Endzeit

Eine Stadt geht vor die Hunde, und der beobachtende Moralist geht mit ihr. Beständig zwischen Fatalismus und dringender Warnung changiert Erich Kästners Roman Fabian. Ewige Wahrheiten bietet er nicht, aber eine treffende Zeitdiagnose.


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In Berlin erlebte Erich Kästner seine schriftstellerisch beste Zeit – und beschrieb doch eindrücklich, wie schlecht es da schon stand um die Stadt.

Berlin spielt in so manchem eine Sonderrolle in den 1920er Jahren. Deutschlands Koordinatensystem hatte sich verschoben in republikanischen Zeiten; München, Stuttgart, Dresden und viele mittelgroße Städte verloren mit den Monarchen ihre Funktion als Residenzen, damit die Hofkultur, die traditionelle Förderung von Kunst und Architektur durch repräsentationsfreudige Fürsten. Die neue Verfassung beschnitt die Länderzuständigkeiten. Berlin wurde, mehr als vorher und nachher, Zentrum, politisch, kulturell, und wuchs in der Wahrnehmung nun erst eigentlich zur Weltstadt heran. An Berlin schieden sich die Geister. Die für die neue Ordnung waren, sahen das Bunte, Kreative, die Künstleravantgarde, das Aufblühen der Cabarets, Kinos und Theater; denen die ganze Richtung nicht passte, die sahen Unordnung, Unmoral, die Mafiakriminalität der Ringvereine und den sittlichen Verfall. Berlin war für sie das Sündenbabel, sein Nachtleben zumal.

„Der Mondschein und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuss im Torbogen sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum Schluss bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen oder sonst wie übers Ohr hauen. In einer Nebenstraße gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte, ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider seine Tochter, und das hatte er nicht erwartet … Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie noch fast wie einst. Hinsichtlich ihrer Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.“

 

Im Fieber

Erich Kästner (1899-1974)

Der die Stadt so beschrieb, vor dem Untergang warnen wollte, welcher drohte, und nach ihm die Herrschaft der Dummheit – dieser Autor hatte in jenem Berlin seine größte, produktivste Zeit. In ungefähr fünf Jahren, von 1927 bis 1932, schrieb Erich Kästner mehr und bessere Bücher und Gedichte als je vorher und nachher; jenen Jahren, in denen zur neuen Freizügigkeit, die es unter Kaiser Wilhelm nicht gegeben hatte, noch Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit hinzukamen und die materielle Not moralische Verfallserscheinungen sich verdichten ließ – Raub, Hehlerei, minderjährige Prostituierte und Bettler mit Latinum. Die Stadt war im Fieber, an sich selber leidend; der Mann im Arbeitsfieber, und sehr zum Guten. Trotzdem, als Moralist wollte er warnen vor dem Verfall der Stadt, die er liebte. Neben seinen Gedichten tat er das in einem einzigen Roman: dem Fabian von 1931.

Auch hier eine Sonderrolle. Kästners Werk ist ja merkwürdig zweigeteilt. In breiter Erinnerung geblieben sind die Kinderbücher des verhinderten Lehrers: Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton, das fliegende Klassenzimmer; daneben die Lyrik, gesellschaftskritische, oft pazifistische, mit defätistischem Unterton, vom Land, in dem die Kanonen blühen, davon, dass zum Glück die Deutschen den Weltkrieg nicht gewannen – weshalb man Kästner nach 1933 zur Persona non grata erklärte und seine Bücher verbrannte. Freilich, auch die Kinderbücher sind nicht typisch; ein wenig wie bei Dürrenmatt das Werk sich teilt in die Bühnenstücke und die Kriminalromane, die Romane aber sehr eigen, gegen die Konventionen des Genres angeschrieben sind. Kästners Kinderbücher behandeln die Kinder im Grunde wie Erwachsene, freilich oft mit besseren moralischen Maßstäben, sie sind nicht in hohem Ton, sondern in Alltagssprache geschrieben, oft mit Gassenjargon, und sie spielen nicht in ferner Vergangenheit oder in einer Märchenwelt, sondern in der großstädtischen Gegenwart.

