Die Vergeltung

Die Kreditaffäre aus seiner Zeit als niedersächsischer Regierungschef bringt den Bundespräsidenten immer mehr in Bedrängnis. Ist Kritik an Christian Wulff berechtigt? Eigentlich ja – aber sie erfolgt aus den falschen Gründen.


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In der Adventszeit beschränkt sich die Rolle des Bundespräsidenten eigentlich darauf, besinnliche Stimmung zu verbreiten, gelegentlich einen Weihnachtsmarkt zu eröffnen, Wohltätigkeitsaktionen anzupreisen. Die Erwartungshaltung der Bürger beschränkt sich auf eine gelungene Weihnachtsansprache, bei der dann allerdings auch nicht wirklich auffiele, wenn man einfach die alte aus dem Vorjahr wiederholte, weil die verwendeten Versatzstücke sich meistens gleichen. („Meine Frau und ich… in besonderen Gedanken an die vielen ehrenamtlich Engagierten und unsere Soldaten im Einsatz… auch für diejenigen, die von Krankheit geplagt sind… blicken mit Zuversicht in die Zukunft… wünschen ein gesegnetes Jahr 20xx“). Viel verkehrt machen kann man hier nicht. Normalerweise ist die Vorweihnachtszeit für den Bundespräsidenten also eine bequeme Zeit.

Für Christian Wulff ist sie in diesem Jahr außerordentlich unbequem. Er hat sich in seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident von einer befreundeten Unternehmerfamilie einen größeren Geldbetrag zu günstigen Konditionen geliehen, und als er weiland im Landtag nach Geschäftsbeziehungen zu seinem Unternehmerfreund gefragt wurde, verneinte er die Frage, juristisch augenscheinlich korrekt, weil das Darlehen über die Gattin des Freundes abgewickelt wurde, politisch zumindest fragwürdig; so fragwürdig, dass er das Darlehen dann auch alsbald durch einen Bankkredit ablöste. Zu den nun im nachhinein aufgekommenen Vorwürfen äußerte er sich bislang sehr zurückhaltend, die Fakten kommen scheibchenweise auf den Tisch, getrieben durch große Nachrichtenmagazine und nicht durch das Präsidialamt.

Ist der Präsident also beschädigt, sollte er gar zurücktreten?

Politiker sind keine Heiligen

Man kann die Aufregung ein wenig übertrieben finden. Wer als Oppositionspolitiker einem Regierungschef unpräzise Fragen stellt, muss damit leben, dass er auch einmal eine juristisch spitzfindige Antwort bekommt. Und wenn jemand ein Privatgeschäft im nachhinein als möglichen politischen Fehler erkennt, ist es das Normalste in der Welt und ein ganz üblicher, menschlicher Reflex, den Fehler im Stillen zu bereinigen und nicht an die große Glocke zu hängen. Für Bestechlichkeit oder illegale Bereicherung besteht bisher nicht der geringste Anhaltspunkt. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die das Thema erhält, steht zum eigentlichen Sachverhalt in keinem Verhältnis.

Aber, so heißt es dann immer, Politiker hätten doch eine besondere Verantwortung gerade durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird, sie seien Vorbilder für viele Bürger und müssten besonders hohen Maßstäben genügen. Deshalb sei bereits der bloße Anschein einer Verfehlung tunlichst zu meiden; und einen entstandenen Anschein auszuräumen dann entsprechende Pflicht des Politikers durch umfassende Aufklärung.

Merkwürdig wenige nur fragen: Wieso eigentlich? Das Wahlvolk besteht aus erwachsenen Menschen, die durchaus sehr gut selbst wissen sollten, was sich gehört und was nicht. Die Vorstellung, Politiker hätten eine Vorbildfunktion, um den scheinbar etwas kindlich veranlagten Untertanen vorzuleben, wie man ein anständiges Leben führe, hat etwas Vordemokratisches. Politiker sind nicht vom Himmel gesandt, sie kommen aus dem Volk, haben die gleichen Mängel und Charakterschwächen. Sie machen Fehler, erleiden private Rückschläge, kommen gelegentlich auch einmal mit dem Gesetz in Konflikt, und sei es nur wegen Falschparkens oder Geschwindigkeitsüberschreitung auf der Autobahn. Sie haben das gleiche Anrecht wie alle anderen Bürger auch, dass ihre Handlungen mit der richtigen Verhältnismäßigkeit bewertet werden. Was im normalen Berufsleben nicht zum Jobverlust führen würde, ist auch in der Politik kein Rücktrittsgrund. Und auch für Politiker gilt die Unschuldsvermutung.

