Eurovision

Die Eurokrise um Griechenland und ihre Folgen drohen die Europäische Union in eine weitere Phase müßiger Selbstbeschäftigung zu treiben. Dabei wären gerade die Finanzkrise und der neue Lissabonvertrag Gelegenheiten gewesen, Europa nicht mehr nur neue Institutionen, sondern eine geopolitische Vision zu verleihen.


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Krisen kommen immer zur Unzeit, reinigende Gewitter nie dann, wenn man einen Regenschirm zur Hand hat. Das ist normal, und Klagen führt nicht weiter. Der Euro freilich hat sich für seinen ersten Schwächeanfall nach fast zehn Jahren einen besonders ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht. Denn gerade schien die Union nach dem Inkrafttreten des Lissabonvertrags auf einem neuen Weg zu sein. Das ist nun überdeckt, fast schon wieder vergessen; noch bevor sich die neuen Institutionen gefunden, die neuen Verfahren bewährt haben. Was in dieser Krise regierte und noch regiert, ist das alte Europa, in dem das Konzert der Regierungschefs, der Sarkozys und Merkels des Kontinents, letztinstanzlich die zentralen Entscheidungen trifft. Ratspräsident, Kommission und Parlament spielen dabei nur dekorative Nebenrollen. Und noch etwas kommt hinzu: Die Krise ist in Europa kein Sonderfall. Genau besehen ist sie die Fortsetzung einer gewohnten Normalität.

Ein ruheloses Reich

Wer heute Mitte zwanzig ist und die EU seit rund zehn Jahren bewusst verfolgt, kennt sie nicht anders als im Zustand ständiger Umwälzung und ständiger Reparaturarbeiten. Zur Jahrtausendwende verordnete sich die Union unter großem Getöse eine sogenannte Lissabonstrategie, mit der sie binnen einer Dekade zum wichtigsten Wirtschaftsraum der Welt werden wollte. Um dieses Vorhaben ist es merklich still geworden, die wesentlichen Ziele sind verfehlt, und so geht es ein in den nächsten Zehnjahresplan. 2003 entzweite sich die Union in ihrer Haltung über den amerikanischen Irakfeldzug. 2005 scheiterte der ambitionierte Versuch einer Europäischen Verfassung an Franzosen und Niederländern; auch die abgespeckte Variante des Lissabonvertrags lag nach dem irischen Nein noch einmal auf Eis, bis das Werk Ende 2009 letztlich in Kraft treten konnte.

Von Lissabon nach Lissabon: Das Europa der zurückliegenden Dekade ist ein Europa der stabilen Krise. Es hechelt von Notoperation zu Notoperation, von Krisengipfel zu Krisengipfel, und kommt doch nur zentimeterweise voran. Das liegt nicht an bösen Euroskeptikern, nicht an renitenten Inselvölkern, die nicht so abstimmen, wie sie abzustimmen haben, nicht an den Gauweilers dieser Welt oder an unwilligen Verfassungsgerichten. Es liegt an der Europapolitik selbst. Sie weiß nicht, wohin die Reise gehen soll. Die Tageskonflikte können den langfristig vorgezeichneten Weg deshalb überdecken, weil es diesen vorgezeichneten Weg nicht gibt. Europa ist die tragende Vision abhanden gekommen. Es weiß nicht, was es ist, noch, was es werden will. Es ist ein Reich ohne Idee.

Man kann sich natürlich im weltgeschichtlichen Vergleich fragen, ob Imperien denn überhaupt eine tragende Vision benötigen. Unter den Historikern ist das ein beliebter Streit, wenn die Diskussion auf Deutschland kommt und seine imperiale Phase, also vor allem die wilhelminische Zeit. Damals habe – so die eine Lesart, seinerzeit prominent vertreten etwa von Plessner – es dem deutschen Weltmachtstreben am ideologischen Überbau gemangelt, es habe der Welt nichts anzubieten gehabt und deshalb nur Feindschaft geerntet; während etwa Schweden in seiner großen Zeit die Reformation verbreitet habe, Spanien die Gegenreformation, England den Liberalismus und so weiter. Das muss man mit Vorsicht genießen, weil bei genauem Hinsehen hinter den hehren idealen oft blanke Machtinteressen standen und die großen Ideen oft nicht mehr als ein Feigenblatt für Gewaltausübung darstellten. Es ist Geschmackssache, ob man den nackten Machtanspruch im Vergleich dazu zynischer findet oder ehrlicher. „Das Fehlen einer universalistischen Zivilisationsidee“, urteilte einmal Thomas Nipperdey, „mit all ihren Überheblichkeiten und Anspruchsüberladungen erscheint uns heute eher als Vorteil.“

