Eine deutsche Seele

Die Chronik verzeichnet: Am 24. Juni 1922 wurde der damalige deutsche Außenminister von Terroristen ermordet. In dieser Rolle des Märtyrer-Politikers allein erinnern sich einige, nicht sehr viele Deutsche noch an Walther Rathenau; und erfassen damit nicht einmal ein Zehntel von ihm. Auch neunzig Jahre nach seinem Tod fasziniert seine Persönlichkeit.


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Sein Name gehört in eine vergangene Zeit; die Spuren, die er im Sand hinterließ, sind verwischt durch die nachfolgenden Stürme der Weltgeschichte. Was er leistete, auf politischem, unternehmerischem, schriftstellerischem Gebiet, ist uns unendlich fern wie die Zeiten des alten Roms, aus denen wir uns nur noch der Caesaren und der großen Philosophen erinnern; und er war so wenig das eine wie das andere. Es ist ein wenig rechtfertigungsbedürftig, heute noch über Walther Rathenau zu schreiben. Und wir wollen vorab bekennen, dass wir uns gar nicht bemühen wollen, seine historische Rolle neu festzulegen oder ihr Bedeutungen und Kontinuitäten ins Heutige nachzuweisen, die sie nicht hat, sondern dass es uns vor allem um den Menschen Rathenau und seinen vielschichtigen, mehrseitigen, in ständigem inneren Gefecht stehenden Charakter geht, der ihn eigentlich heute noch interessant macht. Den des Managers und Technikers, der sich gleichzeitig der Kunst und Schriftstellerei hingab; des Großkapitalisten und Schlossbesitzers, der ein eigenes sozialistisches Gesellschaftsmodell entwickelte; des Internationalisten, den zeitlebens die Liebe zu Preußen und Deutschland umtrieb; des Juden, der das Christentum verteidigte; und den des Furchtmenschen, der sich in schwieriger Umbruchszeit in den Dienst am Vaterlande stellte und dabei umkam. Ein einziges Leben von gerade fünfundfünfzig Jahren – und doch ist Stoff für zehn darin. Vieles werden wir hier nur andeuten können. Es ist ein Leben nicht nur voller Gegensätze, sondern auch voller Tragik, in dem sich ein ganzes Menschheitsdrama wie im Zeitraffer zu verdichten scheint.

Es ist zunächst einmal ein Leben der vielfältigen Begabungen. Emil Ludwig sagt über Rathenau: „Er wusste Porträts zu malen, sein Haus zu zeichnen, den Stuck darin zu formen, Turbinen zu bauen, Holzplastiken zu bestimmen, Montaigne anzugreifen, Bilanzen zu entschleiern, Fabriken umzustellen, Verse zu schreiben, Staatsverträge zu schließen, die Waldstein-Sonate zu spielen. Nicht auf Genie, es kam ihm auf einen gewissen Grad des Könnens an, der meist noch größer war, als was der tüchtigste einzelne im einfachen Fache zu leisten vermag. Sein Feld war die Welt, das darf man sagen, in seiner Vielfalt war er überraschend.“ Das alles in einer Zeit, da im Zuge der Industrialisierung – der Mechanisierung, wie Rathenau gesagt hätte – die Arbeitsteilung eigentlich auf dem Vormarsch und die Universalisten früherer Jahrhunderte auf dem Rückzug waren.

In Familie, Firma, Synagoge

emil rathenau

Vater Emil Rathenau, gemalt von Max Liebermann

Die Vielseitigkeit fängt schon im Elternhaus an. Da ist zum einen der Vater Emil, aus einer jüdischen Unternehmerfamilie, ursprünglich Ingenieur von Beruf, der mit einem Freund und vier dutzend Arbeitern in Berlin eine kleine Fabrik für Dampf- und andere Maschinen betreibt. In mancherlei Hinsicht ist er der Archetypus des Zweckmenschen, den Rathenau später so gegeißelt hat, ein begabter Planer und Organisator, ohne viel Neigung zu Bildung und den schönen Künsten. Auch ein Mann mit starken Stimmungsschwankungen, bei dem sich Zuwendung und Zucht stetig abwechseln, was den sensiblen Sohn zurückgestoßen haben dürfte. Darüber hinaus hält er die Familie penibelst knapp; ein Geschäftsfreund meint, sein Zahlenverständnis ende bei dreihundert Mark und beginne erst wieder bei drei Millionen, zwischendrin sei er finanzblind. Der dreizehnjährige Walther karikiert seinen Vater als großen Geldsack, und darunter kann man lesen: „Stirb, Ungeheuer! / Du aller Sorgen, / Du alles Kummers / Drückende Last.“ Das Verhältnis der beiden ist niemals wirklich feindselig, aber distanziert, und wie so häufig bessert es sich erst, als der Vater, alt geworden und verzweifelt auch nach dem Tod seines zweiten Sohnes, an Kraft verliert und Stützung braucht.

Ganz anders die Mutter, Mathilde, Tochter aus der Frankfurter Bankiersfamilie Nachmann, die, wie damals üblich, Haus und Kinder hütet, mit Dienstpersonal natürlich. Musisch veranlagt, „schöngeistig, sentimental, romantisch“, wie Harry Graf Kessler schildert, kommt sie den Vorlieben ihres Sohnes sehr viel eher entgegen. Unter ihrer Erziehung bildet der junge Walther vor allem einen starken Unabhängigkeitsdrang und ein Gefühl der eigenen Würde heraus; seine Vorliebe fürs Deutsche, später sein einzig herausragendes Schulfach, nicht zu vergessen; dazu Klavier und Malerei – über seine Mathilde ist Walther mit Max Liebermann verwandt.

Zwei Umbrüche kennzeichnen die Jugend, beide durch den Vater bestimmt. Ab 1873 zieht er sich von seiner Fabrik zurück, hat, ohnehin von wohlhabenden Eltern abstammend, finanziell ausgesorgt. Fürs Rentnerdasein zu jung, ist er voller Unrast, reist umher, widmet sich allerlei technischen Studien; besucht Amerika und erwirbt die Edison-Patente für Europa. Das Elektrizitätsunternehmen, das er ab 1883 aufbaut und aus dem die A.E.G. hervorgehen wird, ist ein großer Erfolg; gleichzeitig entzieht es ihn, der bis spät in die Nacht und auch am Sonntag immerzu schuftet, seiner Familie völlig. Kessler schreibt: „[Der Vater] war nicht Herr, sondern Knecht der von ihm selbst aufgerichteten Maschine: umso unfreier, je größer diese Maschine wurde.“ Dem Sohn kommt das in gewissem Sinn entgegen.

