Es ist Zeit für die Berufsarmee

Die vom deutschen Verteidigungsminister Freiherr zu Guttenberg etwas plötzlich angekündigte „ergebnisoffene“ Prüfung einer Aussetzung der Wehrpflicht ist bei den beiden großen Volksparteien auf wenig Zustimmung gestoßen. Die Skeptiker spielten in der bisherigen Debatte meist auf dem klassischen Argumentationsinstrumentarium und beschworen nostalgisch den Staatsbürger in Uniform und die Einheit von Armee und Volk. Bis die Experten im Herbst ihr – absehbares – Urteil abgeben, bleibt dem Minister noch Zeit für Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen. Denn Guttenberg liegt richtig: Als militärisches Instrument hat sich die Wehrpflicht überlebt.


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Es ist eine schöne Legende, die sich die Wehrpflichtverteidiger im Lauf der Jahre zusammengezimmert haben: Von der Musterform der Demokratie, in der jeder Staatsbürger seinen Beitrag zum Schutz des Gemeinwesens leistet, dient und so auch die Armee vom demokratisch-staatsbürgerlichen Geist getragen ist. Geboren im Zuge der Französischen Revolution, als Ablösung der marodierenden Söldnerheere des Dreißigjährigen Krieges und der von Gängelung und Kadavergehorsam geprägten stehenden Heere der Fürsten, als denkende Bürgerarmeen der „levée en masse“, die mit echter Motivation für ihr Land und ihre Freiheit einstehen und ihre Überlegenheit immer wieder demonstrierten, angefangen mit jener legendären Kanonade von Valmy, in der mit Preußen und Österreich die Reaktion besiegt und das Ende des Alten Europa eingeläutet wurde.

Allein: Es ist eine Legende; historisch wie praktisch. Die französische Republik ging alsbald ins autoritäre Kaisertum Napoleons über, ohne dass sich an der Wehrform, an Erfolg oder Motivation der Truppen etwas änderte. Die Massenarmeen der anderen Seite von 1813/14 befreiten ihre Länder von den Besatzern, sicherten aber, vorsichtige Reformen hin oder her, zugleich die Macht absolutistischer Fürsten. Ältere und erfolgreichere Demokratien als die deutsche, die amerikanische etwa oder die britische, sind in weiten Teilen ihrer Geschichte ohne Wehrpflicht ausgekommen. Die schreckenverbreitenden Heere der Tyranneien des 20. Jahrhunderts waren umgekehrt allesamt Wehrpflichtarmeen. Einen erkennbaren Zusammenhang zwischen Wehrform und Regierungsform gibt es nicht. Welche Armee geeigneter ist, ist allein eine Frage der gesamtstrategischen Lage und der aktuellen Waffentechnik. Alles andere, so schön es klingt, bleibt Legende.

Daran rüttelt nun auch der junge Verteidigungsminister; und er zeigt Mut damit. Es wird seine erste echte politische Herausforderung, denn gerade in der eigenen Partei ist die Wehrpflicht am stärksten verankert. Bisher bleibt er in seinen Formulierungen vorsichtig, spricht sich nicht explizit für die Berufsarmee aus, betont, dass die Wehrpflicht im Grundgesetz der Form nach erhalten bleiben solle, spielt öffentlich mit dem Gedanken einer allgemeinen Dienstpflicht, aus der man einen deutlich reduzierten Wehrpflichtigenanteil generieren könnte, wie ihn vor Jahren schon die Weizsäcker-Kommission vorschlug (und damit auf taube Ohren stieß). Die Rhetorik ist noch zaghaft; der Weg aber ist unverkennbar. Guttenbergs Bundeswehrstrukturkommission, in ungewöhnlicher Besetzung mit vielen Zivilisten und ohne militärische Traditionalisten, wird im Herbst den Einstieg in den Ausstieg empfehlen. Und das ist gut so.

Die Bundeswehr ist keine Armee der Landesverteidigung mehr, deren einzige potentielle Aufgabe darin bestand, den Ansturm riesiger russischer Panzerarmeen in der norddeutschen Tiefebene mit einem massiven Aufgebot an Artillerie, Jagdbombern, Mardern und Leoparden aufzuhalten; die im Ernstfall auf eine Mannstärke über einer Millionen aufwachsen und auf ein großes Reservoir militärisch ausgebildeter Männer zurückgreifen können musste. Diese Bedrohung hat sich historisch erledigt, und sie wird nicht wiederkehren. Deutschland, ja ganz Europa ist für niemanden mehr potentielles Angriffsziel; es verfügt nicht über begehrenswerte Rohstoffe oder strategisch bedeutende Territorien, und eine feindselige Ideologie wie der Kommunismus, die sich dorthin gewaltsam ausbreiten möchte, gibt es nicht und ist nirgendwo am Horizont zu erkennen.