Dem steht entgegen, dass es unverkennbar eine starke Tendenz zur Politisierung des Privaten und auch zur politischen Instrumentalisierung des Privaten gibt, bis hin zum Familien- und Sexualleben. Es lässt sich vermuten, dass dies eng mit der zunehmenden Komplexität politischer Sachfragen und Entscheidungsprozesse zusammenhängt und die Verschiebung der Bewertung von der Sache zur Person und deren moralischer Integrität im Kern ein Mittel zur Komplexitätsreduktion ist.

Die allermeisten Durchschnittsbürger – und übrigens ebenso die allermeisten berichtenden Journalisten – verstehen beispielsweise sehr wenig von Schuldenkrisen, internationalen Finanzmärkten, Rettungsfonds und Hebelmechanismen; das Vertrauen in gefundene Lösungen und Kompromisse wird deshalb immer mehr reduziert auf das Vertrauen in die Chefunterhändlerin Angela Merkel; und weil man die langfristigen Ergebnisse ihres Handelns eben schwerlich beurteilen kann, wird vor allem ihre Glaubwürdigkeit zum Entscheidungskriterium, die man dann auch an ihrem privaten Handeln festmacht. Ähnlich ist es auf vielen anderen Politikfeldern, beinahe zu allen Themen findet man zehn Experten mit mindestens ebensovielen Professorentiteln und zwanzig Meinungen. Umgekehrt nutzen natürlich auch viele Politiker diesen Mechanismus, indem sie ihr augenscheinlich tadelloses Privatleben öffentlich inszenieren; Angela Merkel tut dies angenehmerweise übrigens nicht.

Vom Privaten aufs Politische schließen zu wollen reduziert aber nicht nur die Komplexität, sondern führt sehr oft völlig in die Irre, weil beide Welten nach gänzlich unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Im Privatleben hochanständige Menschen können in der Politik erstens inhaltlich völlig versagen und zweitens durch die Gesetzmäßigkeiten des Politikbetriebs zum Lügen und Intrigieren und zu anderen Dingen getrieben werden, die sie privat nie täten. Und umgekehrt sind es oft gerade die größten und erfolgreichsten Politiker, die im Privatleben und ihrer Vergangenheit Schattenseiten haben, die man als Bürger gar nicht so genau kennen möchte; bei Adenauer war das so, bei Wehner, bei Brandt, bei Strauß, bei Kohl und fast allen politischen Führerfiguren der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Und wenn man es aus der Sicht des Landes betrachtet und nicht aus einer oft selbstgerechten Attitüde moralisierender Leitartikler: Gute Politiker mit Charakterschwächen sind besser als schlechte Politiker mit blütenweißer Weste.

Aversion gegen Netzwerke

Im Falle des Bundespräsidenten Wulff kommt aber noch ein anderer Aspekt hinzu, nämlich ein antikapitalistischer Reflex gegen Netzwerke zwischen Politik und Unternehmern und ein umfassender Generalverdacht, enge Beziehungen zwischen Politik und Geschäftswelt führten automatisch zu direkten oder indirekten Formen der Bestechlichkeit und unrechtmäßiger Vorteilsnahme im Amt.

Natürlich kann man den Präsidenten fragen, warum er seinerzeit die Anfrage im Landtag nicht inhaltlich umfassender beantwortet hat; und man kann ihn auch fragen, warum er überhaupt ein Privatdarlehen statt eines Bankkredites wählte und ob nicht eventuell durch günstige Zinsen gar ein Verstoß gegen die entsprechende Gesetzgebung vorliegt, die vergünstige Kredite in seinem Amt verbat.

