Ein notwendiges Amt

Vor jeder Präsidentenwahl führen selbsternannte Staatsphilosophen Debatten zur Überflüssigkeit des Präsidentenamts und rufen zwecks Haushaltssanierung zur Abschaffung desselben auf. Die Diskussion ist gleichermaßen oberflächlich wie unsinnig; das Amt ist wichtig, und die rund 30 Millionen Euro jährlich sind gut investiertes Geld.


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Zugegeben, der Gedanke hat einigen Charme, zumal nachdem dem Land seine letzten beiden Bundespräsidenten auf unschöne Weise abhanden gekommen sind. Kann man sich die ewigen Diskussionen um dieses vergleichsweise machtlose (und damit auch unwichtige?) Amt nicht ersparen, indem man auf ein Staatsoberhaupt verzichtet und die damit verbundenen Aufgaben auf andere Verfassungsorgane aufteilt? Gesetze könnte der Bundestagspräsident unterschreiben, Auslandsreisen der Bundeskanzler übernehmen, Paraden bei Staatsempfängen der Verteidigungsminister veranstalten, ausländische Gesandte der Außenminister beglaubigen. Und jemand, der Fähren tauft und Krötentunnel einweiht, wird sich im Zweifel auch noch finden lassen.

Wie so manche andere Ideen erscheint auch diese aber nur dann klug, wenn man an einem bestimmten Punkt mit dem Denken aufhört. Einmal abgesehen davon, dass auch Bundeskanzler, Parlamentspräsidenten und Minister ein beschränktes Zeitbudget haben und die Möglichkeit, solche Aufgaben nach oben delegieren zu können, eine nützliche Entlastung darstellt: Der Präsident spielt eine wichtige Rolle im Verfassungsgefüge, auch wenn man im Normalfall davon wenig sieht.

Die letzte Verteidigungslinie der Demokratie

Gewiss, manche Aufgaben des Bundespräsidenten wirken eher wie zeremonielles Zierwerk am Verfassungsgebäude, vor allem diejenigen, bei denen er in einer gleichsam staatsnotariellen Funktion lediglich abzeichnet, was andere zuvor beschlossen haben. Er unterzeichnet die Bundesgesetze (nach Artikel 82 des Grundgesetzes), schließt die Staatsverträge mit dem Ausland und akkreditiert die Diplomaten (Art. 59 GG), ernennt Bundesbeamte, Bundesrichter, Offiziere und Unteroffiziere (Art. 60 GG). Das sind im Grunde reine Verwaltungsaufgaben, die nur, um dem Vorgang einen gewissen staatstragenden Rang zu verleihen, beim Präsidenten angesiedelt sind.

Aus Sicht der Verfassung wichtiger sind die sogenannten Reservefunktionen, die der Bundespräsident dann wahrnimmt, wenn krisenhafte Ausnahmesituationen auftreten, vor allem, wenn zwischen den anderen Verfassungsorganen gefährliche Ungleichgewichte auftreten. Beispielsweise spielt er (Art. 115a GG) eine wichtige Rolle bei der Ausrufung des Verteidigungsfalls; er entscheidet darüber, ob bei einer gescheiterten Vertrauensabstimmung im Parlament tatsächlich der Bundestag aufgelöst wird (Art. 68 GG) – der Bundeskanzler alleine kann dies nicht bestimmen; er kann im Falle einer Minderheitsregierung, bei der kein Kanzlerkandidat die absolute Mehrheit der Stimmen im Bundestag erreicht, entscheiden, ob er einen mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten ernennt oder das Parlament auflöst (Art. 63 GG); und er hat bei der Kanzlerwahl ein echtes Vorschlagsrecht, ist also keinesfalls gezwungen, dem Bundestag den Kandidaten der Mehrheitsfraktionen zu präsentieren. Darüber hinaus ist er kein Unterschriftenautomat, sondern berechtigt, die Ausfertigung eines Gesetzes zu verweigern, wenn er überzeugt ist, dass der Inhalt des Gesetzes verfassungswidrig ist – wie etwa Horst Köhler dies in seiner Amtszeit mehrfach getan hat – oder aber das Zustandekommen des Gesetzes den vorgeschriebenen Verfahren nicht entspricht. Ein solcher Fall trat 2002 auf, als das Land Brandenburg im Bundesrat gespalten über ein Gesetz abgestimmt hatte, aber das Votum des Ministerpräsidenten und damit ein Ja gezählt wurde; Johannes Rau unterschrieb das Gesetz, verwies es aber ausdrücklich ans Verfassungsgericht zur Prüfung, wo es schließlich aufgehoben wurde.

