Ende des Jugendwahns

Die Nominierung des 65jährigen Peer Steinbrück ist kein Anzeichen für die Vergreisung der SPD, sondern eines von mehreren positiven Beispielen, dass Erfahrung wieder etwas zählt.


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Es gehört zu den Absonderlichkeiten der Politik, dass bei Wahlen, die ja Personalentscheidungen sind, völlig andere Eigenschaften thematisiert werden als etwa bei der Besetzung von leitenden Positionen in Unternehmen. So spielt die vorherige berufliche Laufbahn nur eine marginale Rolle. Bei Peer Steinbrück etwa, nun seit zwei Wochen offiziell nominierter sozialdemokratischer Kanzlerkandidat, stehen ganz andere Fragen im Vordergrund: Wie er die bürgerlichen Wählerschichten ansprechen, wie er Bande zur FDP knüpfen und gleichzeitig die eigene Parteilinke im Zaum halte kann; wie sein offen-ehrliches, schnoddriges, gelegentlich arrogant wirkendes Auftreten auf Dauer im Volk ankommen wird; seine finanzpolitische Expertise spielt nur insofern eine Rolle, als er dieses Thema „besetzen“ und der Bundeskanzlerin damit eines ihrer Lieblingsspielfelder streitig machen kann. Kurzum, es sind im wesentlichen wahltaktische Aspekte, welche die Hauptstadtjournaille und die Parteistrategen umtreiben. Nach „Qualifikation“ im klassischen Sinne fragt man kaum, allenfalls in Nebensätzen. Und so erfährt auch der Wähler, wenn er nicht aktiv nachrecherchiert, nicht viel darüber, was den Nominierten denn fachlich für das angestrebte Amt geeignet erscheinen lässt.

Dabei hat der Kandidat eine nicht uninteressante Vita, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie weitgehend außerparlamentarisch verlief. Im wesentlichen hat sich Steinbrück zwanzig Jahre lang in exekutiven Ämtern – nicht Parteiämtern oder Mandaten – hochgedient, ehe er zumindest in der zweiten Reihe der hohen Politik angekommen war. Der studierte Volkswirt begann seine Laufbahn in verschiedenen Bonner Ministerien, durchlief das Bau- und das Forschungsressort, war dann gut zweieinhalb Jahre Hilfsreferent im Kanzleramt, wo er gelegentlich auch dem Bundeskanzler vortragen durfte. Nach dem Regierungswechsel 1982 arbeitete er zunächst einige Zeit als Referent für die SPD-Bundestagsfraktion, wechselte dann nach Nordrhein-Westfalen, wo er für vier Jahre – die längste Station bis dahin – Büroleiter von Ministerpräsident Johannes Rau wurde. 1990, mit 43 Jahren, nahm er erstmals eine hochrangige Ministerialposition ein, als Staatssekretär in Schleswig-Holstein, was er drei Jahre blieb, ehe er das Wirtschaftsministerium übernehmen durfte. 1998 ging er zurück an Rhein und Ruhr, zunächst in gleicher Position, dann als Finanzminister unter Wolfgang Clement, dem er nach dessen Weggang nach Berlin auch als Ministerpräsident nachfolgte. Gleich seine erste Landtagswahl verlor Steinbrück krachend, wurde dann in der Großen Koalition als Bundesfinanzminister berufen; seit dem Ausscheiden aus der Regierung ist er Bundestagsabgeordneter. Eine lange, wechselvolle Laufbahn alles in allem, mit klarem Schwerpunkt im Bereich Wirtschaft und Finanzen; ein wenig fällt die Vielzahl der Positionen auf, viele Ämter hat Steinbrück nur ein oder zwei Jahre lang ausgeübt, keines länger als fünf Jahre; was zumeist aber den Wechselfällen der großen Politik geschuldet war.

