Evolution und Schicksal

Von allen Zweigen der Naturwissenschaften ist die Evolutionsbiologie der am stärksten ideologisch aufgeladene. Wird ihre Rolle überbetont, kann das leicht gefährlich werden. Genauso gefährlich ist es freilich, sie wider besseres Wissen zu ignorieren.


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Dass der Mensch eine Doppelnatur hat, dass er Kulturwesen und Naturwesen zugleich ist, dass seine Zivilisation ihn prägt wie auch seine biologischen Eigenschaften, ist an sich nichts Neues, das wussten schon die alten Griechen. Aber in der spezifischen Kombination aus Zivilisation und Evolution, die das heute gängige Weltbild prägt, klafft ein innerer Konflikt.

Divergenz im Selbstbild

Einerseits brachte die Moderne vor allem den Sieg des Individuums über das Kollektiv und über die Fremdbestimmung durch kirchliche, staatliche oder gesellschaftliche Autoritäten. Dieser Siegeszug beginnt recht früh, eigentlich bei Luther schon, mit der „Freiheit eines Christenmenschen“, die freilich zunächst nur Gewissensfreiheit vor Gott bedeutet und nicht auch Freiheit von weltlicher Obrigkeit. Aber schon zu Luthers Zeiten gehen Radikale wie Thomas Müntzer sehr viel weiter, und in den folgenden Jahrhunderten wird der Feudalismus abgebaut, werden absolutistische Monarchien abgeschafft oder konstitutionalisiert, werden die Grundrechte des einzelnen verfassungsrechtlich verbrieft, werden kollektivistische Ersatzreligionen wie Nationalismus und Sozialismus überwunden, werden am Ende sogar kleinteiligere Sozialstrukturen wie die klassische Familie mehr und mehr aufgelöst und schließlich auch die staatliche Autorität an sich durch den körperlos über alle Grenzen sich hinweg bewegenden Informationsfluss im Internetzeitalter mindestens in Frage gestellt. Das alles natürlich nicht glatt in einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern in Wellen und mit starken Ausschlägen. Aber die Grundtendenz ist so unverkennbar wie das Ergebnis. Im frühen 21. Jahrhundert ist das Individuum in Europa so frei wie mindestens seit der Antike nicht mehr; wahrscheinlich so frei wie nie zuvor in der Zivilisationsgeschichte.

Auf der anderen Seite freilich hat sich die Stellung dieses menschlichen Individuums im Weltgefüge dramatisch verringert. Der Mensch früherer Epochen war vielleicht nicht frei, aber in der Selbstwahrnehmung immerhin die Krone der Schöpfung, zum Herrscher über die Welt auserkoren und lebte, eine gottgefällige Lebensweise vorausgesetzt, in Erwartung des Heils. Der italienische Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola konnte das gegen Ende des 15. Jahrhunderts noch klassisch ausführen. In seiner berühmten Rede „Über die Würde des Menschen“ ließ er Gottvater zu Adam sprechen: „Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. (…) Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ Damit ist es aus; und nicht erst, seit die moderne Neurobiologie die freie Willensentscheidung, die Pico als gottgegeben annimmt, in Frage stellt. Schon seit Galilei ist der Mensch nicht mehr das Zentrum des Weltalls, sondern lebt auf einem unbedeutenden Staubkorn irgendwo im Nichts. Seit Darwin ist er nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern ein evolutionäres Zufallsprodukt, dem Affen am nächsten. Seit Freud ist er nicht mehr vom Licht der Vernunft erleuchtet, sondern von niederen Trieben beherrscht.