Jedenfalls entscheidet er sich, jugendlichem Unabhängigkeitsstreben folgend, gegen eine künstlerische Orientierung und für einen Geldberuf, und als Schwerpunkt wählt er die Elektrochemie, mit der bezeichnenden Begründung, dies sei der einzige Zweig der aufblühenden Elektrotechnik, auf dem sein Vater noch nicht die Hände habe. Sein natur-wissenschaftliches Studium schließt Rathenau nach nur vier Jahren mit der Promotion ab – selige Zeiten –, freilich ohne seine schöngeistigen Neigungen dabei gänzlich zu vernachlässigen: Die Berliner Vorlesungen von Wilhelm Dilthey, einem führenden Denker seiner Zeit und Vertreter der Lebensphilosophie, die damals en vogue ist, besucht er regelmäßig; in Straßburg schreibt er das Bühnenwerk Blanche Trocard, ein feinsinniges, bitterironisches Ehedrama; zur Aufführung kommt es nicht, der Familie wird es verheimlicht. Der Theaterzunft bleibt Rathenau verbunden, mit Gerhart Hauptmann verbindet ihn ab dem vierzigsten Lebensjahr eine herzliche Freundschaft.

Nach dem Studium folgt der Militärdienst, als Einjährig-Freiwilliger bei den Garde-Kürassieren. Reserveleutnant wird Rathenau nicht; sein Judentum, das wir nun streifen wollen, hindert ihn daran, und diese Erfahrung verbittert ihn bleibend. Vielleicht rührt daher seine Abneigung gegen ererbte Vorrechte.

Rathenau beschäftigt sich tiefgehend mit der jüdischen Kultur, die er unübertroffen geistvoll findet. Zitat: „Der liebe Gott hat es bei der Erschaffung der Welt gemacht wie ein guter französischer Koch, der eine Zutat, die er am Abend zum Diner gebrauchen will, schon am Morgen zubereitet. Er hat sich gestattet, eine Portion reinen Geistes, eine bestimmte Masse Hirnsubstanz in einen Topf zu tun, zu versiegeln und zwei Jahrtausende sozusagen in die Tiefe des Meeres zu versenken. In ihren wasserdichten Topf hat er nur ein Buch, ein einziges Buch mitgegeben und sie im übrigen hermetisch abgeschlossen gegen die übrige Welt und in sich fermentieren lassen. Was ist die Folge gewesen? Zweitausend Jahre hat diese Masse Geist immer wieder dieselben Gedanken bis zur äußersten Verfeinerung und Kompliziertheit durchdacht. Man hat über jeden Satz der Bibel Kommentare geschrieben und Kommentare zu den Kommentaren, und Kommentare zu den Kommentaren der Kommentare. Eine riesige Wissensmenge häufte sich um das eine Buch… Die Macht und das Ansehen des Geistes, dieses ganz unpraktischen, aber aufs Höchste verfeinerten und komplizierten talmudischen Geistes, wuchs aus Höchste. So bildete sich eine intellektuelle Form, die dann, am späten Abend der Zivilisation, für unsere heutige Welt, für unser heutiges internationales Wirtschaftsleben, unentbehrlich geworden ist.“

theodor herzl

Der zionistischen Bewegung Theodor Herzls, die seit den 1890ern Popularität gewann, steht Rathenau sehr skeptisch gegenüber. Deutschland ist für ihn sein alleiniges Vaterland.

Man bemerkt, dass Rathenaus Beschäftigung mit dem Judentum eine vorwiegend intellektuelle ist, frei von religiöser Entrückung. Das gilt bis hin zu seinen kurzen talmudischen Erzählungen. Die politischen Schriften, die er zur Judenfrage publiziert – etwa Höre, Israel!, 1897 – geben das Musterbeispiel eines emanzipierten Juden: „Mein Volk sind die Deutschen, niemand sonst.“ Gegen die zionistische Bewegung schreibt er an, und zu den osteuropäischen Glaubensbrüdern pflegt er ein feindseliges, nachgerade rassistisches Verhältnis: „Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sande eine asiatische Horde.“ Rathenau hat ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum, und das sollte uns zögern lassen, ihn zum Märtyrer einer Sache zu erklären, die er niemals vertrat. Merkwürdig zu lesen, wie er in Briefen an Berliner Rabbiner das Neue Testament verteidigt und sich für unfähig erklärt, „Christus als eine politische oder staatsmännische Persönlichkeit aufzufassen, deren Pflichten auf ähnlichem Gebiet wie die von Stein, Hardenberg und anderen gelegen hätten“. Der Übertritt zum Christentum, der ihm sein politisches Fortkommen doch erleichtern würde, läge nahe. Er vollzieht ihn nicht, und das Motiv ehrt ihn. Wir lesen: „Durch einen Glaubenswechsel hätte ich mich den Benachteiligungen entziehen können, doch hätte ich hierdurch nach meiner Überzeugung dem von herrschenden Klassen begangenen Rechtsbruch Vorschub geleistet.“ Eine bedrohte Minderheit, sagt ihm sein Anstandsgefühl, lässt man nicht im Stich.