Gegen den Verjüngungstrend

Dies am Rande, denn wie gesagt, eine wesentliche Rolle bei der Auswahl des politischen Personals spielt der Lebenslauf nicht. Allenfalls gar zu offensichtliche Mängel werden gelegentlich Gegenstand der Diskussion; als der Jurist Markus Söder, dem man beim besten Willen keinerlei Neigung zum Zahlenhandwerk zusprechen konnte, plötzlich bayerischer Finanzminister werden sollte, hagelte es für eine kurze Zeit Hohn und Spott von Presse von Opposition. Aber ernstlich gehindert hat es bei der Besetzungsentscheidung niemanden. Meistens setzt man sich über solche Erwägungen mit dem Hinweis hinweg, ein Minister oder Regierungschef müsse ja nicht gleichzeitig sein bester Fachbeamter sein, sei vielmehr eine politische Figur mit der vorrangigen Aufgabe, seine Entscheidungen gegenüber Parlament und Öffentlichkeit zu erklären; seine Kommunikationsfähigkeiten seien darum wichtiger als seine fachlichen. Gewiss, anders als bei leitenden Unternehmensangestellten nimmt dieser öffentliche Kommunikationsaspekt bei Politikern großen Raum ein. Aber er ist doch nur ein Aspekt unter mehreren, wenn die Journaille auch häufig dazu neigt, in Überschätzung ihrer eigenen Wichtigkeit den sie betreffenden Teil mit dem Ganzen zu verwechseln. Politiker zu sein bedeutet, Politik zu erklären, aber bedeutet auch und noch viel mehr, Politik zu machen, zu entscheiden, zu führen; und führen kann man nicht ohne ein Mindestmaß an Sachkenntnis, will man nicht Marionette seiner Beamten werden.

Mit dem Kommunikationsaspekt, dem Verkaufen von Politik hängt nun freilich zusammen, dass ein Kennzeichen vieler Unternehmenskulturen auch in der Politik vorherrschend geworden ist: nämlich die Altersdiskriminierung, die in Firmen ganz andere Hintergründe hat. In der Politik, katalytisch verstärkt durch die immer schnellebiger werdende Medienwelt, gilt nämlich, dass wenig einen größerer Popularitätsvorteil bringt als das Image, jung, „frisch“ und „unverbraucht“ zu sein; je älter die Wähler selbst im demographischen Durchschnitt werden, offensichtlich umso mehr. (Selbst ganze Parteien, die Grünen etwa für lange Zeit, nun die Piraten, zogen und ziehen große Teile ihrer Sympathiewerte aus dem Gestus jugendlicher Unbekümmertheit.) Das Ergebnis ist, dass man immer mehr Politiker in der ersten Reihe findet, denen es offenkundig an politischer, beruflicher wie auch allgemeiner Lebenserfahrung mangelt; und man beobachtet, dass auch die Inhaber höchster Ämter immer jünger werden.

Wenn man nur einmal die Regierungschefs heranzieht: Konrad Adenauer war 73 Jahre alt, als er Bundeskanzler wurde; Ludwig Erhard noch 66, Kurt Georg Kiesinger 62, Willy Brandt und Helmut Schmidt jeweils 55, Helmut Kohl dann 52, Angela Merkel schließlich 51. So gesehen war außer dem weiland 54jährigen Gerhard Schröder bislang noch jeder neue Bundeskanzler „der jüngste aller Zeiten“. Nun, Anfang 50 ist immerhin noch ein stattliches Alter. In den weiteren Positionen häuften sich in jüngerer Zeit allerdings Fälle, die vermuten ließen, dass die Berliner Politik sich nicht mehr nur sprichwörtlich in Richtung Kindergarten bewege. Dreißigjährige Generalsekretäre, zweiunddreißigjährige Minister, achtunddreißigjährige Parteivorsitzende; ein damals noch als Lichtgestalt gefeierter Freiherr zu Guttenberg, den nach beachtlichen zwei Jahren Regierungserfahrung nur die Altersgrenze vom Bundespräsidenten- oder Ministerpräsidentenamt fernzuhalten schien. Bundestagsabgeordnete mit Anfang zwanzig, von der Schule direkt ins Plenum, sind ein ähnliches Kuriosum, während der Außenminister Westerwelle schon als zu entsorgende Altware galt, als er vorne noch eine Vier stehen hatte. Mit Christian Wulff wurde schließlich ein Mann von knapp über fünfzig zum Bundespräsidenten befördert, mit dem Ergebnis, dass ihm nun jahrzehntelang – und womöglich seiner erheblich jüngeren Gattin noch deutlich länger – ein Ehrensold zu zahlen ist.

