fest gebaute, in sich geschlossene katholische Welt sich bereits zeigt; wie der junge Kaplan spürt, dass eine Jugend heranwächst, die zwar den christlichen Formen anfangs noch folgt, aber in der Tiefe nicht mehr an sie glaubt. Auch deshalb zählt der hochtalentierte Professor zum Reformflügel, als er Kardinal Frings zum zweiten vatikanischen Konzil begleitet. In den Folgejahren freilich lernt er um; vielmehr, ziehen Teile der Kirche in viel weitergehendem Reformeifer an ihm vorüber und wird er mit seinen Positionen plötzlich zum Konservativen. Die Erfahrung der späten Konzil- und ersten Nachkonziljahre, die, wie er es sieht, um sich greifende Beliebigkeit in der Lehre und vor allem der Liturgie führt ihn dazu, künftig in fast allen Reformfragen auf der Bremse zu stehen. Nicht erst die Studentenrevolte 1967/68, wie viele Journalisten meinten, wohl weil sie für sie selber starke biographische Prägekraft hatte. Von ihr wird Ratzinger in Tübingen nur sehr am Rande berührt, und sie hat ihn, sagt er, auch nicht zum Weggang nach Regensburg bewogen. Das war eher der wachsende Gegensatz mit seinem Kollegen Hans Küng, der ihn einst nach Tübingen gelotst hatte, sich nun aber theologisch auf einer völlig anderen Linie bewegte.

Theologische Nichtfreunde

Auch das ein interessanter Punkt in der Biographie: dass viele der Feindschaften, die Ratzinger sich erwarb, gar nicht erst aus seiner Zeit in Rom stammen, als er – Präfekt der Glaubenskongregation – viele Reformtheologen qua Amt streng zurechtweisen musste. Sondern schon vorher bestanden, aus wissenschaftlichem oder weltanschaulichem Disput, und, auch wenn er das relativiert, zu seinen häufigen Wechseln zwischen den Hochschulen zumindest beitrugen. Seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre verfolgte ihn ein guter Teil der deutschen Theologen publizistisch mit beinahe mordlustigem Hass. Tief im Inneren verwunden hat das auch der alte Herr von heute nicht ganz. Man spürt es beim Lesen, wenn er davon spricht, wie „theologische Nichtfreunde“ aus Deutschland ihn noch in Rom bei jeder Gelegenheit öffentlich angriffen und ihm stets Übelstes unterstellten bis an die Grenze der Verleumdung und darüber hinaus. Etwa die grob beleidigenden Antisemitismus-Vorwürfe, als es um die erneuerte Karfreitagsfürbitte ging oder die peinliche Panne mit dem Bischof Williamson. Trotz aller Lehre von Vergebung und christlicher Nächstenliebe: Manche dieser Wunden sitzen scheinbar tief.

Glücklich und schriftstellerisch produktiv sind die Jahre als Professor in Regensburg. So hätte es weitergehen sollen; ging es aber nicht. Aber auch mit seinen neuen Rollen arrangiert sich Ratzinger gut, Erzbischof von München und Freising und dann, die längste Station, Glaubenspräfekt in Rom unter Johannes Paul II. Über seinen Vorgänger findet Benedikt freundliche, bewundernde Worte. Die Zusammenarbeit der beiden kann man wohl als symbiotisch bezeichnen, trotz der erheblichen Charakterunterschiede und auch gelegentlicher sachlicher Differenzen. Ratzinger, gesundheitlich angeschlagen, ersuchte mehrmals um seine Entlassung, doch Johannes Paul konnte und wollte bis zum Ende nicht auf ihn verzichten. Dass der Kardinal ehrlich Ruhe wünschte, um noch einige Bücher zu schreiben, darf man ihm glauben. Freilich, dass die große Predigt von der Diktatur des Relativismus 2005 unmittelbar vor dem Konklave ganz allein durch die Tageslosung bestimmt war und so gar nichts von einem Programm oder einer Bewerbungsrede hatte – nun, so sagt seine Erinnerung; die kann sich täuschen.

Entweltlichung

Die Kapitel über Benedikts Papsttum gehören eher zu den schwächeren. Das liegt daran, dass vor allem die öffentlich bekannten Ereignisse angesprochen und dazu mancher bestehende Eindruck zurechtgerückt werden soll; auch zu manchen der kleinen und großen Skandale – Seewald möchte erkennbar auch kritische Punkte ansprechen und nicht nur als Hofberichterstatter gelten. Über die Politik vermisst man allerdings ein wenig die Theologie, wo es doch, wie es vorher heißt, vor allem ein theologisch-intellektuelles Pontifikat gewesen sei. Die Enzykliken und die Jesus-Bücher kommen recht kurz weg. Freilich: Die kann man auch selber lesen, ohne zusätzlichen Kommentar des Autors.

Nicht ganz konsequent, darin aber auch wieder menschlich sympathisch sind die Passagen über die Entweltlichung. Das Stichwort hatte Benedikt unter anderem 2011 in seiner Freiburger Rede gebracht. Die Kirche ist in der Welt, aber nicht von der Welt, sie darf sich nicht zu sehr an Weltliches klammern. Neben der Geisteshaltung ist mit der Entweltlichung auch Entgeldlichung gemeint; Benedikt unterstreicht das, wenn er Kritik an den wohlhabenden deutschen Bistümern übt, an angestellten Berufskatholiken, denen der Glaubenseifer fehle, verglichen mit der ehrenamtlichen Freiwilligenkultur in anderen Ländern. Das Kirchensteuersystem, das Nichtzahlung automatisch mit Exkommunikation sanktioniert, findet er reformbedürftig. Freilich: Was genau wegzulassen wäre, kann und will Benedikt nicht festlegen. Das sei Sache der Ortskirchen. Und ob der Vatikan selber über zu große Geldmittel verfüge, will er auch nicht entscheiden; im Luxus habe man jedenfalls nicht gelebt, die Mission, die sozialen Aufgaben, die Unterstützung der ärmeren Länder auch zu leisten gehabt. – Es gehört auch zu diesem Papst, dass er nicht auf jede Frage gleich die Antwort weiß, mitunter das Problem benennt, ohne selber schon die Lösung zu kennen. Das macht angreifbar; bringt die Debatte aber auch in Schwung.

Entweltlicht im Monasterio lebt nun immerhin Benedikt selbst. Sein neunzigster Geburtstag im April 2017 dürfte ihn noch einmal in den Mittelpunkt rücken lassen. Danach wird Ruhe einkehren, und irgendwann wird die Welt die Nachricht von seinem Tode erreichen. Peter Seewald aber wird sich gewiss noch publizistisch äußern, vorher oder nachher. Die letzten Gespräche sollten eigentlich nur als Rohmaterial für eine umfängliche Biographie dienen. Nun sind sie vorab erschienen; die Biographie in ihrer geordneten, stringenten Form ist noch ungeschrieben. Vielleicht erlaubt Benedikt dabei, mit gutem Zureden Seewalds und Sekretär Gänsweins, die Nutzung seiner persönlichen Aufzeichnungen, die, wie er sagt, wegzuwerfen er gerade im Begriffe sei. Sie würden, neben dem vorliegenden theologischen Werk, neben den dokumentierten Gesprächen, sicher noch die eine oder andere Frage erhellen.

Wir bleiben jedenfalls gespannt.

Das Buch

Benedikt XVI. Letzte Gespräche mit Peter Seewald. Droemer Verlag, München 2016, 286 S.

Bild: Copyright – LO STRANIERO – il blog di Antonio Socci, unter http://www.antoniosocci.com/ (28.11.2016)


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