Wo die Beamten- und Offizierslaufbahn verschlossen bleibt – und damit, jedenfalls in Preußen, auch die außerparlamentarische, eigentliche Politik –, steht dem Juden traditionell der Weg über die Wirtschaft offen. Rathenau wird Geschäftsmann, wie sein Vater, ein Zweckmensch, und zwar ein überaus erfolgreicher. Nach einem kurzen Intermezzo als technischer Beamter in der Schweiz übernimmt er als Geschäftsführer die A.E.G.-Tochter Elektrische Werke Berlin-Bitterfeld. Die Aufgabe fordert ihn ganz und gar, denn die Unternehmung ist wenig ertragreich und muss ums Überleben kämpfen. Vom mondänen Berlin hat es den kulturbeflissenen Rathenau in eine trostlose Industriesiedlung verschlagen, wo ihm nichts bleibt als Arbeit und immer nur Arbeit – mechanisiert und funktional. Er nimmt den Kampf auf. Und trotz mancher Rückschläge lohnt sich die Anstrengung, als die Unternehmung zu prosperieren beginnt, zieht sich Rathenau von ihr zurück. Für die A.E.G. baut er nunmehr Zentralstationen in vielen Ländern der Erde – Deutschland ist einer der Vorreiter in Sachen Elektrifizierung –, etwa in Holland, England, Russland, Argentinien. In dieser Zeit um die Jahrhundertwende publiziert er erste Reiseberichte in der Wochenzeitung Zukunft Maximilian Hardens, zu dem er für viele Jahre eine enge Freundschaft pflegt. Die Rückkehr nach Berlin bringt einen Tätigkeitswechsel. Rathenau wird Mitglied im Vorstand der Berliner Handelsgesellschaft, Hausbank der A.E.G., und ist dort zuständig für das Auslandsgeschäft und die „Finanzoperationen“ mit der Elektroindustrie. Das öffnet ihm den Weg in die Verwaltungsbeiräte vieler Industrieunternehmen, in über hundert ist er gleichzeitig oder nacheinander Mitglied. „Dreihundert Männer“, sagt Rathenau, „von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents.“ Er muss es wissen, denn er ist nun einer von ihnen. Die angestrebte finanzielle Unabhängigkeit vom Vater ist ihm jedenfalls sicher. 1909 kauft er das preußische Schloss Freienwalde und plant persönlich die Renovierung im klassizistischen Stil – merkwürdig, gerade er, der schonungslose, neomerkantilistische Luxuskritiker. Aber für die Kunst hat er nun einmal eine Schwäche in ihrer Zweckfreiheit, die er als Lebenssinn anführt und der er als Industrieller doch so fern bleibt. „Die Vereinigung von Kohlepreis und Seele“, hat Robert Musil gespottet – Rathenau aber doch faszinierend genug gefunden, um ihn als Peter Arnheim den Gegenpart zum Mann ohne Eigenschaften spielen zu lassen.

In der Publizistik

Auch im Finanzgeschäft ist Rathenau mit seinen dutzenden Aufsichtsratsposten zeitlich mehr als ausgelastet – unvermeidlicher Preis des Erfolges. In seiner Physiologie der Geschäfte erzählt er: „Ein junger Mann aus guter Familie lobte mir seine Begabung und fragte mich, was er im kaufmännischen Beruf verdienen könne unter der Bedingung, dass er täglich nur fünf Stunden arbeite. Ich antwortete ihm, dass in Geschäften die Arbeitszeit erst von der siebenten Stunde aufwärts bezahlt werde und veranlasste ihn, in den Staatsdienst zu treten.“ Rathenau arbeitet nicht sieben Stunden täglich, sondern das Doppelte und mehr. Trotzdem kommt er nebenher noch zum Schriftstellern – wie macht er das? Die Antwort lautet wohl: Effizienz und minutiöse Planung. Stefan Zweig, leidlich mit ihm bekannt, schildert das sehr schön anhand einer telefonischen Terminvereinbarung:

„Eine zögernde Stimme antwortete. ‚Ach, da sind sie. Aber wie schade, ich reise morgen früh um sechs nach Südafrika…’ Ich unterbrach: ‚Dann wollen wir uns selbstverständlich ein anderes Mal sehen.’ Aber die Stimme setzte langsam überlegend fort: ‚Nein warten Sie… einen Augenblick… Der Nachmittag ist mit Konferenzen verstellt… Abends muss ich ins Ministerium und dann noch ein Klubdiner… Aber können Sie noch um elf Uhr fünfzehn zu mir kommen?’ Ich stimmte zu. Wir plauderten bis zwei Uhr morgens. Um sechs Uhr reiste er – wie ich später erfuhr, im Auftrag des deutschen Kaisers – nach Südwestafrika.“ Zweig resümiert: „Dieser vielbeschäftigte Mann hatte immer Zeit… Er hatte ständig seinen Tag bis auf die einzelne Minute eingeteilt und konnte doch jederzeit mühelos aus einer Materie in die andere umschalten, weil sein Gehirn immer parat war, ein Instrument von einer Präzision und Rapidität, wie ich es nie bei einem anderen Menschen gekannt.“

Beneidenswerte Fähigkeiten. Sie geben Rathenau Raum für seine publizistischen Aktivitäten, deren Schwerpunkt vor allem in der Zukunft liegt, und das heißt damals: sie sind regierungskritisch. Die Zukunft ist ein Oppositionsblatt. Harden hat man nach dem späteren Spiegel-Herausgeber den „Augstein des Kaiserreichs“ genannt, und darin liegt ein Funken Wahrheit. Er scheut nicht davor zurück, Skandalenthüllungen als politische Waffe einzusetzen – etwa gegen Phillip zu Eulenburg, einen der treuesten Paladine des Kaisers, den er mit dem – wohl nicht ganz grundlosen – Vorwurf der Homosexualität persönlich vernichtet. Rathenaus Methoden sind subtiler, aber auch er kritisiert offen die kaiserliche Regierungslinie, vor allem in der Außenpolitik. In Zeiten des kollektiven Weltmacht- und Platz-an-der-Sonne-Strebens gehört er zu den wenigen skeptischen Mahnern.

kaiser wilhelm

Wilhelm II., deutscher Kaiser 1888-1918. Rathenau pflegte regelmäßigen Kontakt mit Seiner Majestät, was ihm gestattete, nach der Revolution von 1918 seinen Essay mit großer psychologischer Tiefenschärfe abzufassen.

Er weigert sich jedoch, den Kaiser alleine für die verfehlte Politik verantwortlich zu machen. Auch noch 1919, nach der Katastrophe, als allzu viele vormals stramme Monarchisten sich gar nicht genug in Schmähungen gegen ihr gefallenes Idol ergehen können, publiziert er eine sehr ausgewogene, ja milde Beurteilung der Figur Wilhelm II. und weigert sich ritterlich, einem einzelnen das nationale Unglück anlasten zu wollen. Er sieht den Fehler vielmehr im System, das einem einzelnen ein derartiges Machtquantum zugesteht, das auch Höchstbegabte kaum auszufüllen vermögen. Und er verlangt mehr Professionalität und weniger Adelsvorrechte bei der Besetzung der Staatsämter: „Ein Volk von 65 Millionen Menschen kann verlangen, dass die führenden Stellen im Staatswesen von allerersten Talenten, die verantwortlichen Stellen von befähigsten Spezialisten besetzt werden.“ Ein weises Urteil und ein Kassandraruf für dieses Kaiserreich, das, wenn man dem allgemeinen Historikerurteil folgt, weniger an böser Absicht als an heillosem Dilettantismus seiner führenden Staatsmänner zugrunde gegangen ist.