Der Bundespräsident hat also in Grenzsituationen durchaus erheblichen Spielraum, vor allem wird hier sein Mitwirken von den anderen Verfassungsorganen benötigt; er ist damit eine zusätzliche – und im Ernstfall die letzte – Verteidigungslinie der Demokratie, falls Regierung oder Parlament verfassungswidrig agieren. Deshalb würde es die Balance der Institutionen gefährlich stören, wenn man ihm diese Aufgaben entzöge und anderen Organen zuordnete. Natürlich, es bleiben Regeln für Ausnahmesituationen. Würde der Präsident seine Spielräume ständig ausreizen, käme es zu einer Staatskrise, deshalb tut er es nicht; nur in Krisenzeiten kann und muss er seine Reservefunktionen nutzen.

Einheitssymbol nach innen und außen

Der Alltag des Präsidenten wird freilich mehr von seinen Repräsentationsaufgaben bestimmt als von seinen Reservefunktionen für Ausnahmesituationen. An der präsidialen Repräsentation ist manches ritualisiert und erinnert von ferne an die Monarchen, die es in früheren Epochen bei uns gab und in vielen europäischen Nachbarländern noch heute gibt. Auch bestimmte Aufgaben hat er von den Kaisern und Königen geerbt, etwa das Gnadenrecht (Art. 60 GG), und sein gesetzlich verbriefter besonderer Schutz vor Verunglimpfungen (§ 90 Strafgesetzbuch, „Majestätsbeleidigungsparagraph“) ist ebenso sehr deutlich ein postmonarchisches Relikt, wenngleich er heute kaum noch in Anspruch genommen wird. Diese monarchenähnliche Stellung trägt dazu bei, dass das Präsidentenamt einigen Egalitaristen, die meinen, besonders gute Republikaner sein zu müssen, verdächtig erscheint.

Auch das ist allerdings gedanklich zu kurz gesprungen. Ja, das Amt ist in vielem dem König in einer konstitutionellen Monarchie nachgebildet; aber damit ist nicht bewiesen, dass es unzeitgemäß oder veraltet ist, sondern dass im Gegenteil bestimmte Elemente monarchischer Repräsentation auch im demokratischen Zeitalter noch eine Funktion haben. Wenn der Präsident Staatsempfänge gibt, wenn er bei Reden zu wichtigen Anlässen eine besondere Aufmerksamkeit erfährt, wenn er bei Auslandsreisen mit festlichem Gepränge empfangen wird, gilt die so erwiesene Ehre nicht seiner Person, sondern dem Staat Bundesrepublik Deutschland, den er repräsentiert. Das gilt auch für den Zapfenstreich bei seiner Verabschiedung aus dem Amt. Im repräsentativen Pomp ehrt der Staat sich selbst; wenn man ein wenig patriotisches Pathos beimischen will: Der Präsident symbolisiert die Größe der Nation, und das Volk muss mit Stolz auf ihn Blicken können.

Das militärische Zeremoniell gehört seit jeher zur Ästhetik staatlicher Machtentfaltung, hat natürlich auch eine autokratische Geschichte – aber veraltet ist es damit nicht. Eine Volksregierung bedeutet nicht die Abschaffung der Macht, darum auch nicht die Abschaffung von Prunk und Pracht der Macht; sie bedeutet nur die demokratische Kontrolle dieser Macht durch Wahlverfahren, Gewaltenteilung, Ämtervergabe auf Zeit. Entzieht man den staatlichen Organen ihre Autorität und die würdevolle Zeremonie, so entwürdigt das Staatsvolk letztendlich nur sich selbst.

