Dürre Gelehrsamkeit

Während das kollektive Wissen der Menschheit exponentiell zunimmt, ist unser Bildungsbegriff in den letzten Generationen gefährlich verarmt. Ausbildung, Berufsvorbereitung, Karriere, Erfolg. Sind das die einzigen Ziele an Schulen und Universitäten? Pavel Usvatov fragt nach mehr.


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Es zeigt sich immer deutlicher, „daß wir keine Bildungsanstalten haben, daß wir sie aber haben müssen. Unsere Gymnasien … sind entweder zu Pflegestätten einer bedenklichen Kultur geworden, die eine wahre, … auf eine weise Auswahl der Geister gestützte Bildung mit tiefem Hasse von sich abwehrt: oder sie ziehen eine mikrologische, dürre oder jedenfalls der Bildung fernbleibende Gelehrsamkeit auf …“. (1) „Ich für meinen Teil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnot: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen.“ (2)

Bereits im 19. Jahrhundert lamentierte Friedrich Nietzsche über den Verfall und die Entartung der Kultur, indem die „Anstalten der Bildung“ dazu missbraucht würden, die Staatsziele (heute: das Wirtschaftswachstum) zu erreichen statt zu bilden. (3) Das schon damals wie auch heute unter „Bildung“ mehrheitlich Verstandene bezeichnete er als „intellektuelle Dienerin und Beraterin der Lebensnot, des Erwerbs, der Bedürftigkeit“, die solange keine „Erziehung zur Bildung“ ist, wie sie „an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brotgewinn in Aussicht stellt“. Sie diene nur dazu, den Menschen zu lehren in seinem „Kampfe um das Dasein“ sein Subjekt zu retten und zu schützen. Die wahre Bildung stünde demnach im Widerspruch zum Ziel der Lehranstalten, die nur noch dazu da seien, den Menschen zu lehren, „wie man die Natur sich unterjocht“. (4)

Jeder kennt den Satz: „Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit“ (5). Allerorts hören die Jugendlichen, dass sie eine „gute Bildung“ brauchen, um im Leben „Erfolg“ zu haben. „Erfolg“ wird dabei meist synonym für Geld, gesellschaftliche Stellung und Karriere verwendet. Folglich dient die „Bildung“ in diesem Sinne dazu, diesen „Erfolg“ zu erreichen, ist also ein Mittel zum Zweck. Es handelt sich dabei um die Schulung der Fähigkeiten und Vermittlung von Wissen, die zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit erforderlich sind. Eine Ausbildung eben. Die Jugendlichen brauchen also keine gute Bildung, sondern eine gute Ausbildung, um „Erfolg“ zu haben. Wodurch unterscheidet sich davon aber die „Bildung“, ist diese überhaupt noch notwendig und wie kann sie vermittelt werden?

Lebensnot und Brotgewinn

Die Bildung geht im Gegensatz zur Ausbildung über das Wissen und die Fähigkeiten hinaus, die zur Ausübung eines bestimmten Berufs erforderlich sind. Beispielhaft seien hier Philosophie, Kunst, das Erlernen von nicht im Beruf verwendeten Fremd- und Altsprachen und das Erkunden der Natur genannt. Bildung ist also weit mehr als die Fähigkeit, auch noch so komplexe Maschinen zu bedienen oder zu bauen oder Vorgänge zu planen und umzusetzen. Doch verlassen auch heute die meisten jungen Menschen nicht nur die Schulen, sondern auch die Universitäten als „ungeeignet und unvorbereitet für Philosophie, als instinktlos für wahre Kunst und als frei sich dünkende Barbaren“ (6), die allerdings gut auf die „Lebensnot“ und den „Brotgewinn“ vorbereitet, sprich ausgebildet, sind.