Zugrunde gegangen vor allem an der Feindschaft mit England, dessen maritime und industrielle Kraft, das sieht der Wirtschaftsmann Rathenau ganz klar, zur ohnehin bestehenden französisch-russischen Kontinentalallianz hinzuaddiert, den Ausschlag geben muss. Rathenaus Artikel raten allesamt von der Provokation Englands durch unnötige Rüstungen ab. Ohnehin sieht er in Rüstungen nicht den wesentlichen Machtfaktor, sondern, ganz modern denkend, in der Ökonomie: „Der Umfang der Rolle, die ein Staat auf dem Welttheater zu spielen berechtigt ist, bestimmt sich zu jeder Zeit durch eine Reihe von Gegebenheiten geographischer, physischer und moralischer Natur.“ Rüstungen wirken allenfalls kurzfristig. Und Rathenau versucht sich, damals nicht ganz ungefährlich, in den Standpunkt des „perfiden Albion“ hineinzuversetzen. Denkschrift an Kanzler v. Bülow: „Es wäre schwächlich und oberflächlich, wollte man glauben, dass kleine Freundlichkeiten, Deputationsbesuche oder Pressmanöver Unzufriedenheiten stillen können, die aus so tiefen Quellen fließen. Nur unsere Gesamtpolitik ist imstande, England wenigstens diesen Eindruck zu verschaffen, dass von Deutschlands Seite aus keine Verstimmung, keine Furcht, kein Expansionsbedürfnis und keine Offensive besteht.“

Mit alldem stößt er auf taube Ohren bei einer Außenpolitik, die in verhängnisvoller Weise Mittel und Zweck verwechselt. Militär und Rüstungen sind Mittel der Politik, und oft nicht einmal taugliche; seit 1900 aber kreist die gesamte deutsche Außenpolitik darum, wie man der Seemacht England ein Rüstungsprojekt – die Schlachtflotte, des Kaisers Lieblingsspielzeug – politisch schmackhaft machen oder aufzwingen kann – ein aussichtsloses Unterfangen von Anbeginn. Rathenau kann der Regierung die Flottenprogramme nicht ausreden, und auch seine anderen Vorschläge – ein internationaler Rechnungshof, Rüstungsbegrenzungsabkommen, ein europäischer Zollverein – haben keine Chance. Der Gerechtigkeit halber muss man hinzufügen: seinerzeit hätten sie auch in anderen Ländern kaum eine Chance gehabt.

In der Kriegsrohstoffabteilung

Der Krieg kommt. „Es muss denn das Schwert nun entscheiden. Darum auf, zu den Waffen“, ruft der Kaiser. Was tut Rathenau, der bis zuletzt, in Verkennung der kriegsbegeisterten Stimmung im Volk, dagegen angeschrieben hat? Er beginnt, aktiv in die Geschichte einzugreifen. In seinen Worten: „Am vierten August (…), als England den Krieg erklärte, geschah das Ungeheure, nie Dagewesene: unser Land wurde zur belagerten Festung. Geschlossen zu Lande und geschlossen zur See war es nun angewiesen auf sich selbst; und der Krieg lag vor uns, unübersehbar in Zeit und Aufwand, in Gefahr und Opfer. – Drei Tage nach der Kriegserklärung ertrug ich die Ungewissheit unserer Lage nicht länger, ich ließ mich melden bei dem Chef des Allgemeinen Kriegsdepartements, dem Oberst Scheuch… Ich legte ihm dar, dass unser Land vermutlich nur auf eine beschränkte Reihe von Monaten mit den unentbehrlichen Stoffen der Kriegswirtschaft versorgt sein könne. Die Kriegsdauer schätzte er nicht geringer ein als ich selbst, und so musste ich an ihn die Frage richten: Was ist geschehen, was kann geschehen, um die Gefahr der Erwürgung von Deutschland abzuwenden? Es war sehr wenig geschehen…“ Die Heerführer scheinen der eigenen Propaganda vom raschen Sieg geglaubt und jegliche Vorkehrungen für den Abnutzungskampf, der der Erste Weltkrieg dann tatsächlich werden sollte, unterlassen zu haben. Rathenau aber gründet und organisiert, von den Militärs argwöhnisch beäugt, doch notgedrungen akzeptiert, die Kriegsrohstoffabteilung. Er sorgt etwa dafür, dass das für die Schießpulverproduktion unentbehrliche Ammoniak, mangels Rohstoffen nicht mehr produzierbar, nicht als Dünger auf den Äckern verstreut wird. Das ermöglicht das Durchhalten, bis die Ammoniak-Synthese aus Stickstoff serienreif ist – übrigens eine Erfindung des Karlsruher Chemikers Fritz Haber, ebenso eines Juden. Christian Graf Krockow kommentiert: „Man kann also sagen, dass zwei deutsche Juden, Walther Rathenau und Fritz Haber, dem Reich das Durchhalten im Ersten Weltkrieg ermöglichten. Der eine wurde 1922 ermordet, der andere starb 1934 in seinem Baseler Exil.“ Deutsche Dankbarkeit im frühen Zwanzigsten Jahrhundert.

Rathenau hat den Krieg abgelehnt; nun hilft er ihn mitorganisieren – ein Widerspruch? Nein und Ja. Nein, weil Rathenau aus tiefstem Herzen Patriot ist, den Krieg auch aus patriotischen Gründen – dem Überlebensinteresse des eingekreisten Reiches – abgelehnt hat; Ja, weil er trotzdem fortwährend von Zweifeln geplagt wird: „Wir müssen siegen, wir müssen! und haben keinen reinen, ewigen Anspruch…“

erich ludendorff

Erich Ludendorff, seit 1916 Generalquartiermeister in der Obersten Heeresleitung, de facto Militärdiktator bis zum Herbst 1918

Folglich gehört Rathenau auch zu den Gemäßigten, als sich ab Ende 1914 die Kriegszieldebatte entspinnt. Es gehört zu Merkwürdigkeiten dieses Krieges, dass die beteiligten Völker erst, als er schon Monate alt ist, nachzudenken beginnen, welchen Zielen er eigentlich dienen soll. Man verfällt in einen räuberischen Annexionismus, nicht nur in Deutschland – in Frankreich fordert Poincaré wieder einmal die Rheingrenze aus Napoleons Zeiten –, aber eben auch dort. Rathenau beschwört Kanzler Bethmann Hollweg, dringt auf einen Kompromissfrieden mit einer deutsch-französisch-belgischen Zollunion. Der Kanzler irrlichtert zwischen den Lagern; als 1916 mit Hindenburg und Ludendorff zwei Vertreter des „Siegfriedens“ die Oberste Heeresleitung übernehmen, er und seien „Politik der Diagonale“ alsbald hinweggefegt werden, sind die Chancen auf einen Frieden im Guten – wenn sie je bestanden haben – endgültig vertan. Jetzt gibt es nur noch Sieg oder Niederlage. Zu Ludendorff, nun de facto Militärdiktator, der sich als ähnlich tüchtiger Kriegswirtschaftsorganisator erweist wie er, knüpft Rathenau raschen Kontakt und bemüht sich um Einflussnahme. Die beiden scheinen dieselbe Sprache zu sprechen. Als es aber um die Entscheidung über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg geht, hört Ludendorff auf die Admirale und sein „Gefühl“, nicht auf Rathenau, der ihm eindringlich vorrechnet, dass die U-Boote England nicht aus dem Kriege drängen können und das Eingreifen Amerikas die Entscheidung bringen muss. Ludendorff setzt alles auf eine Karte – Sieg oder Niederlage. Es wird die Niederlage.

