Fischer in Masuren

Klassiker wiederentdeckt: Ernst Wiechert, Bestsellerautor seiner Zeit, schildert die Flucht aufs Land, in eine Welt der Ruhe, Beständigkeit und einfachen Arbeit – urkonservative Motive. Für viele Leser wird sein Buch in Krieg und Gewaltherrschaft Anleitung zum Weg in die innere Emigration: Das einfache Leben.


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Er hat eine ganze Weile gebraucht, um zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Fünf Sommer und Winter sind Krieg und Revolution nun schon vergangen. Korvettenkapitän außer Dienst Thomas von Orla lebt mit Frau und Kind ein Frühpensionärsdasein in der Großstadt, ohne Sinn und Ziel, mit fünfundvierzig Jahren. Er passt nicht in die neue Zeit; trotz wachsender, tiefer Zweifel an Gott und an den Werten der zerbrochenen alten Ordnung ist er im Herzen zu sehr schwarz-weiß-rot gestimmt. Mit dem politischen Zirkus kann er wenig anfangen, folgt keiner der vielen Erlösungsbewegungen, dafür oder dagegen, links oder rechts oder in der Mitte. Der Zeit fehlt die Orientierung, wie ihm selbst. „Gott war fortgegangen, aber die Propheten kamen. Aus allen Kellerhöhlen stiegen sie empor, auf den Tribünen hoben sie die nackten verzehrten Arme, in den Parlamenten beschworen sie das Reich der Liebe, aus den Sternen rissen sie Weisheit und Schicksal: aber der Engel war fort, der einzige, der die Lose trug und wusste.“

Ein Wort aus dem Psalm, oft gelesen, nun erst begriffen, bringt die Wende: „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.“ Orla, kein Kirchgänger eigentlich, sucht das Gespräch mit dem Gemeindepfarrer. Dabei wird ihm klar, was er braucht: einen Neuanfang in der Ferne, Stille, Einsamkeit; und Arbeit vor allem, eine Arbeit, die Halt gibt.

Eine Insel in Ostpreussen

Die Suche führt ihn weit nach Osten, zur masurischen Seenplatte – des Autors eigene Heimat. Dort hält er Ausschau, nach dem geeigneten Ort, der geeigneten Anstellung. Am zehnten Tag wird er fündig. Eine Stelle als Fischer ist neu zu besetzen, samt Fischerhütte auf einer kleinen Insel im See. Ein Refugium mitten in der Natur, in sich gewachsen, nicht geformt von Menschenhand; ein Ort „nicht wie ein Blatt, auf dem die Hand des Menschen geschrieben, gestrichen, gelöscht und wieder geschrieben hatte, sondern als ein Unberührtes, auf dem ein Anfang geschehen könnte.“

Um die Stelle muss er sich beim Gutsherrn bewerben. Rang und Adelstitel verschweigt er zunächst; er sucht ja die einfache Arbeit. So wird er im Schloss vorstellig beim alten General von Platen. Der ist die liebevoll gezeichnete Karikatur eines preußischen Offiziers, mit einem Diener in friderizianischer Uniform, Kanonen als Dekoration im Foyer und abgehackter Kasernensprechweise nach Art König Friedrich Wilhelms III. Auch ein anachronistischer Fremdkörper in der neuen Republik. Das Einstellungsgespräch nimmt einen zackigen Verlauf.

„‘Heißen Orla?‘, fragte die heisere Stimme, die die Worte wie aus einer Gewehrmündung hervorstieß.

‚Jawohl, Herr General.‘

‚Gedient?‘

‚Jawohl, Herr General.‘

‚Dekoriert?‘

‚Jawohl, Herr General.’“

Nur bei der Marine allerdings.

„’Misstrauisch gegen alle Seefahrende. Anfang mit Schande gemacht. Hoffe, Regel durch Ausnahme bestätigt zu sehen. Hier nur brauchen, was in Gesinnung und Haltung zuverlässig.‘“

Und wenn die Bolschewisten kommen?