Diese berühmt-berüchtigten Kränkungen des Menschen durch die moderne Wissenschaft reichen viel tiefer, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Das gilt vor allem für die darwinistische, deren Hauptleistung nach Meinung vieler war, dass sie die alten Schöpfungsmythen zertrümmerte. Tatsächlich ist es ein langlebiger Irrtum, zu meinen, diejenige althergebrachte Weltanschauung, die am meisten unter dem Darwinismus zu leiden gehabt habe, sei die religiöse gewesen. Die allergische Reaktion der Kirchen und, bis heute, einzelner dogmatischer Gläubiger, hat zu diesem Urteil gewiss beigetragen. Aber im Grunde ist es eine natürliche Fortentwicklung der kritischen Theologie, die Schöpfungsgeschichten, von denen die Bibel ja gleich zwei vorweisen kann, metaphorisch zu deuten und in der Evolution gleichsam das Werkzeug zu sehen, mit dem der Schöpfergott die lebendige Welt bis zu ihrer heutigen Gestalt formte. Und deshalb haben sich nach und nach alle maßgeblichen Kirchen, wenn auch immer noch vorsichtig-distanziert, mit der Evolutionslehre anfreunden können.

Viel tiefer als die Religionen trifft der Darwinismus, genau besehen, das positive Menschenbild der Moderne. Dieses Menschenbild geht von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen aus, hält ihn in erster Linie für vernunftbegabt, in der rousseauistischen Zuspitzung sogar für von Natur aus „gut“, bevor die Zivilisation ihn „verdirbt“, auf jeden Fall aber für universell talentiert und, mit der richtigen Förderung, für nahezu beliebig formbar.

Der Kampf der Egalitaristen mit der Wirklichkeit

Biologie und Verhaltensforschung sagen uns nun, dass das in weiten Teilen nicht so ist; dass viele Eigenschaften angeboren sind, genetisch mindestens partiell determiniert; und dass die Talente eben nicht gleichverteilt sind, sondern, wenngleich Zufall und Statistik bei jeder Verbung mit hineinspielen, immer auch von der Familiengeschichte abhängen. Bildung kann – natürlich – Menschen prägen. Aber ob jemand ein Mathematikstudium erfolgreich abschließen oder ein herausragender Sportler werden kann, hängt eben auch von der Begabung ab.

Diese Feststellung klingt recht platt, nach einem simplen Gemeinplatz, und eigentlich ist sie das auch. Oder wäre es, wenn sie nicht immer wieder ignoriert würde. Tatsächlich sind die Verfechter der beiden aus dem modernen Menschenbild abgeleiteten Ideologien, sozialer Egalitarismus und Genderismus, im Umgang mit diesen biologischen Determinanten über das Stadium der Leugnung nicht wesentlich hinausgekommen. Alle Ungleichheiten gelten ihnen letztlich als sozioökonomisch begründet oder anerzogen, also: von der Gesellschaft verschuldet und nicht von der Natur, damit als eine menschengemachte Ungerechtigkeit, die zu beheben Aufgabe eines sozialen Staates ist.

Von Operationen zur Herstellung von Ergebnisgleichheit haben sich die allermeisten Egalitaristen nach dem Scheitern des planwirtschaftlichen Experiments in den Ostblockstaaten verabschiedet. Aber die Chancengleichheit gilt immer noch als großes Ideal.

Logisch zu Ende gedacht heißt Chancengleichheit aber Ergebnisungleichheit, weil bei Beseitigung aller menschengemachten Hemmnisse am Ende diejenigen den größten Erfolg – ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell – davontragen werden, die mit den besten Startvoraussetzungen ins Rennen gegangen sind. Also zunächst mit der günstigsten frühkindlichen Prägung durch das Elternhaus; und, sollte man im Namen der Gleichheit auch das abschaffen und die Erziehung komplett verstaatlichen wollen, in letzter Konsequenz durch die Gene.

Mit diesem Grundgegensatz werden die Egalitaristen bis heute nicht fertig, und die typische Reaktion besteht darin, die genetischen Startvoraussetzungen zu ignorieren und, werden sie doch diskutiert, zu leugnen; oder aber, Chancengleichheit letztlich doch als Ergebnisgleichheit zu übersetzen, dann jedenfalls, wenn es um gesellschaftliche Gruppen geht.