Anfang Oktober 1918, als das Waffenstillstandsgesuch schon gestellt ist, ruft Rathenau in einem Zeitungsartikel zum Volkskrieg, zur Levée en masse auf, um bessere Friedensbedingungen zu erstreiten. Den Spitznamen „Massen-Levi“ hat er seither weg. Wie auch immer man über die militärische Praktikabilität denken mag, volkspsychologisch ist es eine Unmöglichkeit. Rathenau steht, wie 1914, in völligem Gegensatz zur allgemeinen Stimmung – nur diesmal mit verkehrten Fronten.

Auf dem Fechtboden des Geistes

Wir haben über die große Politik ein wenig Rathenau selbst aus dem Auge verloren. Einschneidendes Erlebnis ist im Juli 1915 der Tod des Vaters, der schon seit einer Reihe von Jahren gekränkelt hat. Rathenau, zuvor bereits Aufsichtsratschef der A.E.G., verstärkt seine Stellung und nennt sich nunmehr deren „Präsident“. Er verwaltet sein Industrieimperium wie eh und je. Hier gibt es wenig Neues zu erzählen.

Neu an den Kriegsjahren aber ist, dass sie Höhepunkt und Vollendung von Rathenaus literarischem Werk mit sich bringen. Zwischen 1913 und 1919 erscheinen seine großen philosophischen Schriften – die Mechanik des Geistes, Von kommenden Dingen, Die Neue Gesellschaft –, entsteht ein eng verwobenes, kunstvolles Gedankengeflecht, das zum Geistreichsten gehört, was man in diesen Jahren findet.

Der Kernbegriff, um den Rathenaus Denken kreist, er lautet: Seele; für einen philosophierenden Industriellen ein höchst ungewöhnlicher Ausgangspunkt, und einer, der ihn vom Marxismus, jenem profanen Diesseits-Religionsersatz, deutlich unterscheidet, wenn er schließlich seine sozialistische Neue Gesellschaft entwirft. Rathenau ist eben doch eine Künstlernatur, so erfolgreich er auch Kommerz getrieben hat, und das darf man bei seinen Schriften in keiner Sekunde vergessen. Kessler schreibt: „Wie ein Künstler gibt Rathenau bewusst subjektive Wahrheit. Aber die Bedeutung und Wirkung solcher Wahrheit kann, wie er meinte, in der Tat tiefer sein als die von sogenannter objektiver Wahrheit; künstlerische Wahrheit ist oft künftige Wahrheit, schöpferische Wahrheit. Wenn sie noch nicht Wirklichkeit ist, kann sie Wirklichkeit werden.“ Das, was den Philosophen ausmacht, die analytische Gedankenstrenge, sucht man bei Rathenau oft vergebens. Seine Bücher sind papierene Gemälde, er ist ein glänzender Aphoristiker mit viel Angriffslust „auf dem Fechtboden des Geistes“ – nicht nur darin Nietzsche ganz ähnlich –, der auf der Klaviatur der Sprache alle Töne von der kecksten Ironie bis zum eindringlichsten Pathos zu spielen weiß, herrliche Gedankenblitze liefert – es an Beweisen für seine verstiegenen Thesen aber allzu häufig mangeln lässt. Das fehlt ihm zum großen Philosophen, macht ihn aber gleichzeitig zu einem Prosadichter von Rang.

Sein Denken stellt Rathenau häufig in scharfem Gegensatz zu seiner gefühlsmäßigen deutschnationalen, preußisch-patriotischen Haltung, denn seine Philosophie ist ganz und gar unpreußisch. Das Grobe, Hartkantige, Mechanisch-Maschinelle, das das klassische Preußen doch ausmacht, ist ihm verhasst, und die Verdrehung und Übersteigerung, die es in der wilhelminischen Zeit erfährt, ist es noch mehr. „Der Inbegriff meiner Philosophie ist die Beseitigung des Zweckhaften“, so hat er geschrieben, und der im mechanisierten Wirtschaftsprozess eingeklemmte Zweckmensch, von dem sein Vater doch ein Musterbeispiel war, wird ihm zum Feindbild: „In dem Bewusstsein, dass er aus eigenem Wesen Gewalt nicht üben kann, trachtet er Kraft durch Macht zu ersetzen. Aus Sklaverei erstanden, will er Sklaven befehlen, von Furcht gepeinigt, will er Furcht erwecken.“ Das könnte auch in Heinrich Manns „Der Untertan“ geschrieben stehen. Tatsächlich, auf das Bürgertum des Kaiserreichs, das sich seine früheren liberalen Ideale für Reserveleutnantstitel und Hofballeinladungen abkaufen lässt und dann, als die Katastrophe da ist, in der Verleugnung der Niederlage seine Kleingeistigkeit und Wehleidigkeit auf abstoßende Weise beweist, auf dieses Bürgertum blickt Rathenau voller Verachtung, gemischt mit düsteren Vorahnungen: „Wir verstehen Gedankengänge wie etwa die: die Polizei ist schuld, die Kriegswirtschaft ist schuld, die Preußen sind schuld, die Juden sind schuld, die Engländer sind schuld, die Pfaffen sind schuld, die Kapitalisten sind schuld. Wie bei den Slawen wäre, wenn Gutartigkeit und Ordnungsliebe seit zwei Jahrhunderten uns nicht hemmten, der Pogrom – in Formen des Bauernkrieges, des Glaubenskrieges, der Hexenprozesse, der Judenhetzen – die eigentliche Ausdrucksweise unseres primitiven politischen Wollens.“ Harte, überharte Worte, die man aber kennen muss, um zu begreifen, dass das Preußen, das Rathenau so abgöttisch liebt, ein schon zu seiner Zeit vergangenes ist: das freigeistige Preußen Friedrichs des Großen einerseits, das kulturell, vor allem literarisch hochstehende am Anfang des 19. Jahrhunderts anderseits. Das mechanisierte Preußen-Deutschland seiner Zeit sieht er mit den zornigen Augen eines enttäuschten Geliebten.