Damit er den Staat repräsentieren kann, muss der Präsident für den ganzen Staat stehen können und nicht nur für Teile davon; neben anderem muss er deshalb über den Parteien stehen, ohne – was nun in der Tat ein atavistischer, urdeutscher Reflex wäre – die Parteien deshalb abzulehnen und zu bekämpfen. Er darf nicht Teilnehmer in den tagespolitischen Grabenkämpfen sein. Ein Regierungschef kann diese Repräsentationsaufgabe deshalb nicht erfüllen, und das Staatsoberhaupt in einer Präsidialrepublik, wie in Amerika, Frankreich oder Russland, kann es auch nur höchst unvollkommen, weil es nicht nur staatliche Macht repräsentiert, sondern auch ausübt und damit täglich politischer Kritik ausgesetzt ist. Idealerweise kann ein Präsident hier Gegensätze überdrücken, den Dialog herstellen zwischen den politischen Lagern, aber auch zwischen dem Volk und der politischen Klasse als ganzer; kann Erklärer, Vermittler, „reisender Demokratielehrer“ sein, wie es Joachim Gauck in seiner Selbstbeschreibung sehr treffend ausdrückte.

Die Macht der Rede

Hier kommt nun ein weiterer Punkt in den präsidialen Aufgabenkatalog hinzu, der spezifisch republikanisch und spezifisch deutsch ist. Von einem deutschen Bundespräsidenten wird erwartet, dass er nicht nur würdevolle, sondern auch geistvolle Reden hält, dass er – nicht tagtäglich, aber doch von Zeit zu Zeit – Debatten anstößt, Inspiration gibt, den politisch-gesellschaftlichen Diskurs bereichert. Wir wollen auf unserem Präsidentensessel keinen Beamten, sondern eigentlich einen Intellektuellen, der – eine urdeutsch-innerliche, sehr romantische Vorstellung – mit der Macht des Wortes ausgleicht, was ihm an politischer Macht nicht gegeben ist.

Dieser Wunsch ist gänzlich unmonarchistisch, von Königen erwartet man keine intellektuellen Glanzleistungen, monarchisches Zeremoniell vollzieht sich vielmehr durch Handlungen, nicht durch Reden. Wenn etwa die britische Königin ihre Thronrede im Parlament hält, verliest sie dort ein vom Premierminister redigiertes Manuskript der Regierung und äußert nicht ihre politische Privatmeinung; in den Anfängen der kurzen gesamtdeutschen Monarchie war das Verhältnis zwischen Kaiser Wilhelm I. und Kanzler Bismarck ganz ähnlich, und als Wilhelm II. anfing, sehr viel und sehr unkontrolliert zu reden, war es für die Politik des Landes ein großes Unglück. Jede politische Stellungnahme führt den Monarchen in das politische Tagesgefecht, und äußert er sich häufig in dieser Art, werden auch die Politiker ihre vornehme Zurückhaltung aufgeben und politisch, also mit höflicher, aber direkter Kritik darauf antworten müssen, worunter das Amt mitunter leidet.

Allerdings sind auch Republiken von diesem Konflikt nicht gänzlich frei. Joachim Gauck hat dies in den ersten Tagen nach seiner Nominierung bereits zu spüren bekommen. Zwar wünscht man sich offiziell einen Präsidenten, der Debatten anstößt; aber wenn er mit einer Aussage wirklich einmal aneckt – und mit einer wirklich intelligenten Aussage tut man das fast immer –, greifen auch hier die üblichen Mechanismen des politisch-medialen Empörungsschauspiels. Deshalb stoßen Präsidentenreden in der Regel keine Debatten an, sie läuten vielmehr das Ende von Debatten ein, wenn sich nach langer Diskussion die gesellschaftlichen Mehrheiten so verschoben haben, dass die zukunftsträchtigere Position die Oberhand gewonnen hat. Das gilt für alle Präsidententhesen, die in Erinnerung bleiben, sei es von Richard von Weizsäcker („Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“), Roman Herzog („Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“) oder Christian Wulff („Der Islam gehört auch zu Deutschland“). Ein Präsident vertritt keine einsame Minderheitenposition, wenn fast alle noch dagegen sind; er gibt vielmehr später – ganz klassisch staatsnotariell – dem Zeitgeist eine präsidiale Beglaubigung. Wer dann dem Präsidenten noch widerspricht, macht sich zum Außenseiter mit einer exotischen oder sogar gefährlichen Meinung, und ist dann ganz offiziell „Revisionist“, „Reformverweigerer“ oder „islamophob“.

