Ethik des Politischen

​ Rezension zu: Ingeborg G. Gabriel: Ethik des Politischen. Grundlagen, Prinzipien, Konkretionen, Würzburg: Echter 2021, ISBN 978-3-429-05377-2, 284 Seiten, € 19,90 (D), 20,50 (A). Politik sei „in den vergangenen Jahren vielfach ein Randthema“ (5) gewesen, vermerkt Ingeborg G. Gabriel im Vorwort ihres Bandes und verweist als Grund auf die Stabilität der liberalen Demokratie in den

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Rezension zu: Ingeborg G. Gabriel: Ethik des Politischen. Grundlagen, Prinzipien, Konkretionen, Würzburg: Echter 2021, ISBN 978-3-429-05377-2, 284 Seiten, € 19,90 (D), 20,50 (A).

Politik sei „in den vergangenen Jahren vielfach ein Randthema“ (5) gewesen, vermerkt Ingeborg G. Gabriel im Vorwort ihres Bandes und verweist als Grund auf die Stabilität der liberalen Demokratie in den westlichen Industriestaaten. Diese Überzeugung sei mittlerweile erschüttert. Die Diagnose der emeritierten Wiener Sozialethikerin spricht dafür, eine Bestandsaufnahme der politischen Ethik vorzunehmen. Der vorliegende Band bündelt Vorarbeiten der Autorin, die um Beiträge zu aktuellen Enwicklungen ergänzt wurden. Immer wieder werden dabei die Bezüge zwischen politischen und religiösen Fragen ausgeleuchtet, etwa das Menschenrechtsverständnis im Katholizismus oder das Verhältnis zwischen Christentum und Demokratie.

Drei Kontexte, welche die Teilpraxis des Politischen aktuell prägen, leiten die Überlegungen des Bandes: Globalisierung, Entsäkularisierung und die Folgelasten der Totalitarismen. Diese Fokussierung legt den Anspruch fest, an dem sich Gabriels Überlegungen messen lassen müssen.

I. Der erste Teil des Bandes beleuchtet die Grundlagen liberaler Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit: Menschenrechte, Demokratie und Nation.

Gabriel vertritt ein holistisches Verständnis der Menschenrechte, warnt aber davor, diese mit zu hohen politischen Erwartungen zu überfrachten. Gerade die Theologie wisse darum, dass die Menschenrechte zwar ein wichtiges Projekt seien, das aber von seinem Charakter her unvollendet und aufgrund der Begrenzungen der conditio humana auch unvollendbar gedacht werden müsse. Demokratietheoretisch hegt Gabriel starke Sympathien für Entwürfe einer „Welt-Demokratie“ und Weltrechtsordnung.

Die Aussagen zur Bedeutung der Nation und des Nationalstaates bleiben zwiespältig: Letzterer stelle sozialethisch sowohl ein Gut als auch ein Übel dar. Ein Selbstzweck der Nation wird deutlich verneint. Der bleibenden, dienenden Bedeutung des Nationalstaates für ein geordnetes politisches Zusammenleben stellt die Autorin Defizite einer weltweiten Menschenrechtsordnung gegenüber: „Ein universaler Humanismus, wie er den Menschenrechten zugrunde liegt, braucht zu seiner politischen Realisierung einen Weltstaat“ (112).

Das kommunistische Erbe, das als eine historische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne verstanden werden könne, wirke in einem „Kampf der Erinnerungen“ (125) fort. Selbstkritisch sollten sich Kirche und Theologie fragen, warum es dem Christentum so schwer gefallen sei, die eigene Fortschrittshoffnung in der Gestaltung der industriellen Moderne zum Tragen zu bringen. Europapolitisch plädiert Gabriel dafür, die Bemühungen um eine gemeinsame Geschichtsdeutung zwischen Ost und West zu verstärken.

Laizistische Positionen sind Gabriels Sache nicht. Doch bildeten, wie sie betont, das Recht auf Religionsfreiheit und ein gesellschaftlich-politischer Pluralismus gleichsam zwei Seiten ein und derselben Medaille. Um ein friedliches Zusammenleben müsse immer wieder neu gerungen werden. Ein ziviles Ethos verlange religiösen wie säkularen Akteuren eine Haltung der Selbstbeschränkung, Selbstreflexivität und die Verpflichtung zur rationalen Argumentation im öffentlichen Raum ab. Unter diesen Voraussetzungen könne Religion ethische Debatten im politischen Raum bereichern.

II. Der zweite Teil reflektiert auf sozialethische Prinzipien, die für politisches Handeln zentral seien. Diese verhielten sich interdependent zueinander. Normative Prinzipien ermöglichten Orientierung bei der Entscheidung konkreter Problemlagen, und zwar sowohl bei individualethischen Handlungsentscheidungen als auch bei der sozialstrukturellen Gestaltung des politischen Zusammenlebens. Entsprechend wird bei Darstellung der einzelnen Prinzipien jeweils nach dessen individual- wie sozialethischer Bedeutung gefragt. Vorgestellt werden das Personprinzip und in – wichtiger – Verbindung damit das neuzeitliche Freiheitsverständnis, Solidarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit und Versöhnung.

„Laudato si‘“ wird im Rahmen der verhandelten Prinzipien als Gemeinwohlenzyklika vorgestellt, wobei wiederum eine globale Perspektive stark gemacht wird: „Die globale Reichweite sowie Interdependenz von Umweltfragen und sozialen Fragen stellen letztlich vor die Frage nach dem Weltgemeinwohl“ (S. 165). Die natürliche Umwelt sei ein öffentliches Gut, ihre globale Überbeanspruchung stelle geradezu exemplarisch eine Gemeinwohlfrage dar. Nach der angemessenen Verwirklichung des Gemeinwohls zu streben, sei in liberalen Staatsordnungen keinesfalls allein ein Auftrag politischer Amtsträger, sondern bleibe eine Aufgabe der gesamten Zivilgesellschaft.