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Rathenaus Villa im Grunewald. Ein prächtiger Bau, aber mit auffallend schmaler Tür (Foto: Jochen Jansen, CC3.0)

Sein Ansatz ist ein ganz anderer, ein metaphysischer, entwickelt auf einer Griechenlandreise im Jahr 1906 – die Seele –, immer mit einem Schuss des Irrationalen: „Logisches Denken kann Recht begründen und Sitte, niemals absolute, jedem Einwand enthobene Wertsetzung und Sittlichkeit.“ Die menschliche Seele lässt sich mit dem Denken allein nicht erfassen. Wer das versucht, benimmt sich, „als wollte ein Schwingungstheoretiker mit Kurven und Diagrammen das Erlebnis der Symphonie ergründen, als wollte ein Meteorologe mit Wetterkarten die Stimmung eines Frühlingsmorgens erschöpfen, als wollte ein Hydrauliker das Urempfinden der Meeresbrandung errechnen.“ Die Seele ruht in sich – „Für den transzendenten Geist gibt es kein ethisches Handeln, sondern vielmehr einen ethischen Zustand“. Es gibt aber bei Rathenau auch Menschen ohne Seele – die Seele ist zweckfrei, und wenn der Mensch gehetzt, ohne Zeit für zweckfreies Dasein, im Alltag aufgeht, ist er eben seelenlos. Höchstes Ziel, auf der anderen Seite, ist das zweckfreie Aufgehen der Seele in Gott.

Die Zweckfreiheit verlangt auch (aber gar nicht hauptsächlich) die Aufhebung des proletarischen Verhältnisses, dieses Archetypus der Verzweckung des Menschen, seiner Herabwürdigung zu einem kleinen, ersetzbaren Rädchen in einem viel größeren, mechanisierten Prozess. Wäre Rathenau allein Künstler und Philosoph, er könnte sich mit dieser allzu irdischen applikativen Feststellung begnügen und in die Höhen der Metaphysik zurückkehren.

Aber das ist er nicht. Er ist eben auch der tüchtige Industrielle und Kriegswirtschaftsorganisator, und er ist mit genügend handfest-praktischem Preußengeist gesegnet, um seiner Verdammung des proletarischen Verhältnisses ein durchdachtes Programm zu dessen Aufhebung folgen zu lassen. Und er zeigt seine Nüchternheit erneut, indem er aller Nostalgie und Agrarromantik entsagt und die industrielle Arbeitsteilung als nicht umzukehrende vollendete Tatsache anerkennt: „Mechanisierung als Form materiellen Lebens hingegen wird der Menschheit dienen müssen, solange nicht die Volkszahl auf die Norm der vorchristlichen Jahrhunderte zurückgesunken ist.“ Will man den Lebensstandard – auch der Proletarier – halten und ausbauen, kommt man um die Arbeitsteilung nicht herum. Es geht darum, sie so gut wie möglich auszugestalten.

Rathenau schlägt vor, den tristen Alltag der Fließbandarbeiter aufzubessern, indem man sie ihre Tätigkeiten häufiger wechseln lässt – auch zwischen mechanischen und geistigen. Heute ist das eine Selbstverständlichkeit; zu seiner Zeit ist es etwas Neues. Der Unterschied zwischen zündender Idee und Platitüde ist eben allein eine Frage des Zeitpunktes. Rathenau geht jedenfalls einen wichtigen Schritt weiter als die Marxisten, die es mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel genug sein lassen, aber gegen die eigentlich entfremdende Wirkung der Industriearbeit – die Monotonie – nichts aufzubieten wissen.

In der Politik

„Der Held braucht Verhängnis und Unglück, um sich beweisen zu können. Not und Held gehören zusammen wie Krankheit und Fieber“ – Worte Robert Musils. Während der Kaiserzeit musste Rathenau, der bürgerliche und ungetaufte Jude, von der hohen Politik ausgeschlossen bleiben, konnte nur aus der journalistischen Beobachterposition heraus kommentieren, und seine Versuche der Einflussnahme blieben, wie wir gesehen haben, mit wenig Effekt. Nach dem Fall des Kaiserreiches liegen die Dinge anders. Der Krieg, den er nicht gewollt hat, und der militärische Zusammenbruch, den er mit allen Mittel abzuwenden versucht hat und dem die Revolution nachfolgt, geben Rathenau die politische Chance – und bringen ihm damit letztlich den Tod.

Der Politiker Walther Rathenau gehört historisch ganz und gar der Weimarer Republik an. Wie steht der Denker Rathenau eigentlich zu ihr? Das ist nicht leicht zu sagen; aus seinen Schriften ist es nicht eindeutig herauszulesen. Rathenaus Programm ist der Volksstaat, ein immer etwas im Ungefähren bleibendes metaphysisches Konstrukt: „Der Staat soll sein das zweite, erweiternde und irdisch unsterbliche Ich des Menschen, die Verkörperung des sittlichen und tätigen Gemeinschaftswillens.“ Der Staat soll gewissermaßen organisch um seine Bürger herumwachsen, ihren Willen auf höherer Ebene verkörpern, man kann fast sagen: Er soll Seele haben. Von der eigentlichen Staatsform ist das nicht unmittelbar abhängig: „Nicht Einrichtungen, nicht Verfassungsparagraphen und Gesetze schaffen den Volksstaat, sondern Geist und Wille.“ Aus diesem Gedankensystem kann man keine theoretische Präferenz für die Republik ableiten. Im Gegenteil: „Auch Demokratie ist nicht Herrschaft des Volkes, sondern die Beherrschung eines Volksteils durch den anderen.“ Die Aristokratie des Geistes, die immer wieder propagiert wird, hat einen deutlich elitär-undemokratischen Zug – wenngleich Rathenau sich in seinen Schriften nach 1918 eindeutig zum neuen Staat bekannt hat.