Man kann sich allerdings auch fragen, warum solche Anfragen überhaupt gestellt werden – nämlich weil Oppositionspolitiker wissen, dass Vorwürfe einer zu großen Nähe zur Wirtschaft beim Wahlvolk immer ankommen, auch dann, wenn sie dementiert werden. Die Allianz von Geld und großer Politik gegen die Interessen der „kleinen Leute“ ist eine universell anwendbare Verschwörungstheorie, dem die Mehrheit des Publikums ohne Ansehen der Fakten immer zustimmen wird. Ähnlich war es ja schon in früheren Fällen, in denen Wulff seinen Urlaub bei Unternehmerfreunden verbrachte. Oder beim vorherigen Bundespräsidenten Köhler, der sein Sommerfest von der Wirtschaft sponsern ließ. Oder bei Angela Merkel, als sie anlässlich des Geburtstags von Josef Ackermann ins Kanzleramt lud. Oder auch beim Außenminister Westerwelle, dem mehrfach vorgehalten wurde, er nehme in seinen Auslandsdelegationen gerne befreundete Geschäftsleute mit und vermittle diesen so bessere Geschäftskontakte. Immer wenn von solchen Nähen zwischen Politik und Wirtschaft irgendein Detail nicht in aller Transparenz vor der Öffentlichkeit ausgebreitet wird, ist Gelegenheit für einen empörten Aufschrei, der aber in Wahrheit nichts anderes ist als eine Ersatzhandlung für die eigentliche Empörung darüber, dass es diese Kontakte überhaupt gibt. Und nichts anderes als die Furcht vor dieser Empörung, nicht etwa kriminelle Energie, ist es in aller Regel, die auf Politik- und Wirtschaftsseite dazu führt, die Transparenz zu meiden.

Dabei gibt es für einen verschämten Umgang mit solchen Nähen überhaupt keinen Grund: Wie überall im Leben spielen auch in der Politik Beziehungen eine entscheidende Rolle; ein guter Politiker, insbesondere ein guter Regierungschef, ist immer auch ein guter Netzwerker. Kontakte zur Geschäftswelt vermitteln ihm mindestens Informationen und Einblicke, zu denen ihm sein Apparat so einfach nicht verhelfen kann; für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik sollte er nicht nur Gewerkschaften und Sozialverbände anhören, sondern natürlich auch die großen Arbeitgeber; und wenn er für sein Bundesland wirbt, sind natürlich auch gute Beziehungen zu Unternehmensführern ein wichtiger Faktor. Und dass hier nicht nur in öffentlichen Sitzungen und bei offiziellen Empfängen kommuniziert wird, sondern auch hinter verschlossenen Türen, dass ein gewisses Geben und Nehmen stattfindet, ist wie bei jeder Netzwerkbildung selbstverständlich. Die Politik ist keine Quarantänestation, in der man die Außenwelt allenfalls mit sterilen Handschuhen berühren darf. Politiker müssen in der Ausgestaltung ihrer Beziehungen zur Wirtschaft gewisse Freiheiten genießen, wenn eine unproduktive Atmosphäre der Angst und des ständigen Misstrauens vermieden werden soll.

Die Grenzen für diese Beziehungen setzen Recht und Gesetz. Direkte oder verschleierte Formen der Bestechlichkeit sind strafbar. Aber zur Beweisführung genügen dann keine Unterstellungen und kein Generalverdacht; Belege müssen konkret sein. Dass beispielsweise ein Bundesland vielleicht einmal an ein Unternehmen einen Auftrag vergibt, mit dem der Ministerpräsident drei Jahre vorher eine Woche auf Teneriffa zugebracht hat, dass also böswillige Leitartikler und das institutionalisierte Pharisäertum einer Landtagsopposition einen irgendwie gearteten „Anschein“ eines Zusammenhangs zurechtkonstruieren können, wäre kein konkreter Beleg und nicht einmal eines Dementis würdig, sondern gehörte ohne weitere Fakten allein ins Reich der Verschwörungstheorien.