Freilich: Diese historischen Beispiele betreffen alle Nationalstaaten. Europa ist keiner, darum liegt sein Fall anders. Ihm mangelt es an einer naturgegebenen inneren Einigkeit, vor allem darum macht sich der Mangel an Visionen so bemerkbar. Ein gemeinsames abendländisches Erbe von Athen über Rom bis Jerusalem gibt es natürlich; aber das ist primär ein beliebtes Intellektuellenthema und nichts, was im Alltag Identität stiftet. Im Gegensatz zu früheren übernationalen Reichen fehlt es Europa auch an gewachsenen, einheitsstiftenden Institutionen. Europa hat keine Monarchie und keine Staatskirche. Es hat auch keinen Gründungsmythos, und seine historischen Heroengestalten sind zuallererst Helden der einzelnen Völker, nicht des ganzen Kontinents. Deshalb ist die Lücke durch die fehlenden Visionen so schmerzlich.

Europa und Amerika

Was könnte nun eine solche tragende Vision sein? Europa ist natürlich kein nihilistisches Gebilde und hat durchaus einige zentrale Werte vorzuweisen. Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Sozialstaat – jeweils in verschiedenen Schattierungen, aber zumindest in Kontinentaleuropa doch stark verwandt. Von diesen Werten ist es so sehr überzeugt, dass es sie exportiert – durch entsprechende Aufnahmekriterien für neue EU-Staaten, durch zielgerichtete Entwicklungshilfe; in seltenen Fällen auch durch militärische Gewaltanwendung – die EU ist, das zeigen ihre Auslandseinsätze, inzwischen auch Militärmacht. Frauenrechte nach Afghanistan, Rassengleichheit nach Südafrika, Pressefreiheit nach China – all das sind mehr oder weniger erfolgreiche ideologische Exportprojekte.

Man sieht jedoch schnell: Diese Ideale sind kein europäisches Alleinstellungsmerkmal, je mehr sie exportiert werden, umso weniger. Sie sind gesamt-westlich; Amerika steht mindestens so sehr dafür. Das amerikanische Vorgehen ist manchmal anders, rauhbeiniger und ungeduldiger als das europäische; der „Kreuzzug für die Demokratie“ ist eine amerikanische Erfindung, an der Europa sich nur im Schlepptau des Verbündeten unwillig und halbherzig beteiligt. Manche Staaten beteiligen sich überhaupt nicht, manche gehen gar ausdrücklich in Opposition wie Deutsche und Franzosen im Falle des Irak und lehnen sich genüsslich zurück, wenn die Amerikaner sich verkämpfen und in der Stunde des Misserfolgs die Diplomatie wiederkehrt. Diese gegenüber den Diktaturen der Welt recht geduldige Position kann man je nach Geschmack unter Altersweisheit oder unter schwächlichem Alterszynismus verbuchen. Beides ist nicht ganz falsch; Vitalität und Weisheit sind in der Geschichte oft ungleichzeitig. „Dieselbe Kultur, welche in unserm Gehirn das Feuer eines fanatischen Eifers auslöschte, hat zugleich die Glut der Begeisterung in unseren Herzen erstickt, den Schwung der Gesinnungen gelähmt, die Taten reifende Energie des Charakters vernichtet“, meint Friedrich Schiller einmal, auf seine Zeit bezogen, in einem seiner geschichtsphilosophischen Aufsätze. Das Europa nach 1945 hat seine überschüssige Kraft gegen geduldige Altersmilde eingetauscht. Während Amerika jugendlicher – Jugendlichkeit ist Amerikas älteste Tradition, wusste bereits Oscar Wilde –, manchmal naiver daherkommt. Am Ende ist es aber nur ein Unterschied in der Methode, die Zielsetzung ist die gleiche: Export der eigenen Werte und der eigenen Lebensweise. Dieses Projekt, ob legitim oder nicht, ob erfolgversprechend oder nicht, ist ein gemeinsames; identitätsstiftend speziell für Europa ist es nicht.

Kein blanker Zynismus

Europäische Außenpolitik ist natürlich in erster Linie Realpolitik, nicht Ideologiepolitik. Zwischen beiden gibt es freilich bemerkenswerte Widersprüche. Die ideologische Außenpolitik ist, im amerikanischen Gefolge, eindeutig offensiv; die Realpolitik müsste aber, bei nüchterner Interessenabwägung, defensiv sein.

Augenscheinlich ist: Europa ist nicht bedroht. Es verfügt kaum über nennenswerte Rohstoffe oder für andere Mächte interessante Territorien. Im postutopischen Zeitalter sind andere Motive, etwa die Verbreitung der Weltrevolution, nicht mehr relevant. Die Europäer exportieren ihre Werte, aber umgekehrt versucht keine andere Macht, Europa andere aufzudrängen. Der radikale Islamismus mag eine Ausnahmeerscheinung sein, ist aber wirtschaftlich, politisch und militärisch schwach und allenfalls zu Nadelstichen fähig, wenn man ihn dazu reizt. Nüchtern betrachtet: Wenn Europa die Welt in Ruhe lässt, wird die Welt auch Europa in Frieden lassen.