Rein praktisch nimmt Rathenau die Revolution, an der er nicht teilnimmt, als gegeben hin und beginnt sein politisches Engagement. Zunächst ist es durchaus erfolglos. Der noch im November 1918 gegründete „Demokratische Volksbund“, der eine neue Art von Partei – nämlich eine Volks- und nicht eine Klassenpartei – sein will, überlebt nur wenige Tage. Auch in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, in der Friedrich Naumann federführend ist, erlebt Rathenau eine große Enttäuschung: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung setzt ihn die Parteitagung – wohl auch aus antisemitischen Beweggründen – auf einen aussichtslosen Listenplatz. Aus der ersten Sozialisierungskommission, gleich nach der Revolution gegründet, wird er auf Verlangen der USPD gestrichen. Und als ein Auslandsdeutscher ihn der Nationalversammlung telegraphisch als Reichspräsidenten anpreist, wird das Schreiben – ohne den ungefragt Vorgeschlagenen vorher zu informieren – im Plenum verlesen. Das Sitzungsprotokoll verzeichnet „große Heiterkeit“; Rathenau aber, sensibel, wie er ist, fühlt sich zutiefst gekränkt.

Nach dieser Kette von Demütigungen und nachdem sich die hochfliegenden Hoffnungen, nach dem Zusammenbruch eine neue Gesellschaft gründen zu können, zerschlagen haben, würde – gerade bei einer so künstlerisch-empfindsamen Seele wie Rathenau – ein Rückzug ins Private nahe liegen, wo man ungestört weiter schriftstellern und Aquarelle malen könnte. Doch nichts davon. Sein Land braucht ihn und seine großartigen Fähigkeiten – mit denen er nie hinter dem Berge gehalten hat – da ist ein Weglaufen nicht erlaubt.

Und er hat Erfolg. In Daten: April 1920 – Rathenau wird Mitglied der zweiten Sozialisierungskommission; Juli 1920: Teilnahme an der Konferenz von Spa, auf der erste Reparationsabsprachen mit den Alliierten getroffen werden; Mai 1921: Rathenau Reichsminister für Wiederaufbau; Oktober 1921: Wiesbadener Abkommen, die Abgeltung der Reparationen als Sachleistungen wird möglich; Januar 1922: Konferenz von Cannes, Rathenau erreicht einen Aufschub der Zahlungen; 31. Januar: Rathenau Reichsaußenminister; April: Weltwirtschaftskonferenz in Genua, Deutschland erhält in allen Kommissionen Sitz und Stimme; 16.4.: Vertrag von Rapallo, Nachholung des Friedensschlusses mit Russland unter Verzicht auf gegenseitige Reparationsforderungen.

Rathenau geht die ersten Schritte auf dem Weg des Wiederaufstiegs des geschlagenen und geächteten Deutschlands zur Großmacht, und er bemüht sich – gegen Widerstände auf allen Seiten – um eine Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Osten und im Westen. Damit legt er den Grundstein der deutschen Außenpolitik der zwanziger Jahre, die Stresemann dann so virtuos zur Ausführung bringen wird.

Möglich werden diese Erfolge vor allem durch einen Mann: den Zentrumspolitiker Joseph Wirth, einen der vielen vergessenen Reichskanzler der Weimarer Republik, der Rathenau schätzt und fördert und schließlich in sein Kabinett beruft. Und zwar zunächst und vor allem als Wirtschaftsfachmann – das ist ja Rathenaus eigentliches Spezialgebiet –, eben als Minister für den Wiederaufbau nach dem Kriege. Nur liegen die Dinge in den frühen Nachkriegsjahren so verwickelt, dass die Wirtschaftspolitik über die Demontagen und Reparationen immer zugleich auch Außenpolitik bedeutet, sodass Rathenau sehr rasch vor allem mit seinen französischen Kollegen in Kontakt kommt.

Formell ist Rathenau ganze fünf Monate Außenminister gewesen; de facto hat er zwei Jahre lang Außenpolitik gemacht. Sehen wir uns trotzdem nur den letzten Abschnitt an: die Konferenz von Genua. Sie bringt zwei Dinge: den Friedensvertrag mit den Russen; und ein erstes Tauwetter in den Beziehungen zum Westen.

Der erste Teil, das berühmt-berüchtigte Rapallo-Abkommen, ist vielfach kritisiert worden. Tatsächlich stößt es die Engländer und Franzosen vor den Kopf, vor allem durch die verdächtig-geheimnisvolle Art seines Zustandekommens. Trotzdem ist es notwendig, und das aus zwei Gründen: Zum einen steht, nachdem der Vertrag von Brest-Litovsk in Versailles annulliert werden musste, eine Friedensregelung mit den Russen aus, ja ist nach vier Jahren überfällig – und mehr ist dieser Vertrag nicht, er enthält kein geheimes Zusatzprotokoll wie siebzehn Jahre später der Hitler-Stalin-Pakt. Zum anderen plant die unversöhnliche Regierung Poincaré zeitgleich in Paris, auch die Russen zu Reparationsforderungen an das Reich zu ermutigen, um Härten nachzuholen, die man in Versailles versäumt zu haben glaubt. Dem muss die deutsche Außenpolitik durch den Rapallo-Vertrag zuvorkommen, und die dadurch entstehende Eile erklärt das hektische, fast konspirative Zustandekommen (nicht einmal Reichspräsident Ebert ist vorab informiert). Rathenau selbst ist halb dagegen, weil er eine arge Verschlechterung der Beziehungen zu den Westmächten fürchtet; eigentlich treibende Kraft ist der Reichskanzler.

Rathenaus wichtigste Leistung der Konferenz ist deshalb der zweite Teil: das Vertrauen, dass er als Person – die 1919 in Frankreich noch mancher als „Kriegsverbrecher“ ausgeliefert sehen wollte – für sich und für Deutschland erwirbt. Er agiert als besonnener, gesprächsbereiter Verhandlungspartner, und seine Schlussrede auf der Konferenz ist Legende geworden: „Die Geschichte Italiens ist älter als die der meisten europäischen Nationen. Auf diesem Boden sind mehr als einmal große Weltbewegungen entstanden. Abermals und hoffentlich nicht vergebens haben die Völker der Erde ihre Augen und ihre Herzen zu Italien erhoben in der tiefen Empfindung, der Petrarca den unsterblichen Ausdruck verliehen hat: lo vò gritando: pace, pace, pace!“ Frieden, Frieden, Frieden – und Rathenau kann für sich in Anspruch nehmen, früher und nachdrücklicher für den Frieden eingetreten zu sein als alle anderen im Saal, sei es in Deutschland, sei es in Frankreich oder England.