Die Notwendigkeit der Bildung ergibt sich meines Erachtens aus der Beschaffenheit des gesellschaftlichen und politischen Systems, in dem wir derzeit leben. Ein grundsätzlich selbstbestimmtes Leben in der relativ großen Freiheit fordert jedem einzelnen ein gewisses Maß an Kultur und Kultiviertheit ab, welches zu einem friedlichen sozialen Zusammenleben ohne Regulierungsdruck staatlicherseits erforderlich ist. Die reine Ausbildung, die mitunter auf die Förderung des Wettbewerbs unter den Menschen ausgerichtet ist oder jedenfalls zwangsläufig zu diesem führt, vermittelt dem Menschen nicht die Fähigkeit, mit anderen harmonisch zusammenzuleben und auch nicht, etwas anderes als nur sein eigenes Wohl (seinen „Erfolg“) über das Wohl anderer, der Gesellschaft und über die Unversehrtheit der Natur zu stellen. Soll eine funktionierende Gesellschaft tatsächlich eine solche bleiben, sollen die eine grenzenlose „Individualität“ anstrebenden Personen sich nicht völlig aus dieser entkoppeln und soll unsere Umwelt erhalten bleiben und auch in Zukunft lebenswert sein, so muss sich der Mensch über die Ausbildung hinaus mit anderen Werten beschäftigen, die an die Stelle des „Erfolgs“ als das erstrebenswerte Ideal rücken. Anderenfalls wachen wir schon bald in einem Nebeneinander gut ausgebildeter, aber ungebildeter, eigennütziger Roboter und nicht in einer auf dem solidarischen Miteinander basierenden Gesellschaft auf. (7)

Bildungsphasen

Es bleibt also die Frage, wie eine Bildung im eben formulierten Sinne vermittelt werden kann. In seiner Entwicklung durchläuft jeder Mensch mehrere Phasen, die grob in drei Stufen gegliedert werden können, in sogenannte primäre, sekundäre und tertiäre Bildungsstufen (8). Üblicherweise beginnt die formelle Bildungslaufbahn des Menschen in Deutschland mit der Kita, worauf dann die schulische Laufbahn mit Grund- und weiterführender Schule anschließt und mit einer beruflichen Ausbildung oder mit einem Hochschulstudium (und ggf. anschließender wissenschaftlicher Tätigkeit) grundsätzlich abgeschlossen wird. Charakteristisch für alle diese Stufen ist die Ausrichtung auf die Vermittlung des Wissens und der Fähigkeiten, welche zur Bewältigung der üblichen Alltagssituationen erforderlich sind. Die Bildungspläne wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr von dem aus wirtschaftlicher Sicht unnötigen „Ballast“ der Inhalte bereinigt (9), die nicht direkt im Beruf verwertbar sind, und zugleich mit solchen angereichert, die (vermeintlich) einen wirtschaftlichen Nutzen haben (wie zum Beispiel die Vermittlung von Fremdsprachen in der Kita, deren Sinnhaftigkeit weiterhin hoch umstritten ist). (10)

Prägung durch die Familie

Die Bildung beginnt, im Gegensatz zur Ausbildung, nicht erst mit der Einschulung des Kindes, sondern schon vorher in der Kita und insbesondere im Elternhaus. Die Bildung hat viel mit der Erziehung durch die Eltern und das soziale Umfeld zu tun. Umso wichtiger wird das Elternhaus, wenn die staatlichen „Anstalten“ zwar das vordringlichste Interesse daran haben, dass die Schüler und Studenten den für die Ausbildung vorgesehenen Lehrplan bewältigen, sich aber nur in den seltensten Fällen überhaupt dafür interessieren, ob sie auch eine Bildung erhalten. (11) Die Erziehung der Kinder muss also eine Grundlage für ihre Bildung schaffen. Das bedeutet nicht nur die Eröffnung der Möglichkeiten zur Bildung (Vorhandensein der Ausstattung wie z. B. eines Musikinstruments, Malutensilien etc.), sondern auch das Wecken oder zumindest das Nicht-Ersticken des Interesses der Kinder an der Bildung. Denn die Kinder wollen von Natur aus nicht nur die zum Überleben notwendigen Fähigkeiten erlernen, sondern auch Dinge wissen und können, von denen sie noch gar nicht erahnen können, ob sie sie jemals einsetzen können oder müssen; (12) sie gehen offen und uneigennützig an die Welt heran, so, wie es jeder machen muss, der sich bilden möchte.