Wie kommt ein Volk zu seinem Staatsoberhaupt?

Bei jeder Präsidentenwahl wird erneut über das Wahlverfahren diskutiert und über jenes merkwürdige Gremium der Bundesversammlung, das nur zu diesem einzigen Zweck besteht und damit im Normalfall nur alle fünf Jahre zusammentritt. Mit schöner Regelmäßigkeit finden sich prominente Stimmen, die eine Direktwahl fordern. Aber auch diese Debatte muss man vom Kopf auf die Füße stellen.

Bei einem Amt, das im Alltag des politischen Normalbetriebs keine Macht besitzt, die auf demokratischem Wege kontrolliert werden müsste, ist es nicht entscheidend, dasjenige Besetzungsverfahren zu wählen, das am demokratischsten anmutet; entscheidend ist vielmehr, ein Verfahren zu wählen, das dem speziellen Charakter des Amtes gerecht wird und mit höchster Wahrscheinlichkeit eine gute Ausübung gewährleistet.

Wenn man die wichtigen Anforderungen einmal durchgeht, also die Ausübung von Reservefunktionen im politischen Ausnahmefall, möglichst unbeeinflusst von den anderen Verfassungsorganen, würdige Repräsentation des Staates im Ganzen und Unabhängigkeit von – aber nicht Gegnerschaft zu – den Parteien, kann man zu dem Urteil kommen, dass ein Verfahren ganz ohne Wahl das beste ist und einige unserer Nachbarländern gar nicht so falsch damit lagen, an der Erbmonarchie festzuhalten. Ein Monarch kann im Krisenfall nicht abgesetzt werden, er repräsentiert schon aufgrund der royalen Aura und der dynastischen Tradition, der lebenslangen Vorbereitung und der längeren Amtszeit naturgemäß besser als ein Präsident, und da er nicht gewählt werden muss, kann er seine natürliche Distanz zu den Parteien immer bewahren.

Aber auch wenn man den Weg zurück zur Monarchie nicht gehen möchte, spricht einiges dafür, von der einfachen Mehrheitswahl abzurücken und ein Verfahren zu wählen, bei dem die Parteibindung des Kandidaten deutlich aus dem Fokus genommen wird. Die bisherigen Bundespräsidentenwahlen waren fast immer ein Abbild der Mehrheitsverhältnisse zum jeweiligen Zeitpunkt; es gewann der Kandidat, dessen Parteienblock bei den Bundes- und Landtagswahlen der davorliegenden Jahre besser abgeschnitten hatte, und wer dieser Kandidat wurde, handelten die Parteivorsitzenden in kleiner Runde aus. Man soll nicht meinen, dieses „Kungelrundenverfahren“ würde durch eine Direktwahl besser; auch hier würden allenfalls die Parteipräsidien ihre Kandidaten festlegen und diese auch dann explizit als Parteikandidaten ins Rennen gehen; und auch hier würden die jeweiligen Parteien den Wahlerfolg für sich in Anspruch nehmen und politisch zu verwerten versuchen, womit der dann gewählte Präsident ohne eigenes Zutun in eine Gegnerschaft zu den anderen Parteien gebracht würde.

Vielversprechender wäre ein Konsensmodell, in dem die Parteien von Anfang an dazu genötigt werden, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden – leicht erreichbar durch ein höheres Quorum, etwa die Anforderung einer Zweidrittelmehrheit, wie sie auch im vatikanischen Konklave gilt. Eine solche Mehrheit erreicht aller Erfahrung nach keiner der Parteienblöcke, vor allem nicht aufgrund der Zusammensetzung der Bundesversammlung, da sich die Wahlergebnisse in Bund und Ländern zumeist gegenläufig entwickeln. Ein solcher Kandidat müsste mindestens die Zustimmung der beiden großen Parteien finden und – aufgrund von Wahltaktik und Koalitionsräson – in aller Regel auch ihrer kleineren Partner. Und er wäre im Ergebnis nicht einem Parteienblock besonders verpflichtet, speziell im Hinblick auf eine mögliche Wiederwahl. Gewiss, ein Maximum an Demokratie und Wettbewerb bieten solche Konsensverfahren nicht; die sind für dieses spezielle Amt aber auch nicht erforderlich.


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