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An Nietzsche scheiden sich die Geister. Die einen verachten ihn als Amoralisten, andere bewundern ihn als kühnen Denker. Wir sollten den Mut haben, ihm unbefangen zu begegnen. Ohne eine Portion Wohlwollen geht das freilich nicht.


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800px-Nietzsche1882Am 6. August 1881 unternimmt Nietzsche eine seiner Wanderungen um den See von Silvaplana, unweit der Ortschaft Sils-Maria im Oberengadin. Als er an einem Felsblock haltmacht, überkommt ihn unvermittelt und mit großer Heftigkeit der Gedanke an die „Ewige Wiederkunft des Gleichen“, den er später im „Zarathustra“ um die Lehre vom Übermenschen erweitern wird. Sofort ist ihm klar, dass er, Friedrich Nietzsche, dazu auserkoren ist, „Mundstück“ dieser großen Botschaft zu werden. In pathetischen Worten beschreibt er später in „Ecce Homo“ die Intensität des Gefühls, die Durch-und-durch-Erschütterung, welche ihm am Surlej-Felsen widerfahren ist. Es habe ihn „ein Entzücken“ ergriffen, dessen „ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom“ entladen habe, ein „vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen“. Hatte er tatsächlich eine Art Vision, oder kündigte sich bereits der später einsetzende Wahnsinn an? Aus der Sicht des Nietzsche-Biographen Werner Ross deutet vieles darauf hin, dass Nietzsche den „aufgesetzten Mythos von der Wiederkehr aller Dinge“ bewusst einsetzte, um eine Religion der Diesseitigkeit, der unbedingten Lebensbejahung, zu begründen, mit ihm als Religionsstifter. Die Vision am Surlej-Felsen als Gründungsmythos seiner Lehre.

Just an jenem 6. August 1881 versammelten sich am Kyffhäuser etwa 800 Studenten als Ausdruck einer neuen, mächtigen Bewegung in der deutschen Studentenschaft. Sie folgten damit einem Aufruf der deutschen Studentenvereine aus Halle, Leipzig und Berlin, in dem es hieß: „Heute droht nicht der Feind von außen: heute gilt’s einzutreten für deutsche Art und Sitte, für deutsche Treue und deutschen Glauben. Die unheimlichen Mächte der nackten Selbstsucht und der weltbürgerlichen Vaterlandslosigkeit, die Entsittlichung und Entchristlichung unterwühlen den uralten Boden unseres Volkstums.“ In der Festansprache forderte der Leipziger Vorsitzende Diederich Hahn, zusammen mit Friedrich Naumann einer der Hauptorganisatoren des ersten Kyffhäuser-festes, die Anwesenden auf, der äußeren Reichs-einigung eine innere folgen zu lassen. Es gelte das Haupt zu erheben gegen den herrschenden materialistischen und nihilistischen Zeitgeist. Zwei Tage später, am 8. August 1881, schlossen sich die Vereine Deutscher Studenten Berlin, Leipzig, Halle, Charlottenburg, Greifswald und Kiel zum Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten zusammen.

Nietzsche und der Kyffhäuser-Verband im Jahre 1881: Unterschiedlicher hätten die Positionen nicht sein können. Hier der „Gott-ist-tot“-Philosoph, der jede Form von unbedingter Moral ablehnte, den freien Willen für einen Trugschluss hielt (bis hin zur Lehre von der völligen Verantwortungslosigkeit menschlichen Handelns) und den Deutschen skeptisch gegenüberstand. Dort die Vereine Deutscher Studenten mit ihrem ausgeprägten Pflichtethos, ihrem Bekenntnis zu Nation und Christentum, ihrem Eintreten für Kaiser und Reich. Gab es überhaupt Verbindungslinien zwischen dem VVDSt und Nietzsche? Zunächst einmal muss man wissen, dass Nietzsche im Gründungsjahr 1881 in der Öffentlichkeit noch relativ unbekannt war. Die Resonanz auf seine Werke blieb weitgehend aus. Erst als er im Jahr 1889 in die geistige Umnachtung fiel, änderte sich dies schlagartig. Insbesondere unter der Jugend fanden seine Schriften zunehmend Anklang. Auch die VDSter wurden in den 1890er Jahren mit Macht von seinen Gedanken erfasst. Diese Annäherung an Nietzsche kam nicht zuletzt durch einen sich radikalisierenden Nationalismus innerhalb des Kyffhäuser-Verbandes zustande. Der Nationalismus wurde völkischer, biologistischer, hemmungsloser, bis hin zu unverhohlener rassistischer Ablehnung der Juden. Allenthalben führte man das Darwinsche Wort vom „Kampf ums Dasein“ im Munde. Es gab einen wortmächtigen Flügel im KV, der Nietzsche primär als den philosophischen Übersetzer Darwins interpretierte. Sein „Alles ist erlaubt“ kam da gerade recht. Bei rechtem Licht besehen handelte es sich jedoch um ein Missverständnis, mindestens aber um eine unzulässige Vergröberung des Übermenschen-Konzeptes. Davon wird später noch zu reden sein.