Letzteres ist gar nicht so selten. Denn tatsächlich wird fast immer dann, wenn versucht wird, Chancenungleichheit statistisch zu belegen, im Effekt Ergebnisungleichheit gemessen. Bei internationalen Bildungstests starrt die deutsche Öffentlichkeit sehr viel mehr auf die relative soziale Ausgewogenheit als auf die absoluten Gesamtergebnisse und die Spitzenleistungen – die am Ende das ökonomische Schicksal des Landes entscheiden werden; dass Arbeiterkinder in viel geringerem Anteil studieren als Akademikerkinder, gilt als Skandal – obwohl man aufgrund des stark schichtengebundenen Heiratsverhaltens und zumindest partiell erblicher Intelligenz genau das statistisch erwarten muss; wenn der Frauenanteil in Spitzenämtern partout nicht fünfzig Prozent erreichen will, darf das kein Nachweis dafür sein, dass biologische Determinanten eine Rolle spielen könnten und Frauen vielleicht weniger Interesse an solchen Positionen haben, sondern ausschließlich ein Argument für noch mehr Quoten.

Unter den Egalitarismen nimmt das Streben nach Geschlechtergleichheit, das man unter dem Begriff Genderismus gut zusammenfassen kann, eine Sonderstellung ein. Einerseits, weil es die skurrilsten Blüten treibt, in der politisch korrekten Sprache etwa, wo man schon lange nicht mehr von „Bürgern“ sprechen darf, sondern nur noch von „Bürgerinnen und Bürgern“ oder, wenn man Platz sparen möchte, von BürgerInnen oder Bürger_innen (merkwürdigerweise freilich nicht von MörderInnen und TerroristInnen); oder im grassierenden Quotenunwesen, das mittlerweile sogar die bayerische CSU erreicht hat und dessen zwangsweise Ausdehnung auf die Privatwirtschaft nun selbst von einer angeblich konservativen Bundesregierung befürtwortet wird.

Andererseits ist im Genderismus die Leugnung biologischer Einflüsse besonders krass. Denn wo Intelligenz ein unscharfer Begriff ist und man über Begabungsunterschiede zwischen Arbeitern und Akademikern vielleicht noch streiten kann, sind die Unterschiede zwischen Mann und Frau nun wirklich augenscheinlich. Das ändert nichts daran, dass natürlich jede Frau ex ante die gleichen Chancen haben sollte, etwa in eine Spitzenposition in ihrem Unternehmen oder ihrer Partei aufzusteigen, die auch ein Mann hat; und darf nicht durch gesetzliche Bestimmungen behindert werden, wie es in Deutschland noch bis in die 70er Jahre hinein der Fall war. Aber ob auch alle das wollen und das Talent dazu haben, ob sich daraus am Ende ein statistisches Gleichgewicht einpendelt, bei dem 30 %, 50 % oder 70 % der ManagerInnen Frauen sind, lässt sich im vorhinein nicht sagen.

Es lässt sich übrigens auch deshalb nicht sagen, weil ein unverzerrtes Gleichgewicht sich aufgrund der genderistischen Ideologie überhaupt nicht einstellen kann. Der freie Wettstreit der Lebensstile, etwa zwischen der modernen Karrierefrau und der traditionellen Mutterrolle, ist eine Legende. Wer für einen anderen Lebensstil als den der Genderisten wirbt, fällt leicht in öffentliche Ungnade, wie etwa die bedauernswerte Eva Herman, bei der man nicht meinen sollte, sie sei zuallererst gestürzt aufgrund unglücklicher Verbalexkursionen zu Mutterkreuz und Autobahn. Wer den Medienbetrieb einmal durchanalysiert, wie der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz das getan hat, wird feststellen, dass dort nicht zufällig ein sehr eindeutiges Frauenbild propagiert wird; Abweichler haben es schwer in diesem Geschäft.

Auch die Politik ist von diesem Trend keineswegs frei. Wenn der Staat meint, den Bürgern Anreize für ein verändertes Rollenbild setzen zu müssen, wenn das Elterngeld nur dann länger ausgezahlt wird, wenn auch der Mann eine Babypause nimmt, gilt das als fortschrittlich; wenn ausgleichsweise auch die daheim erziehenden Mütter eine Belohnung in Form eines Erziehungsbonus erhalten sollen, gilt das als reaktionär und als Herdprämie. Tatsächlich sind beides unangemessene staatliche Eingriffe in private Entscheidungen; und eben wegen solcher Eingriffe kann sich ein natürliches Gleichgewicht, das alle Voraussetzungen einschließlich der biologischen berücksichtigt, nicht einstellen.