Bedauerlicherweise wird die uneigennützige und nicht auf ein Ergebnis gerichtete Herangehensweise an das Lernen den Kindern schon seit der Grundschule abtrainiert. Gute Noten und Lob gibt es nicht dafür, dass sie sich bilden, sondern für das Erfüllen der Ausbildungsziele. Die wahre Bildungsarbeit wird somit vollständig auf die Elternhäuser verlagert, die dieser Aufgabe in den meisten Fällen gar nicht gewachsen sind, sind sie doch oft schon mit der Erziehung überfordert. Dazu kommt auch die in vielen Haushalten schlicht nicht vorhandene Ausstattung und Kompetenz. Die Bildung bleibt daher ein Privileg derer, die es sich leisten können und wollen, ihren Nachwuchs zu bilden: Finanziell gut ausgestattete, selbst gebildete Eltern, die ihren Kindern die Musik- und Malkurse bezahlen können und sich die Zeit dafür nehmen können und die Fähigkeit haben, sich mit den Kindern beispielsweise über Literatur zu unterhalten und sie zum Lesen und Erkunden anzuspornen.

Der Bürger, insbesondere der Student, sollte sich also nicht darauf verlassen, dass er an den „Anstalten der Lebensnot“ eine Bildung erhält. Er muss sich bewusst und zielgerichtet darum bemühen, sich zu bilden. Als VDSter hat er nicht nur erweiterte Möglichkeiten dazu, sondern es ist auch seine vornehmste Pflicht, sich zu bilden und Bildung anderen zu ermöglichen.

 

Anmerkungen

(1) Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, vierter Vortrag, gehalten am 5. März 1872, Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Band 3, Hrsg. Karl Schlechta. 1954, S. 229.

(2) Ebenda, S. 232 f.

(3) Es darf nicht die Aufgabe des Staates sein, „eine Staatsdoktrin durchzusetzen“, so auch Lenzen, Eine neue Chance für Bildung?, APuZ 45/2009, S. 7.

(4) Ebenda, S. 230 f.

(5) Z.B. www.sueddeutsche.de/wirtschaft/

datenreport-mehr-armut-trotz-beschaeftigungsrekords-1.1828048;

OECD, Education at a Glance, Paris 2008.

(6) Nietzsche, a.a.O. S. 255.

(7) Das Verständnis und die Unterstützung der Demokratie hingen laut Gaiser, Krüger und de Rijke vom Stand der Bildung ab, die Studie berücksichtigt allerdings nur die formellen (Aus)Bildungsabschlüsse, APuZ 45/2009, S. 39 ff.

(8) Die UNESCO unterscheidet in der Kleingliederung acht bzw. je nach Lesart zehn Stufen, s. ISCED 2011.

(9) Aus meinem eigenen Bereich der Rechtswissenschaften sei hier allein auf die Abschaffung des Latinums und, noch viel gravierender, der verpflichtenden Lehrveranstaltungen zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsgeschichte und einiger weiterer hingewiesen.

(10) „Wir brauchen Basiskompetenzen, die elementare Lebens- und Handlungsfähigkeit sichern“, Lenzen, a.a.O.

(11) Die Erziehung soll „primär Aufgabe der Eltern und [nur] sekundär des Staates“ sein, Lenzen, a.a.O.

(12) Vgl. Schneider, Lernfenster Kindergarten, APuZ 45/2009, S. 35 f.


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Pavel Usvatov

geb. 1983, Jurist, VDSt Straßburg-Hamburg-Rostock.

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