Fit für den Arbeitsmarkt

Die Professionalisierung der „Wissensproduktion“ an deutschen Hochschulen schreitet voran. Den Studenten werden „berufsrelevante Kenntnisse“ eingetrichtert, um sie „fit zu machen für den Arbeitsmarkt“. Wo bleibt da die akademische Freiheit, wo die ganzheitliche Sicht auf die Person? Unser Gastautor Axel Bernd Kunze plädiert für eine Rückkehr zu einer humanen Bildungspraxis.


ALLE Artikel im Netz auf aka-bklaetter.de lesen und auch das Archiv?

Jetzt kostenlos

Anmelden


„Überhaupt bin ich nach meiner Ansicht der Dinge und nach der Erfahrung, die ich im Leben gemacht habe, der Meinung, daß für die Freiheit, welche akademische Freiheit heißt, fast gar keine Gesetze gegeben werden müssen, sondern daß die Jugend, welche bestimmt ist, einmal die Geister zu führen, durch das freieste Gesetz der Meinung und dadurch der freiesten Meister, durch den Geist beherrscht werden muß. […] Ja, wir müssen es aller Welt sagen, daß unsere Universitäten, daß die akademische Freiheit und der akademische Geist, der wie ein frischer Samen der Tugend und Ehre über das ganze Vaterland ausgesät wurde, unser Vaterland von Sklaverei errettet habe.“

Es war Ernst Moritz Arndt, der dieses Hohelied akademischer Freiheit gesungen hat: 1818 in Bonn zum Professor für Geschichte berufen, 1821 mit Lehrverbot belegt, 1826 im Zuge der Demagogenverfolgung vom Professorenamt suspendiert und 1840 durch Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert. Arndt, dessen Bildungslehre wenig rezipiert worden ist, kennt noch nicht die systematische Unterscheidung zwischen Allgemein- und Fachbildung. Doch gibt es für ihn eine klare Reihenfolge: „Nur im Amtskleide, nur im Amts- und Berufsgeschäfte müßte man den Bürger sehen, weil er da gilt, bei allen anderen Dingen sollte der Mensch immer vorscheinen, das Große vor dem Kleinen.“

Erst der Mensch, dann der Bürger

Zweihundert Jahre später scheint der Ruf nach einer ganzheitlichen Bildung, in dessen Zentrum der Mensch steht, an deutschen Universitäten nahezu verklungen. Im Bemühen, alle berufsrelevanten Wissensbestände eins zu eins in Modulhandbüchern abzubilden, geraten diese nicht selten zu eng gefassten Katalogen, die wenig didaktischen Spielraum offenlassen. Was der Student in den neuen Bachelorstudiengängen bekommt, ist nicht selten austauschbare Massenware, hinter der die einzelne Forscherpersönlichkeit immer weniger sichtbar wird. Berufsqualifizierende Inhalte werden allzu oft als gegeben vermittelt, aber nicht mehr im Einzelnen auf ihre Geltung hin befragt. Der eigenständige Vergleich unterschiedlicher Theorieangebote oder eine historische Rückvergewisserung über die Traditionen des eigenen Faches fallen nicht selten aus, wo die zu vermittelnden Inhalte eng auf die aktuellen Anforderungen – nicht selten auch Moden – des angestrebten Berufsfeldes zugeschnitten werden.

Kein Pädagoge, sondern ein Verfassungsrichter wies im Dezember 2011 in der Frankfurter Allgemeinen darauf hin, dass es bei akademischen Berufen nicht auf kurzatmige Qualifizierung, Wissensvermittlung und Informationsbeschaffung ankomme, sondern entscheidend auf individuelles Verstehen: „Wir müssen“ – so Johannes Masing – „nicht nur wissen, sondern verstehen – und dabei auch verstehen, dass wir oft entscheiden müssen, ohne zu wissen. Nur das kann uns auch zu verantwortlichem Handeln befreien.“