Peer Steinbrück, sollte er die Wahl mit dann 66 Jahren gewinnen können, wäre ein Kontrapunkt zu dieser Entwicklung. Nicht der erste allerdings, denn die Anzeichen mehren sich, dass es mit dem Jugendwahn nicht ewig weitergehen kann. Aus der Causa Wulff ging als – diesmal wahrhaft – überparteilicher Bundespräsident der 72jährige Joachim Gauck hervor; in Bayern ließen die Sozialdemokraten es sich angelegen sein, den 64jährigen Christian Ude als Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt aufzustellen – nun, da sie erstmals seit langem zumindest eine kleine Chance auf die Regierungsübernahme haben und der Münchener Oberbürgermeister aus Altersgründen bald aus dem bisherigen Amt wird scheiden müssen. Umgekehrt sind gar zu viele der jugendlichen, früh hochgejubelten Lichtgestalten sehr gründlich gescheitert: der Freiherr zu Guttenberg gewiss an vielem, doch aber auch daran, in zu kurzer Zeit zu viel auf einmal, zu früh alles gewollt zu haben; Silvana Koch-Mehrin auf anderem Niveau ganz ähnlich; Norbert Röttgen, schwarz-grüner Hoffnungsträger von einst, wagte viel und verlor alles; Philipp Rösler klebt als Parodie seiner selbst zwar noch am Amt, aber jeder weiß, dass es der 67jährige Fraktionschef Brüderle ist, der allein das morsche FDP-Gebäude noch am Einsturz hindert.

Vorzüge des Alters

Und, kurz gesagt: Das ist auch gut so, denn Jugendlichkeit und frisches Auftreten sind nicht wirklich ernstzunehmende Qualifikationsmerkmale für Politiker in führender Stellung. Politik als Beruf hat, wie jede andere Branche auch, ihr individuelles Anforderungsprofil, und wenn Max Weber sagt, dass Politik das Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich ist, so gilt eben, dass das Augenmaß (und die Urteilskraft) mit der Zeit und mit größerer Lebenserfahrung in der Regel zunimmt. Es gibt Berufe, in denen das anders ist, im Hochleistungsport natürlich, aber auch in den Fächern, die sehr viel geistigen Hochleistungssport mit sich bringen, die Mathematik etwa oder die theoretische Physik. Der Mensch ist, biologisch bedingt, nun einmal mit fünfundzwanzig kognitiv leistungsfähiger als mit fünfundvierzig. Aber denkerische Höchstleistungen sind nicht das, was ihr Beruf den Politikern abfordert; zu viel Intelligenz, jedenfalls zu viel Intellektualität kann sogar eher schädlich sein, wenn sie dazu führt, dass man meint, man käme aufgrund verstandesmäßiger Abstraktionsfähigkeit ohne praktische Erfahrung aus.

Junge, unerfahrene Menschen sind in aller Regel unwissender als ältere, erfahrenere, und gerade deshalb viel häufiger in simplifizierende, alle Detailsachkenntnis zu nebensächlichem Zierwerk herabstufende Ideologien verbohrt. Ein gläubiger Marxist etwa muss nur wenig wissen: Einige Werke des großen Meisters muss er gelesen haben und mit dessen Begriffen hantieren können – historischer Materialismus, Mehrwerttheorie, Konzentrationstheorie, Verelendungstheorie, entfremdete Arbeit, Expropriation der Expropriateure und so fort – und alles Geschehen in der Welt in das eindimensionale Deutungsmuster zwängen: Alle Geschichte ist eine Abfolge von Klassenkämpfen; wer das Gegenteil behauptet, weiß es nicht besser, sondern ist ein Schwindler, oder sein Bewusstsein wird durch sein soziales Sein vernebelt. (Die meisten kommen von dieser Haltung glücklicherweise später wieder herunter, aber eben nicht durch intellektuelle Einsicht, sondern durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit. Nur insofern gilt Tucholskys berühmter Satz, wer mit 20 kein Kommunist sei, habe kein Herz, wer mit 40 immer noch Kommunist ist, habe keinen Verstand. Und deshalb, notabene, ist es auch Unfug, wie gelegentlich diskutiert, das Wahlalter noch weiter herabsenken zu wollen und zu meinen, wer nicht voll strafmündig und zu unreif zum Autofahren sein, solle doch wenigstens wählen dürfen.)