Stattdessen befindet sich die Bundeswehr permanent in vielen kleineren Einsätzen, weit über den Globus verstreut, jeweils mit eigenen, sehr spezifischen Anforderungen, für die die alten Organisationseinheiten, mechanisierte Divisionen und Brigaden, nicht mehr passen. Die meisten ihrer Panzer hat die Bundeswehr folgerichtig denn auch eingemottet; viele der alten Strukturen aber sind geblieben, was die Einsatzfähigkeit massiv beeinträchtigt. Bei knapp 10.000 gleichzeitig eingesetzten Soldaten, 4 % der Gesamtstärke, liegt die Obergrenze; peinlich niedrig, nicht nur im Vergleich mit den großmächtigen Amerikanern, sondern auch mit Franzosen und Briten. Das liegt auch an der Wehrpflicht: Wehrpflichtige lassen sich nicht nur politisch nicht im Auslandseinsatz verwenden; in der Kürze der Dienstzeit können sie auch nicht die notwendige Ausbildung erlangen für die immer stärker technisierten und professionalisierten Einsätze. Sie binden aber zehntausende Zeit- und Berufssoldaten, die sie ausbilden, kommandieren, versorgen und verwalten. Im Hinblick auf das Einsatzprofil, das sich in den nächsten Jahrzehnten nicht grundlegend verändern wird, ist die Wehrpflicht ineffizient, und in Zeiten immer knapperer Kassen heißt das: Sie ist ein Hemmschuh; ein staatspolitischer Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.

Alles andere sind nachgelagerte, sekundäre Argumente. Die Hauptaufgabe einer Armee ist nicht, besonders stark in die Gesellschaft eingewoben und besonders populär zu sein. Schön, wenn es so ist; aber in erster Linie hat sie ihrem militärischen Auftrag gerecht zu werden. Freilich: Auch was den Zusammenhalt von Armee und Gesellschaft angeht,  kann man den Zusammenhang mit der Wehrform bezweifeln. Amerikanische, britische oder französische Streitkräfte paradieren an Nationalfeiertagen durch die Hauptstädte, während im Wehrpflichtland Deutschland Rekrutengelöbnisse häufiger einmal unter Polizeischutz stattfinden müssen. Höher als bei den Alliierten mit Berufsheer ist die gesellschaftliche Identifikation mit der Armee bei uns gewiss nicht. Es sind andere Stellschrauben, an denen hier gedreht werden muss.

Auch die Nachwuchswerbung kann an dieser Stelle kein Argument sein. Gewiss, die Wehrpflicht erleichtert es der Bundeswehr, aus den vielen Dienenden die wenigen zu rekrutieren, die sie als Zeit- und Berufssoldaten braucht. Aber das alleine genügt nicht. Roman Herzog hat, als er noch Bundespräsident war, in seiner mittlerweile berühmten Rede vor der Führungsakademie der Bundeswehr deutlich ausgeführt, dass die Wehrpflicht nur in Zeiten wirklicher militärischer Bedrohung verfassungsrechtlich zu halten ist. Jährlich zehntausende junger Männer einzuziehen, nur damit einige von ihnen sich weiterverpflichten und in fernen Einsätzen dienen, während die große Mehrheit ein militärisch sinnfreies Wald-und-Wiesen-Praktikum absolviert, ist nicht legitim. Natürlich: Die Nachwuchswerbung ohne Wehrpflicht wird entsprechend schwierig und auch teuer; Werbeaktionen und verbesserte Rahmenbedingungen für die Berufssoldaten tun not. Eine Berufsarmee, darüber darf man sich keine Illusionen machen, ist nicht kostengünstiger als eine Wehrpflichtarmee. Aber im Hinblick auf die Einsatzziele ist sie effizienter, denn die Soldaten, die man rekrutiert, sind dann auch einsatzfähig und die Gelder entsprechend gut investiert.

Wie sich die soziale Zusammensetzung der Armee verändern wird, lässt sich im vorhinein nicht sagen. Vieles spricht dafür, dass sie, ähnlich etwa zur amerikanischen Armee, vorsichtig ausgedrückt nicht gerade eine Domäne der bildungsaffinen Oberschicht sein wird. Das mag man als Nachteil betrachten; man sollte aber nicht übersehen, dass der Sprung zum Ist-Stand nicht gar zu groß ist. Bereits jetzt sind die Verweigerungsraten unter Abiturienten überproportional hoch, kommen große Teile des Unteroffiziernachwuchses aus unteren sozialen Schichten und strukturschwachen Regionen. Bereits jetzt gehen aufgrund der vielen Umgehungsmöglichkeiten – die absichtlich geschaffen sind, um eine scheinbar hohe Ausschöpfungsquote beim Rest und damit den Anschein von Wehrgerechtigkeit zu erhalten – im Wesentlichen nur noch diejenigen zum Bund gehen, die es auch wollen. Und auch hier gilt: Hauptaufgabe einer Armee ist nicht, ein perfekter Spiegel der Gesellschaft zu sein und alle Schichten abzudecken. Ihre Hauptaufgabe ist, den militärischen Auftrag zu erfüllen. Und dafür muss sie nicht die Bildungselite des Landes sein.

Solche nüchternen Erwägungen haben zu Guttenberg, im Herzen eigentlich ein Freund der Wehrpflicht, zur Umkehr bewogen; die Sparzwänge haben die Kehrtwende beschleunigt. Zu wünschen ist ihm, dass er die Zeit bekommt und das Stehvermögen besitzt, seine Linie durchzuhalten und die wichtigen Weichen unumkehrbar zu stellen. Denn es ist nicht die erste Reformkommission, nicht die erste Strukturveränderung seit dem Ende des Kalten Krieges; die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre mahnen zur Skepsis. Freilich: So viel Hoffnung wie jetzt war selten.


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