Die Feststellung biologischer Voraussetzungen an sich gilt freilich bereits als Frevel. Denn in Wahrheit, so die Genderisten, sind alle Eigenheiten von Männern und Frauen doch anerzogen, sozial gewollt; erhalten Schülerinnen Koch- und Strickkurse, Schüler Lektionen in Modellbau; lässt man Mädchen mit Puppen spielen und Jungs mit Zinnsoldaten; lassen bestehende Männernetzwerke doch Frauen in Spitzenpositionen weitgehend gar nicht zu.

Wie so häufig, wenn man mit Ideologen diskutiert, sind ihre Argumente richtig und falsch, aber in der Zuspitzung mehr falsch als richtig. Natürlich gibt es kulturelle Prägungen, aber sie erklären nicht alles; erklären vor allem nicht, warum es so viele Prägungen gibt, die sich quer durch die Kulturen ähneln und die sich ohne Biologie nur dann plausibilisieren lassen, wenn man wirklich zur großen Verschwörungstheorie übergeht, vom welthistorischen Komplott der Männer gegen die Frauen, die Alice Schwarzer schon in den 70ern formuliert hat und nach der es über alle Umstürze und Revolutionen der Weltgeschichte eine Konstante gibt: nämlich dass die Männer sich stets einig waren, ihre Frauen zu unterdrücken. Damit ist nun freilich nach dem Willen zur Schaffung eines neuen Menschen – oder besser: der Freilegung des ursprünglichen, unverderbten Menschen in Anlehnung an Rousseau –, nach dem klaren Feindbild und der geistigen Intoleranz auch das vierte Kriterium für eine radikale Bewegung erfüllt, denn auf Verschwörungstheorien gründen sich letztlich alle Radikalismen (früher hießen die Schuldigen nur anders, „jüdische Weltverschwörung“ oder „kapitalistische Ausbeuter“); und tatsächlich ist der Genderismus in Denkstrukturen und Wirkmächtigkeit die totalitäre Ideologie unserer Tage.

Die Schuld der Gesellschaft

Was den Egalitarismus – wie jede Ideologie – so verführend macht, ist, dass er, auf den ersten Blick, die Perspektive ausweitet. Dass also nicht allein das Inviduum mit seinen Schwächen und Veranlagungen, dass nicht böses Schicksal für die Lage, wie sie ist, verantwortlich gemacht werden kann, sondern dass es ein Netz gesellschaftlicher Abhängigkeiten, auch Interessen gibt, das die Lage so erhält, wie sie ist. Man könne eben nicht, nach dem ganz alten Motto, dass der Tüchtige sich schon immer durchsetzen werde, alles einfach abschieben auf den Unwillen des einzelnen, sondern müsse ebenso seine soziale Umgebung einbeziehen, die ihn prägt und die ihm Chancen gibt oder vorenthält.

Das klingt aufgeklärt, ist es aber meistens nicht. Nämlich immer dann nicht, wenn „die Gesellschaft“, die angeblich schuld sein soll, sich bei genauem Hinsehen als sehr konkretes Feindbild herausstellt: „die“ (zumeist männlichen) Kapitalisten zum Beispiel, „die“ raffgierigen Unternehmer, „das“ marktwirtschaftliche System. Dann stellt sich die scheinbare Aufgeklärtheit häufig genug als blankes Ressentiment heraus.

Aber wer ist nun schuld, die Gesellschaft oder der einzelne? Die Frage ist schon falsch gestellt. Warum muss zwingend jemand „schuld“ sein an der Ungleichheit in der Welt? Unbeschadet dessen, dass man durchaus streiten kann, ob Ungleichheit per se immer schlecht sein muss: Es gibt nun einmal Dinge in der Welt, für die man niemanden verantwortlich machen kann, das Wetter zum Beispiel, und eben auch genetische Veranlagungen; es gibt tatsächlich so etwas wie Schicksal; und indem er das ignoriert oder sofort Verschwörungstheorien bei der Hand hat, wer von der Legende vorgeblichen Schicksals denn profitiere, verengt der Egalitarismus zugleich die Perspektive.