III. Den abschließenden dritten Teil des Bandes bilden drei Einzelstudien zu den Herausforderungen Migration, Terror und Welternährung.

Migrationsethisch plädiert Gabriel für einen „itinerativen Universalismus“. Dieser setze eine stärkere Kooperation von der internationalen über die europäische bis zur nationalen Ebene voraus. Auch hier seien die gesellschaftlichen Akteure in die Pflicht zu nehmen. Der Umgang mit Migration bleibt für die Autorin eine entscheidende Haltungsfrage: „Wie alle politischen Fragen basieren jene von Migration und Asyl auf individuellen Einstellungen, Haltungen und Überzeugungen, die gerade auch aufgrund der sozialen Medien heute um vieles stärker zum Tragen kommen als früher“ (S. 221). Diese Linie setzt sich fort, wenn die Autorin mehr politische Bildung, die Ausbildung von Mediatoren, die Stärkung moderater Strömungen innerhalb des Islam und interreligiösen Dialog als wichtige Maßnahmen zur Terrorprävention vorschlägt.

Gabriels Zugang zur Politikethik überzeugt vor allem durch seinen Blick auf die Produktivkräfte der Religion für die Gestaltung des politischen Zusammenlebens, die Frage nach den Folgelasten des kommunistischen Totalitarismus (dessen ideengeschichtlich reales Nachwirken bis heute aber vermutlich zu gering eingeschätzt wird) und eine Verzahnung von sozial-, struktur- und individualethischen Fragen, nicht zuletzt bei Einführung der vorgestellten Prinzipien zum Umgang mit ethischen Wertkonflikten innerhalb der politischen Teilpraxis.

Politische Herausforderungen wie Migration oder Terrorabwehr werden nicht allein über Haltungsveränderungen gelöst werden können. Genuin politische Fragen innerer und äußerer Sicherheit werden von der Autorin, gerade migrationsethisch, zu schwach gewichtet. Nicht überzeugend wirkt im Band, nationale und religiöse Dynamiken gemeinsam unter dem Signum Entsäkularisierung zu verhandeln; eine solche konzeptionelle Entscheidung zu plausibilieren, hätte von der Autorin mehr Begründungsarbeit verlangt.

Gesicherte Staatlichkeit ist kein fester Besitzstand, um sie muss immer wieder neu gerungen werden. Doch nur ein handlungsfähiger Staat wird auf Dauer auch Menschenrecht, soziale Sicherheit und kulturellen Frieden garantieren können. Wenn dem so ist, würde die Sozialethik vor der Aufgabe stehen, den Nationalstaat nicht zu überwinden, sondern zu gestalten. Wer den Nationalstaat hingegen fahrlässig preisgibt, nimmt dem Gemeinwesen ein hohes Maß an Steuerungsfähigkeit und Solidaritätsbereitschaft, das so schnell nicht zu ersetzen sein wird.

Offene Fragen hinterlässt der Band dann auch gerade bei der Zuordnung von nationalstaatlichen und globalen Gestaltungsaufgaben. Dass internationale Zusammenarbeit unverzichtbar ist, bleibt unbestritten. Der vorliegende Band erweckt aber den Eindruck, nationalstaatliche politische Prozeduren könnten universalisiert und auf die Weltebene übertragen werden. Wenn Gabriel auf Konzepte einer „Weltrepublik“ oder globalen Demokratie rekurriert, bleibt letztlich fraglich, wie politische Öffentlichkeit, Repräsentation und Machtkontrolle auf globaler Ebene überzeugend organisiert werden können. Gerade der Umgang mit globaler Machtkonzentration ist alles andere als trivial. In einer „Weltdemokratie“ gebe es letztlich keine Möglichkeit mehr zum Asyl. Und gewalttätige Konflikte trügen die Gefahr harter und langanhaltender bürgerkriegsähnlicher Zustände. Die Tradition katholischen Staatsdenkens – bis zu den Reden der jüngeren Päpste – hat immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade die Souveränität der Staaten, die Mannigfaltigkeit der Staatenwelt und der interstaatliche Wettbewerb Freiheit, kulturelle Vielfalt und Rechtssicherheit gewährleisteten.

Gabriels Zugang zu einer Ethik des Politischen liest sich anregend, nicht zuletzt dort, wo genuin theologische Akzente einfließen. Zu diesen, etwa einem eschatologischen Vorbehalt in der Menschenrechtsdebatte, hätte man gern noch mehr gelesen. Der Band zeigt aber auch, dass eine überzeugende Zuordnung von Partikularismus und Universalismus, globaler und nationaler Perspektive eine Aufgabe ist, bei der innerhalb der christlichen Politikethik weiterhin zentrale Klärungsarbeit zu leisten sein wird.

Axel Bernd Kunze

 


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Axel Bernd Kunze

Dr. Phil., Priv.-Doz. für Erziehungswissenschaft (Univ. Bonn), Lehrbeauftragter für Soziale Arbeit (KSFH München), Allgemeine Pädagogik (PH Ludwigsburg) sowie Didaktik und Methodik an Fachschulen (EH Freiburg), Dozent für Pädagogik und stv. Schulleiter (EFSP Weinstadt).

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