Rathenau ist über den Wiederaufbau zur Außenpolitik gekommen, weil der Wiederaufbau zu einem Problem der Außenpolitik geworden war. Er hätte auch Teil der Lösung sein können. Rathenau schreibt selbst an Matthias Erzberger: „In unserer verzweifelten Lage gilt es, den beweglichen Punkt zu finden, von dem aus die gesamte Situation aufgerollt werden kann. Dieser Punkt liegt in Belgien und Nordfrankreich, und zwar beim Problem des Wiederaufbaus. Von hier aus können wir
1. das Verhältnis zu Frankreich regeln,
2. den Friedensvertrag korrigieren,
3. die Entschädigung umgestalten und mildern,
4. auf die inneren Verhältnisse Deutschlands zurückwirken,
5. Deutschlands moralische Stellung zurückgewinnen.“

Der Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten belgischen und nordfranzösischen Gebiete durch Deutschland als Beginn der Verständigung – ein Vorgriff auf größere wirtschaftliche Verflechtungen, die Frieden stiften sollen. Man fühlt sich an die Montanunion der Fünfziger erinnert; oder an Rathenaus Idee des europäischen Zollvereins von 1913. Aber aus den Plänen wird nichts. Die französische Industrie wiegelt ab – die zerstörten Landstriche sind ihre eigenen Hauptabsatzgebiete –, und wahrscheinlich ist die Zeit noch nicht reif dafür. Die Erinnerung an den Krieg ist noch frisch, die Verbitterung bei allen groß. Rathenau kann nur die ersten Schritte eines langen Weges gehen, und er weiß das auch. Zu groß sind die Vorbehalte auf beiden Seiten des Rheins.

Auch östlich des Rheins. Jedenfalls wird der dortige Widerstand gegen die Verständigungspolitik Rathenaus unmittelbare Todesursache. Die Politik, die Wirth und er betreiben, nennt man „Erfüllungspolitik“ – weil sie die Bestimmungen des Versailler Vertrages mindestens vordergründig anerkennt und umzusetzen – zu „erfüllen“ – versucht, anders als weite Teile der damaligen deutschen Rechten – Karl Helfferich allen voran –, die auf einen heroisch anmutenden, aber aussichtslosen Widerstand setzten. Natürlich will auch Rathenau so viel wie möglich des Versailles Ausplünderungs- und Drangsalierungskontrakts aushebeln, aber eben auf dem einzig offenen Wege, dem der geduldigen Verhandlungen. Dafür gilt er vielen als Feind, ja als Verräter, und es läuft der böse Kehrreim um: „Schlagt tot den Walther Rathenau / Die gottverdammte Judensau.“

Die Worte sind Realität geworden, Erfüllungspolitiker zu sein ist damals eine Gefahr für Leib und Leben. Rathenau weiß um diese Gefahr, der Erzberger-Mord liegt noch nicht lange zurück. Trotzdem nimmt er die Gefahr auf sich, ja fordert sie heraus, indem er die Polizisten, die ihn schützen sollen, immer öfter nach Hause schickt, auch an jenem schicksalhaften 24. Juni. Schlichte Tollkühnheit oder großspurige Eitelkeit oder der Versuch des bekennenden Furchtmenschen, den Mutigen zu spielen? Ein Stück störrischen Unabhängigkeitsdrangs? Oder liegt darin eine tiefergehende, melancholische Todessehnsucht? Die Indizienlage ist dünn; wir wollen die Frage hier offen lassen.

An besagtem 24. Juni fährt Rathenau wie jeden Morgen mit dem Auto in sein Ministerium. In der Königsallee wird sein Wagen von einem anderen Fahrzeug überholt, aus nächster Distanz wird Rathenau unter MG-Feuer genommen, auch eine Handgranate geworden. Der Chauffeur versucht noch einen Arzt zu erreichen, doch innerhalb weniger Minuten ist Rathenau tot.

Die Mörder – Hermann Fischer und Erwin Kern, beide bei der Verhaftung auf der Burg Saaleck erschossen – kommen aus der Organisation Consul, einer republikfeindlichen Terrorgruppierung, die aus der „Brigade Ehrhardt“, einem ehemaligen Freikorps, hervorgegangen ist. Über die Rangfolge der Motive ist lange gestritten worden – jene, die in diesem Mord den ersten Stein auf der Straße nach Auschwitz sehen wollen, betonen zuerst den Antisemitismus. Er hat sicher eine Rolle gespielt, aber das erste Ziel – so war das Echo damals – ist der Erfüllungspolitiker Rathenau gewesen.

Die große Seele

Die Trauerfeierlichkeiten anlässlich der Beisetzung am 27. Juni sprengen jeden bekannten Rahmen. Man muss sie wohl – und welch bittere Ironie liegt darin! – die größte Stunde der Republik nennen. Draußen marschiert die Arbeiterschaft, hunderttausende, Millionen sind auf den Straßen – und betrauern den Tod eines Schlossbesitzers und Großindustriellen. Drinnen im Reichstag ein förmliches Trauerzeremoniell, mit dem Sarg am Platz des Präsidentenstuhls und der Mutter mit versteinerter Miene in der Kaiserloge. Viele Trauerreden werden gehalten. Friedrich Ebert umreißt die Dimension des Verbrechens: „Die verruchte Tat traf nicht den Menschen Rathenau alleine, sie traf Deutschland in seiner Gesamtheit.“

Was bleibt von Walther Rathenau? Politisch ein jäh abgebrochenes Friedens- und Wiederaufbauwerk, das seine Nachfolger fortsetzten und dessen Früchte dann Hitler in die Hände fielen. Den meisten Geschichtsbüchern ist das nicht mehr als eine Fußnote wert. Aber in diesem kaleidoskopischem Leben steckt ja so unendlich mehr – die große Tragik einer Künstlernatur mit einer eingeborenen Abneigung gegen jede Verzweckung des Menschen, und doch mit großartiger Begabung zu zweckhaftem Tun in Industrie, Kriegswirtschaft und Politik gesegnet. Soviel innere Zerrissenheit, auch zwischen Judentum und Preußenbegeisterung, zwischen Patriotismus und Friedensliebe, soviel Melancholie und soviel Einsamkeit, und doch angesichts der Not des Vaterlandes die Entscheidung für die zweckhafte Politik – im Bewusstsein der begrenzten Möglichkeiten; ohne Aussicht auf Dank; unter Gefährdung, schließlich unter Aufopferung des eigenen Lebens. Will man sein Leben über alle Widersprüche und Wechselfälle hinweg als ganzes betrachten, so sieht man nur eines: eine große Seele.


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