„‘Insel Stützpunkt Wasserseite. Vor dem Feinde fallen, wenn nötig, verstanden?‘

‚Jawohl, Herr General.’“

Trotz der herben Sprache ist der rauhbeinige General ein gütiger Herr und Orla ein treuer Diener; beide verstehen sich bald prächtig. Das Leben auf der Insel ist karg, der Lohn aber ehrlich, so dass Orla sein bescheidenes Auskommen hat; Frau Gloria und Sohn Joachim bleiben in der Stadt wohnen und leben weiter von der Pension. Auf dem Wasser kommt der Kapitän zur Ruhe. „Sich abends mit frohem Herzen niederlegen können, das war das ganze Geheimnis: Froh, wenn man an den gewesenen Tag, und froh, wenn man an den kommenden Tag dachte. Keine Erlebnisse, keine Heldenrolle, kein Glanz um die Stirn. Die Netze auslegen und wieder einziehen, Haus und Insel sauberhalten, ein paar Seiten lesen und abends am Wasser sitzen und in die Sterne sehen.“

Kein Idyll

Ein unberührtes Paradies ist die Gegend freilich nicht. Auch dort sind die Wunden des ersten großen Kriegs noch frisch. Des Generals Söhne sind beide im Felde geblieben, nur die Enkelin lebt noch, um die Linie fortzusetzen. Der Gutsnachbar, Graf Natango Pernein, mit dem der Kapitän sich anfreundet, ist letzter Überlebender von sechs Brüdern. Das nahe Orlas Insel beheimatete Försterpaar, gleichfalls im Dienst des Generals, hat den einzigen Sohn verloren, beim Skagerrak; auch Orla erlebte die Schlacht, auf einem anderen Kreuzer. Der Förstersohn starb den Feuertod, als das Schiff vom Feind in Brand geschossen wurde. Über den Verlust verlor die Mutter den Verstand; sie bietet Orla einen traurigen Anblick. „Ihr Gesicht war nicht vergrämt oder versteinert, sondern erloschen. Es war erblindet und ertaubt, ausgehöhlt von Schmerz, und nur die Hülle war zurückgeblieben, brüchig und tot wie die Haut einer Larve.“

Keine ungestörte Harmonie; auch beim Kapitän nicht. Dunkle Erinnerungen sind präsent, werden verarbeitet, nicht verdrängt. An Wintertagen, an denen wenig zu tun ist, schreibt Orla sein Fazit des Geschehenen nieder. Daraus werden zwei Bücher, „Die Ethik des Seemannslebens“ und „Der Schlachtengott“; Abrechnungen mit der Marineleitung und dem christlichen Gott, der so viel geschehen ließ. Das Fachpublikum nimmt sie als „sonderbare Äußerungen eines Sonderlings“.

Zu düster und einsam wird das Mönchsdasein auf der Fischerinsel jedoch nicht. Orla bekommt Gesellschaft. Bald stößt Bildermann zu ihm, sein alter Bursche aus Marinezeiten, der ihm einst das Leben rettete, als die Matrosen ihn in den Revolutionstagen mit der schwarz-weiß-roten Fahne von Bord warfen. Und die kleine Marianne, die Enkelin des Generals, ist oft zu Gast; der Kapitän soll sie praktische Dinge lehren, Schwimmen, Fischen, Schießen. Man freundet sich an.

Orlas Familie bleibt auf Abstand; Sohn Joachim, angehender Seekadett, kommt immerhin in den Ferien zu Besuch, doch die Distanz zum Vater wächst mit jedem Jahr. Mit dessen Einsiedelei kann der junge Mann nichts anfangen, ist im übrigen von nichts beherrscht als Ehrgeiz und Pflichtgefühl, „lachte zuwenig, spielte zuwenig, beging keine Torheiten“. Der Leser ahnt, wo es mit ihm hingehen wird, wenn die Braunhemden der Macht zustreben.

Deutsche Innerlichkeit

Von diesem engen Kreis handelt das Buch. Die Umgebung, Dörfer, Landvolk, dessen Arbeit, wird nur gestreift; markant kommt vor allem die Natur zur Geltung.