Akademische Berufe verlangen dem einzelnen ein hohes Maß an Freiheit im Denken und Handeln, an Eigenverantwortung und sittlicher Reflexion, an Entscheidungsfähigkeit und Führungsstärke, an sprachlichem Differenzierungsvermögen und gedanklicher Klarheit ab: Eigenschaften, die im Studium von Anfang an grundgelegt werden müssen und nicht erst in ein paar Mastersemestern draufgesattelt werden können. Masing ist durchaus skeptisch, ob die zeitlich verdichteten Studiengänge neuen Zuschnitts entsprechend tragfähig sein werden – und fragt: „[…] braucht ein Arzt, ein Anwalt, ein Richter, ein Lehrer oder ein Banker, nicht eine Grundlage, die ihn mit geistiger Nahrung versieht und ihn in die Lage versetzt, ein berufliches Ethos über Jahrzehnte der Berufstätigkeit durchzuhalten?“

Wer im akademischen Beruf auf eine wissenschaftliche Fundierung leichtfertig verzichtet, wer nicht in der Hektik des Alltags auf ein solides Fundament reflektierter Theoriebildung zurückgreifen kann und wer sich keine Alternativen erarbeitet hat, wird leicht abhängig von Trends und Modeströmungen innerhalb der eigenen Profession, von Vorgaben anderer oder von der öffentlichen, scheinbar allgemein akzeptierten Meinung.

Bildung ist mehr als Wissen oder kurzatmige Qualifizierung. Wer verantwortlich und selbstbestimmt handeln will, muss auch in der Lage sein, das eigene Wissen zu beurteilen, und er muss bereit sein, nach der Bedeutsamkeit dieses Urteils für sein eigenes Handeln zu fragen.

Eine Bildungspraxis, die den Menschen dem Bürger opfern wollte, hätte nicht mehr die Kraft, die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und die einzelnen zur gemeinsamen Vorsorge auf eine noch unbekannte Zukunft hin zu befähigen.

Strategisch, effizient, mit perfekten Lebensläufen – so beschreibt Klaus Wehrle unter dem Titel „Die Perfektionierer“ die neue Bachelorgeneration: „Wie Unternehmensberater durchleuchten Studierende ihre Ausbildung.“ Am Ende stehen für Wehrle nicht Persönlichkeiten, sondern uniformierte Bewerber, denen es an Originalität und Einzigartigkeit, Kreativität und Risikofreude, Mitgefühl und Menschenkenntnis fehle.Sollte diese Prognose stimmen, wäre es für Studentenverbindungen umso wichtiger, ihre Mitglieder zu eigenständigen, reifen, verantwortungsfähigen Persönlichkeiten heranzubilden – nicht als strategischer Karrierevorteil, sondern als Ausdruck einer humanen Haltung, die dem einzelnen Großes zutraut und davon überzeugt ist, dass nur so auch der Gesellschaft am besten gedient ist.

„Ich“-Stärke fördern

Die Aufgabe, „Ich“ zu sagen – zu entscheiden, wer ich sein will und wie ich leben will –, diese Aufgabe kann niemand dem einzelnen abnehmen. Uniformierung, Manipulation oder Anpassung können andernfalls die Folge sein. Eine habituell disponierte Handlungsbereitschaft ist daher nicht gezielt steuerbar. Eine solche entwickelt sich im gemeinsamen Umgang miteinander, in einem Klima, das selbst durch Werte geprägt ist. Befähigung zur Selbstbestimmung ist nur als Aufforderung zur Selbsttätigkeit denkbar. Hierbei aber können studentische Korporationen, die sich als Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft verstehen wollen, ihren Mitgliedern wertvolle Handlungsfähigkeiten vermitteln, die für eine aktive Rolle in Staat, Gesellschaft und Beruf unverzichtbar sind.