Wenn man über sinnvolle Maßnahmen gegen Bestechlichkeit und für finanzielle Unabhängigkeit von Politikern sprechen möchte, die ja auch Zweck des oben kurz erwähnten Verbotes zinsvergünstigter Kredite ist, wäre der erste und wichtigste Hebel, die Vergütung von Spitzenpolitikern auf ein angemessenes Niveau zu heben, das ihrer „herausgehobenen Verantwortung“ tatsächlich entspricht und das beim Ministerpräsidenten eines Landes mit acht Millionen Einwohnern durchaus dem Vorstand eines DAX-Konzerns entsprechen dürfte. Solange man sich aber aus Furcht vor Neidgefühlen unangemessen bescheiden geben muss und der Jahresverdienst eines Bundeskanzlers in etwa dem Wochengehalt eines Josef Ackermann entspricht, besteht weiter auch bei Kleinbeträgen ein Generalverdacht auf Bestechung.

Die Vergeltung

Die sachlich begründeten Vorwürfe gegen den Bundespräsidenten sind bislang recht dünn, und die Motivlage der Kritiker ist, wie man vermuten kann, durchaus zweifelhaft. Dennoch ist es möglich, dass die kleine Affäre ihn sein Amt kosten wird. Wäre das gerecht?

Es gibt ein schönes Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff mit dem Titel „Die Vergeltung“. Darin rettet sich ein Passagier nach dem Untergang seines Schiffes, der Batavia 510, indem er einen anderen opfert. Später an Land angekommen, wird er fälschlicherweise für einen Piraten gehalten und hingerichtet. „Und als er in des Hohnes Stolze / Will starren nach den Ätherhöhn / Da liest er an des Galgens Holze / Batavia. Fünfhundert zehn.“

Die Moral der kleinen Geschichte: Auch wenn jemand aus den falschen Gründen bestraft wird, kann die Strafe dennoch in einem höheren Sinne gerecht sein.

Christian Wulff verdient Strafe, im politischen Sinn. Gute Politiker mit Charakterschwächen mögen besser sein als schlechte Politiker mit blütenweißer Weste, aber Wulff ist kein guter Politiker, jedenfalls kein guter Bundespräsident. Der Präsident hat nach der deutschen Verfassung kaum mehr Macht als die Macht des Wortes; er kann nicht entscheiden, soll aber Orientierung geben, Themen, die über die Tagespolitik hinausreichen, in den Diskurs einstreuen. In dieser Funktion hat Wulff bislang versagt, obwohl gerade die großen, weltbewegenden Themen der Jahre 2010 und 2011 dazu viel Gelegenheit geboten hätten: die Aussetzung der Wehrpflicht, die Energiewende, die arabischen Revolutionen und das drohende Zerbrechen der Europäischen Union an der Finanz- und Schuldenkrise. Im Trubel der wöchentlichen Krisengipfel ist der Präsident nicht aufgefallen, er war kaum wahrnehmbar in den eineinhalb Jahren seiner bisherigen Amtszeit.

Das einzige Thema, bei dem er aufgefallen ist, war das Thema Integration, bei dem er auch glatt danebenlangte und sich auf das an Johannes Rau erinnernde Gesundbeten in fast schon pastoraler Weise beschränkte. „Der Islam gehört zu Deutschland“, alle haben sich lieb, wir müssen nur nett zueinander sein und VIEL Verständnis haben – dann wird alles gut. Wer gegen die über das Land ausgebreitete Harmoniesoße anschreibt, wird aus öffentlichen Ämtern gedrängt wie Thilo Sarrazin, in dessen Fall der Bundespräsident der Bundesbank öffentlich die Entlassung ihres Vorstandsmitglieds nahe legte – ein ungeheuerlicher Vorgang. Probleme, auch integrationspolitische, löst man aber nicht durch Gesundbeten, und wenn es gesellschaftliche Konflikte gibt, ist es nicht Aufgabe eines Bundespräsidenten, sie mit warmen Worten zu bedecken, sondern sie – in zukunftsweisender, konstruktiver Weise – anzusprechen und dafür zu sorgen, dass sie – in zivilisierten Formen – ausgetragen werden.

Sollte Christian Wulff nun gehen müssen: Es wäre aus den falschen Gründen, aber es wäre kein Unglück. Joachim Gauck war der bessere Kandidat. Und wäre es immer noch.


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