Ist Das einfache Leben ein konservatives Buch? Im politischen Sinn wohl nicht; sonst wäre es nie durch die Zensur gekommen. Das schaffte es ohnehin nur knapp, weil konkurrierende Behörden sich nicht einig wurden. Auch durfte Wiechert gar nicht mehr politisch publizieren, für regimekritische Äußerungen hatte er in Gefängnis und KZ gesessen und war von Dr. Goebbels persönlich gemaßregelt worden. Und wenn man das Buch liest, kommen auch die konservativen Kräfte gar nicht gut weg, denen Wiechert in der Weimarer Zeit phasenweise nahegestanden hatte, als er das eine oder andere, heute etwas anrüchig erscheinende, schwärmerisch-völkische Buch schrieb. – Als Orla im Roman ein Manöver der Stahlhelm-Jugend besucht, findet er das ganze Schauspiel lächerlich.

Das einfache Leben ist die Absage an die Politik, und an die Polis überhaupt. Hinaus aus der Stadt, in die Einsamkeit des Landlebens, wo alles in Ordnung war; nicht im moralischen Sinn, sondern in dem, dass Ordnung bestand und blieb. „Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung, alles war richtig, wie es war und werden würde. Es war nicht gut und nicht böse.“

Autobiographisch ist das Buch auf mehrfache Weise. Wiechert, Förstersohn aus Masuren, „Mensch der Stille“, hat, wie seine ganze Generation, ein Kriegserlebnis zu verarbeiten; nicht wie Orla zwar in der Marine, aber als Frontsoldat im Heer – ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz beider Klassen und mehrfach verwundet. Auch Verlusterfahrungen finden sich ähnliche, Selbstmord der Mutter, der ersten Ehefrau, früher Kindstod des Sohnes. Und gewiss spielt auch die Erfahrung der Haft in Buchenwald hinein, die endete, kurz bevor er mit der Niederschrift des Romans begann.

Die Sehnsucht nach Ruhe, nach dem einfachen Leben ist so individuell wie generationstypisch. Daher wohl der große Erfolg; das Buch wird in den 1940ern hunderttausendfach gedruckt, und mancher Leser wird das Motto wohl unterschrieben haben. „Wer einmal die Phrase hinter sich gelassen hat, für den ist der Pflug oder das Ruder oder die Büchse oder der Spaten kein Ersatz, sondern die Wahrheit, eine einfache, unverdorbene und große Wahrheit.“

Die Flucht aufs Land, oder geistig in die innere Emigration, mag für das Regime in gewisser Hinsicht ein so großes Übel nicht gewesen sein; auch daher wohl die Duldung. Im Buch selber ist von Kompromiss mit dem System, das dennoch ein durch und durch politisiertes, alle Volksgenossen zu erfassen suchendes war, freilich nur sehr wenig und nur ganz gegen Ende etwas zu spüren, als das junge, „saubere und tüchtige“ Geschlecht halb wohlwollend, halb resignativ beim Sonnenwendfeuer beobachtet wird. –

Alles vergeht

Die unpolitische Sehnsucht nach Ruhe, Ordnung, Beständigkeit ist dennoch konservativ in der Essenz. Orlas kleine Welt in Masuren verkörpert konservatives Lebensgefühl, wie es reiner kaum sein könnte. „Hier blieb alles, wie es war. Die Felder wuchsen, der junge Wald, die Kinder der Leute. Wenn der alte Kutscher starb, kam sein Sohn heran. Wenn die Stute ‚Freya‘ ihr Gnadenbrot bekam, ging ihre Tochter schon unter dem Sattel.“

Freilich: Es bleibt eben nichts auf ewig, wie es ist, und der Leser, der die Figuren liebgewonnen hat, ertappt sich wohl manchmal bei dem traurigen Gedanken, dass es bald zu Ende sein wird mit dieser kleinen Welt. Er weiß ja mehr als der Autor zu dieser Zeit, weiß, dass die Lebenswelt im Osten untergehen wird ein halbes Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Buches, 1939, da eine Rotte Verbrecher just zu neuem Kriege sich verabredet hatte.

 

Zum Weiterlesen

Ernst Wiechert: Das einfache Leben. LangenMüller 2012, 394 S. Erstveröffentlichung 1939.


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