 

 

Moralist auf Orientierungssuche

Dort lebt auch der Fabian. Genauer Dr. Jakob Fabian, ein „Moralist“, der sich Ende der zwanziger Jahre in Berlin mit Propaganda, das heißt damals: als Reklametexter mühsam über Wasser hält. Moralist heißt nicht, dass er das Geschehen in der Stadt nur beobachtet. Er steckt mittendrin, ist durchaus kein Kostverächter, „hatte sich nachts fleißig umgetan“; tatsächlich macht die Geschichte seiner nächtlichen Eroberungen einen guten Teil des Buches aus. Fabian denkt nicht, die Welt im Ganzen verbessern zu können, ist kein Ideologe, der an eine der diesseitigen Erlösungsreligionen glaubt, die damals im Umlauf sind. Frei von Illusionen, ist er noch nicht zum Zyniker geworden wie manch schreibender Kollege – „seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er lügt.“ Von den alltäglichen Ungerechtigkeiten ist er abgestoßen, müht sich, anständig durchs Leben zu kommen; so recht freilich fehlt dem Moralismus der Gegenstand. Politik kommt nur am Rande vor, hier eine Rede des Reichskanzlers, dort eine nächtliche Schießerei zwischen Nazis und Kommunisten, dann mal ein alter Schulkamerad, der beim Stahlhelm gelandet ist – das war es schon. Im Privaten fehlt es Fabian an Bindung; keine Frau, keine Kinder, die Arbeit ist bloß Broterwerb; vielleicht Nebenfolge der Gesamtlage, „ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit“. Im Grunde sucht er, der schon über dreißig ist, noch Orientierung. „Ich will endlich ein Ziel vor Augen haben.“ Als doch einmal eines am Horizont erscheint, gerät sein ganzes Leben ins Rutschen.

In Fabians Geschichte steckt, wie in den Kinderbüchern, viel von Kästner selber. Die starke Mutter; das Trauma des Krieges, mit siebzehn schon, der brutale Ausbilder, der Verlust vieler Freunde; später die Promotion als Germanist, der Brotberuf als Werbetexter; auch die vielen Frauengeschichten. Kästner meinte selbst einmal, er sei ein gekränkter Idylliker, gekränkt durch böse Erfahrung, die ihn zu zornigen Versen zwang, die ihm im Grunde nicht lagen. Wenn er mehr nicht tun konnte – „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ – wollte er wenigstens warnen. Als solche Warnung hat er den Fabian später gedeutet, als Zerrspiegel, Satire, die er dem Berlin seiner Zeit vorhielt, in dem er selber ja doch so produktiv und wirksam war. Dass Berlin nicht typisch ist, zeigt im Roman eine Reise in die Provinz, Fabians Heimatstadt. „Hier hatte Deutschland kein Fieber. Hier hatte es Untertemperatur.“ Wobei das Berliner Fieber über das, was Georg Simmel einmal als typische „Steigerung des Nervenlebens“ bei den Großstädtern diagnostizierte, wiederum deutlich hinausging. Kästner gibt, wie Döblin im „Alexanderplatz“, eine örtliche, keine Gesamtdiagnose, warnt auch mehr vor dem Verfall dessen, was ist, als vor dem, was kommt.

 

 

Immer dagegen

Was kam, erlebte er selber; für viele überraschend, blieb er 1933 im Land, beobachtete die Verbrennung seiner eigenen Bücher. Man belegte ihn reichsweit mit Publikationsverbot, er konnte aber weiterhin schreiben, Bücher in der Schweiz veröffentlichen und, unter Pseudonym, auch manches Drehbuch für den deutschen Film, etwa den Münchhausen mit Hans Albers. Dem Regime unterwarf er sich nicht. Nach dem Krieg lebte er in München; dort warnte er direkter, politischer, als Pazifist vor der Wiederbewaffnung, als Literat vor allem, was er als Einschränkung der Publikationsfreiheit sah, gegen Jugendschutzgesetze, gegen die Verhaftung Augsteins in der SPIEGEL-Affäre. Im Vorwort zur Nachkriegsausgabe des Fabian warnt Kästner vor sehr alten Mächten, die wieder standardisierte Meinungen verbreiten wollten; trotz mancher Spießigkeiten der fünfziger Jahre, in denen Kästner nicht recht glücklich war, wohl arg überzogen und ein Zeichen wachsenden Altersradikalismus. Der Moralist ist nun ein wenig Pose. „Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten.“

Zu viel Prophetie sollte man in den Fabian nicht hineinlesen; das wäre nachträgliche Stilisierung. Er erzählt weniger vom drohenden Unheil als vom seelischen Verfall einer Stadt und einem, der hilflos danebensteht. Wie reif Berlin 1933 schon war für den Untergang, der dann kam, das allerdings kann man aus Kästners Karikatur dieser Zeit deutlich herauslesen.

 

Das Buch

Erich Kästner: Fabian. Geschichte eines Moralisten. Erstveröffentlichung 1931. Hier verwendete Ausgabe: Atrium Verlag Zürich, 2017, 270s.


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