Solches unwissend-theoretisierendes und ideologisiertes Personal findet sich bevorzugt unter den Studenten und in den Jugendorganisationen der Parteien, von denen die mit praktischen Sachfragen befassten aktiven Regierungspolitiker oft genug nur noch genervt sind. Steinbrück etwa hat, in der ihm eigenen schnoddrigen Art, sich nicht gescheut, das den SPD-Jungsozialisten deutlich ins Gebetbuch zu schreiben. „Letzthin las ich ein Strategiepapier der Jusos mit dem Titel ‚Für eine Linke der Zukunft‘, das unter dem Vorsitz der damaligen Vorsitzenden, Franziska Drohsel, auf einem Juso-Kongress im Juni 2008 mit einer ‚breiten Zustimmung‘ verabschiedet wurde. Es erhebt den demokratischen Sozialismus zum Ziel und ruft zur Überwindung des Kapitalismus auf. Die nach eigenem Bekenntnis marxistisch inspirierten Thesen sollen in die inhaltliche Arbeit der SPD einfließen. Ausdrücklich wird angeraten, das Gespräch mit Vertretern linksradikaler Gruppen zu suchen und ‚die Scheuklappen gegenüber der Linkspartei‘ aufzugeben. Ich verstehe, dass die Jusos mehr sein wollen als die Plakatkleber der Mutterpartei, dass es ihnen darum geht, sich eine eigenständige linke Identität neben der SPD zu geben. Aber das entlastet sie selbst und die Parteispitze der SPD nicht von der Frage, ob diese pseudorevolutionäre Position eigentlich repräsentativ für die gesamte Nachwuchsorganisation ist oder nicht vielmehr unter dem Einfluss einer spezifischen Strömung zustande kommt, die sich kaderähnlich gegen ein tatsächlich sehr viel breiteres Spektrum von Meinungen, Werten und Haltungen durchzusetzen vermag. Spricht man mit Jusos, die in Wahlkämpfen ackern und Veranstaltungen organisieren, dann hat man den Eindruck von Parallelwelten in ein und derselben Organisation.“

Freilich, das Zitat stammt aus seinem Buch „Unterm Strich“ und entstand vor rund zwei Jahren, als Steinbrück sich noch auf dem politischen Abstellgleis wähnte. Heute, im Wahlkampf darauf angewiesen, dass die jungen „Kader“ ihn unterstützen oder doch mindestens nicht zu sehr querschießen, könnte er dergleichen wahrscheinlich nicht mehr schreiben.

Neue Lebensmodelle sind gefragt

Es bleibt aber wahr, dass Jugend allein kein Vorteil, für die hohen Positionen wegen mangelnder Lebens-, Berufs- und Führungserfahrung sogar ein Nachteil ist. Es ist schlicht kein massentaugliches Modell, mit Anfang zwanzig schon berufsmäßiger Politiker, vielleicht gar Parlamentarier, mit Anfang dreißig schon hoher Parteifunktionär oder gar Minister, mit Anfang vierzig Parteivorsitzender oder Ministerpräsident, spätestens mit Anfang fünfzig Bundeskanzler oder -präsident sein zu müssen. Ausnahmen gibt es immer, Genies ab und zu; aber selten. Durchgeplante Politkarrieren mit früher Festlegung auf die Politik als einzigen Beruf und das Ziel, darin möglichst schnell aufzusteigen, sind auch deshalb von Nachteil, weil von früher Jugend auf gebildete innerparteiliche Gruppierungen dazu neigen, sich nach außen abzukapseln und Quereinsteiger nicht mehr zuzulassen – erfolgreiche Professoren etwa oder Unternehmer, die nach ihren beruflichen Erfolgen sich politisch engagieren wollen. „Im Bundestag“, meint Steinbrück einmal im Gespräch mit Helmut Schmidt, „sind ehemalige oder immer noch aktive Vertreter des öffentlichen Dienstes überproportional vertreten. Die Bandbreite beruflicher Erfahrungen müsste größer sein, wenn dort der ökonomische und gesellschaftliche Wandel abgebildet werden soll. Besonders selten sind Quereinsteiger. In den Parteien findet sich stattdessen häufig ein Politikertypus, der angepasst Parteikarriere betrieben hat, schon in den Jugendorganisationen auf ein Mandat hinsteuerte und über diesen Anpassungskurs an parteiverträgliche Positionen leicht realitätsblind für Veränderungen außerhalb seiner Partei werden kann.“

Freilich ist in der Lebensplanung sehr vieler auch außerhalb der Politik einiges durcheinandergeraten. Es ist ja ein sehr merkwürdiges gesellschaftliches Phänomen, dass, obwohl die Lebenserwartung sich ständig erhöht hat und das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt, das Leben der meisten sich mehr und mehr zu verdichten scheint auf die Phase zwischen 30 und 40, die neuerdings so genannte Rush Hour des Lebens. Die Ausbildungszeiten haben sich verlängert, Berufseinstieg und Familiengründung geschehen später, während sich die Karrierestufen verschoben haben und man für manche Top-Position schon als zu alt gilt, wenn man deutlich über vierzig ist. Insofern wäre es auch gesamtgesellschaftlich ein sehr nützliches Signal, wenn wenigstens in der Politik alsbald Schluss wäre mit der Alterdiskriminierung. Die Alten werden gebraucht – heute mehr denn je.


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