Das strategische Interesse Europas liegt in erster Linie darin, seine Rohstoffversorgung zu sichern und ansonsten seine Nachbarschaft ruhig zu halten: also Russland und seine Vorfeldstaaten, Nordafrika und den Nahen Osten bis hin zum Iran. Weit darüber hinaus wird Europas Einfluss auch nicht reichen. Man muss nüchtern rechnen. Der Aufstieg zuerst Chinas, dann, mit einigen Jahren Abstand, auch Indiens, verbunden mit den eigenen Problemen, in die Europa durch die Demographie und mit der Integration wachsender muslimischer Minderheiten unweigerlich hineinläuft, werden es der Alten Welt nicht erlauben, eine dominante Rolle zu spielen. Europa wird ein Pol von vielen in der komplexen Welt unseres Jahrhunderts sein.

Blanker Zynismus wäre eine realpolitische Beschränkung auf die eigene Weltregion dennoch nicht. Zu tun ist dort genug, das auch ein Dienst an der übrigen Welt wäre. Explosionsgefahr und Betätigungsfelder für europäische Diplomatie gibt es von Tiflis über Teheran bis Tel Aviv wahrlich genug.

Ehrlicher Makler

Generell scheint die Rolle des Vermittlers diejenige zu sein, die Europa in den kommenden Dekaden im Mächtekonzert naturgegeben am ehesten zufällt. Amerika ist mit der schwierigen Aufgabe geschlagen, seinen eigenen Abstieg zu managen, während es gleichzeitig noch allerorten als Weltpolizist agiert. In einer noch viel schwierigeren Lage ist Russland, demographisch schrumpfend, eingekeilt zwischen der Nato im Westen, den Chinesen im Osten und Muslimen im Süden, aber als waffenstarrende Atommacht natürlich nach wie vor ein ernstzunehmender, bedrohlicher Faktor. Indien und Brasilien müssen eine eigenständige Geopolitik überhaupt erst entwickeln. China wird allmählich aus seiner strikt defensiven Position herauswachsen; zur Sicherung seiner Rohstoffzufuhr engagiert es sich heute bereits in Afrika. Japan, Korea und Taiwan, vielleicht auch Australien werden sich angesichts der Machtverschiebung im Pazifik neu orientieren müssen.

Die Welt der Zukunft wird nicht nur komplexer, sondern auch konfliktreicher, darauf deuten alle Zeichen hin. Natürliche Rohstoffe werden knapp, mancherorts auch das Wasser, Verteilungskämpfe deuten sich an. In manchen Weltregionen wächst die Bevölkerung noch stark, manche laufen auf einen scharfen demographischen Bruch zu wie etwa China, manche, wie Europa oder Russland, sind schon in die Schrumpfungsphase eingetreten. Wenn sich die Klimaprognosen bewahrheiten, stehen massive Krisen mit großen Völkerwanderungen ins Haus. Kurzum, die neue Weltordnung birgt einige Explosionsgefahr.

Gefährliche Konfliktlinien liegen traditionell vor allem dort, wo sich regionale Konflikte mit den Interessensphären der Großmächte überlappen. Vor 1914 war das der Balkan, wo sich russische, österreichische und englische Interessen berührten und zugleich lokale Nationalitätenkonflikte Feuer an die Lunte legten. Heute bilden West- und Zentralasien eine solche Region, rohstoffreich und zugleich von ethnischen und religiösen Spannungen durchzogen. Das alles ist nicht so weit weg, wie man gemeinhin denken mag; im Kaukasus engagiert sich Amerika auf traditionell russischem Terrain, an den atomar ambitionierten Iran grenzt der Nato-Staat Türkei, und seit die Bundeswehr in Kunduz das Kommando übernommen hat, haben Deutschland und China eine gemeinsame Militärgrenze. Pulverfässer allerorten.

Genug zu tun also für eine europäische Friedensmacht – wenn sie sich denn einmal darauf verständigte, dass darin eine ihrer wesentlichen Aufgaben liegt. Nur einig bringt sie das nötige politische Schwergewicht dazu auf. Bismarck meinte einmal, in seiner späten, friedfertigen Phase, sein Reich müsse das „Bleigewicht am Stehaufmännchen Europa sein“. Man kann eine Analogie zum Heute sehen; wie damals aber gilt: Ohne eigenes Gewicht geht es nicht.

Eine verlockende Vision im positiven Sinne ist diese Aussicht auf diplomatische Kärrnerarbeit freilich nicht. Motivieren dazu und damit zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik kann allein realpolitische Einsicht. Genügt das?

Vielleicht wird es genügen müssen.


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