Wertorientierte Gruppierungen, die am Prinzip starker Individualität festhalten wollen und sich dem gegenwärtigen Trend zu einer „massendemokratischen Neujustierung des Verhältnisses von einzelnem und Gruppe widersetzen“, haben aktuell einen schweren Stand. Das scharfe Urteil über den gegenwärtigen Trend zur Entindividualisierung stammt aus der Feder des Berliner Medienwissenschaftlers Norbert Bolz. Nicht mehr die individuelle Persönlichkeit, sondern der Rhythmus der Gruppe, nicht mehr die Freiheit der eigenen Meinung, sondern der „Teamgeist“, nicht mehr die individuelle Leistung, sondern die Gruppenzugehörigkeit stehen für ihn gegenwärtig im Vordergrund – mit fatalen Konsequenzen auch für den akademischen Geist der Universität: „Die Wissenschaft ist längst in den Dienst des Gruppenkults getreten. Und an dem typischen Campus-Phänomen der Politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des heterodoxen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen.“

Pointiert und schonungslos beschreibt Bolz jenes Klima, unter dem nicht allein studentische Korporationen in der öffentlichen Meinung leiden. Den Kritikern geht es dabei oft weniger um ein bestimmtes äußeres Verhalten als vielmehr um Gesinnungskontrolle, weniger um Pluralismus und Toleranz als um pseudopartizipatorische Selbstbekenntnisse, weniger um den fairen Wettstreit konkurrierender Positionen als um Programme der Bewusstseinsbildung. Wollten sich Korporationen auf die inquisitorische Prüfung von Gesinnung und deren Kontrolle einlassen, würden sie, solange sie ihren spezifischen Charakter nicht verleugnen und das Toleranzprinzip nicht preisgeben wollen, vermutlich nur verlieren.

Anstiftung zur Freiheit

Studentische Korporationen werden auf absehbare Zeit unzeitgemäß bleiben, aber sie werden Zukunft haben, wenn sie jungen Menschen das bieten, was das gegenwärtige, stark auf gesellschaftliche Zwecke finalisierte Hochschulsystem immer weniger bietet: eine an Prinzipien orientierte Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft, die groß vom einzelnen denkt, die das Individuum zur Selbsttätigkeit freisetzen und – anders als die Bolognareformen – nicht betreuen will, die zum Selbstdenken herausfordert und die den Mut zum eigenen Gedanken weckt, die um den Ernst des Daseins weiß und jene Kräfte stärkt, die notwendig sind, sich dem unproduktiven Gruppendenken zu widersetzen. Dies ist ein anspruchsvolles Programm und verlangt, den einzelnen im Rahmen des Lebensbundes zu fördern, ihn aber auch zu fordern.

Es geht um den Schutz vor geistig-intellektuellem Kontrollverlust. Und es geht um aktive Teilhabe am sozialen Leben, die Solidarität stiftet gegen Macht wie Ohnmacht. Freiheit können wir nicht für uns allein leben, wir brauchen einander, um frei zu sein. Wir schulden daher aber auch einander die Freiheit – verbunden mit dem pädagogischen Auftrag, den anderen immer wieder zur Freiheit zu ermuntern und zu ermutigen. Eine solche Freiheit ist kein fester Besitz, sie muss immer neu errungen und mit Leben gefüllt werden.

Angesichts der gegenwärtigen kulturellen Umbrüche im Bildungssystem erfüllen studentische Korporationen für die Universität und unsere Gesellschaft eine zunehmend wichtiger werdende Rolle als kulturethisches Gedächtnis. Und es bleibt die berechtigte Hoffnung, dass es ihnen auch in Zukunft noch gelingt, junge Menschen für bildungsbezogene Ideale zu begeistern, zur Freiheit anzustiften und in ihnen den Mut zum Selbstdenken zu stärken.

 


...mehr Lesen in den akademischen Blättern oder ganze Ausgaben als PDF?


Jetzt hier kostenlos Anmelden

Axel Bernd Kunze

Dr. Phil., Priv.-Doz. für Erziehungswissenschaft (Univ. Bonn), Lehrbeauftragter für Soziale Arbeit (KSFH München), Allgemeine Pädagogik (PH Ludwigsburg) sowie Didaktik und Methodik an Fachschulen (EH Freiburg), Dozent für Pädagogik und stv. Schulleiter (EFSP Weinstadt).

... alle Beiträge von diesem Autor