Damit bewegt er sich freilich gut im Zeitgeist, Schicksal ist heute in Europa als Konzept nicht mehr en vogue. So begreifen wir heutzutage auch etwa Naturkatastrophen nicht mehr als Schicksal, sondern müssen prinzipiell einen Schuldigen finden – Umweltzerstörung, schlecht vorbereitete Behörden, raffgierige Firmen –, denn nur so wird das Unvermeidliche scheinbar vermeidlich, das Unerträgliche erträglich. Dass zum jeweiligen Kenntnisstand alles Menschenmögliche versucht worden sein könnte, aber eben nicht genügte; und dass das erneut passieren kann, dass es Schicksalsschläge gibt, gegen die man sich über einen gewissen Grad an Sicherheit hinaus nicht wappnen kann – dagegen versucht der moderne Mensch sich psychologisch abzuschirmen, indem er immer einen Schuldigen parat hat.

Von ganz alten, unaufgeklärten Erklärungsmustern – Gotteszorn etwa – ist das so weit gar nicht entfernt. Der Genfer Historiker François Walter hat das im letzten Jahr sehr schön skizziert in seinem Buch „Katastrophen – eine Kulturgeschichte“. Auch früher hatte man bei Seuchen oder Überflutungen schnell einen Schuldigen bei der Hand, der nicht eifrig genug gebetet hatte. Das eine ist aber so verfehlt wie das andere. „Schicksal“ hat nicht immer einen Sinn, es geschieht einfach.

Aus dieser Warte betrachtet sind auch die Gene „Schicksal“. Schicksal in dem Sinne, wie Schopenhauer einmal meinte: „Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen.“ Der Mensch ist nicht einflusslos, aber es gibt eben Startbedingungen, die seinen Einfluss begrenzen. Für moderne Gesellschaften ist das nicht einfach zu verkraften, sie versuchen, gegenzusteuern, so gut es geht, und formulieren neue Rechte, die fragwürdige Schritte legitimieren, mit denen man das Schicksal austricksen kann. Das Recht auf gesunde eigene Kinder ist dafür ein Beispiel, mit dem man dem Schicksal der Unfruchtbarkeit entgeht und das die künstliche Befruchtung rechtfertigt und neuerdings, so jedenfalls ein guter Teil der öffentlichen Meinung, auch die Selektion „schadhafter“ Embryonen in diesem Prozess.

Aufgrund solcher Beispiele sollte man im übrigen auch vorsichig mit der Vermutung sein, der Anti-Biologismus der deutschen Egalitaristen sei im wesentlichen auf die deutsche Geschichte zurückzuführen, auf die Greuel, die der biologistische Rassismus im Dritten Reich unstreitig hervorbrachte, und damit eine vielleicht überzogene, aber im Grunde gesunde Skepsis gegenüber abgründigen Ideen. Wenn das so wäre, wäre dies ein primär deutsches Phänomen, was es nicht ist; und die Skepsis gegenüber manchen bedenklichen Neuerungen der modernen Biologie mit der Schaffung von Wunschmenschen oder der Selektion von Embryonen müsste deutlich größer sein, als sie ist.

Und deshalb sollte auch deutlicher sein, warum es nicht zuerst die Kirchen sind, die Schwierigkeiten haben, sich mit der biologischen Realität abzufinden. Die Ungerechtigkeit der Welt lässt sich leichter ertragen mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Im Tode sind die Menschen gleich. Im Leben nicht; dort tue jeder seine Pflicht, „an der Stelle, wo Gott ihn hingestellt hat“. Religionen haben sich mit dem Konzept des Schicksals stets leicht getan.

Wo Ungleichheit Schicksal ist, muss man sie aber nicht nur negativ sehen, gerade zwischen den Geschlechtern. Vielfalt ist Reichtum, und die „Lust am Unterschied“, wie Udo Di Fabio sie in seiner „Kultur der Freiheit“ formuliert hat, ist ein viel angemessenerer Umgang mit den biologischen Realitäten als der Wunsch nach mehr oder minder erzwungener Angleichung.


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