Neun Jahre vor dem Sils-Maria-Erlebnis, im Jahre 1872, hatte Nietzsche sein Erstlingswerk, die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, veröffentlicht. Dieses stand noch ganz im Zeichen des Einflusses seines einstigen Mentors und Vorbildes Richard Wagner. In der „Tragödienschrift“ stellt der junge Nietzsche der auf Erkenntnis und Wissenschaft gegründeten sokratischen Kultur, die „das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt“ begreift, eine tragisch gefasste, dionysische Kultur entgegen. Einzig durch die Kunst sei der Mensch in der Lage, die Absurdität des Daseins zu ertragen. „Das Dasein und die Welt“, so der berühmt gewordene Satz, „ist nur als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt“. Doch bereits in der 1874 erschienenen zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) deutet sich ein Paradigmenwechsel in Nietzsches Denken an. Die maßlose Verehrung Richard Wagners, in deren Zeichen noch die „Geburt der Tragödie“ stand, tritt nun zunehmend in den Hintergrund zu Gunsten einer Hochschätzung alles Individuellen. Große Hoffnungen setzt er diesbezüglich in die Jugend, „jenes ersten Geschlechtes von Kämpfern und Schlangentödtern, das einer glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit voranzieht.“ Sie soll Geschichte nicht länger rezipieren, sondern den Mut haben „Geschichte zu machen“. Mit seiner in Abwandlung von Descartes’ „cogito, ergo sum“ vorgetragenen lebensphilosophischen Variante „vivo, ergo cogito – Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!“ wird er zum Stichwortgeber der Jugendbewegung der 1890er Jahre.

„Misstrauen gegen den deutschen Charakter“

In der dritten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ (Schopenhauer als Erzieher) findet Nietzsche allmächlich seinen eigenen Ton. Erstmals scheint auch sein „Misstrauen gegen den deutschen Charakter“ auf, das sich im Spätwerk zu einem regelrechten Deutschenhass auswachsen wird. Nur noch zaghaft erklingt das Loblied auf die deutsche Musik, auf den Mythos als notwendiges Element einer gesunden Kultur. Kein Wort mehr von der „Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens“, wie es noch im Vorwort der „Tragödienschrift“ hieß. In zähem Ringen mit sich selbst legt er den Gestus der unkritischen Heiligenverehrung gegenüber seinen einstigen Heroen Wagner und Schopenhauer ab. Statt dem Drang nach unbedingter Huldigung nachzugeben, will er etwas Neues versuchen: nämlich Redlichkeit gegen sich selber zu üben, „zunächst aber zu lernen, dass unbedingte Huldigungen von Personen etwas Lächerliches sind“. Die psychologische Erklärung dafür liefert er gleich mit: „Die schwärmerische, bis zum äußersten gehende Hingebung an eine Person oder Partei verrät, dass wir im Geheimen uns ihr überlegen fühlen und darüber mit uns grollen. Wir blenden uns gleichsam zur Strafe dafür aus, dass unser Auge zu viel gesehen hat.“

Später wird sich Nietzsche unmissverständlich von den „metaphysisch-künstlerischen Ansichten“ seines Frühwerkes abgrenzen. Die vor allem in der „Tragödienschrift“ vorgetragene Hochpreisung der ästhetischen Lebensform, namentlich der Kunst als „Schutz- und Heilmittel“ gegen die tragische Erkenntnis ist ihm nun „unhaltbar“. Im 1886 neu verfassten Vorwort nennt er die „Geburt der Tragödie“ gar ein „unmögliches Buch, – ich heiße es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig, gefühlsam …– ein hochmütiges und schwärmerisches Buch“. Zu Gunsten der Argumentation einiger Nietzscheforscher, er habe „schon in seinen frühen Schriften zu der Aufgabe, den wichtigsten Themen und leitenden Unterscheidungen seines Philosophierens gefunden“ (Stegmaier, „Nietzsche zur Einführung“, 2011, S. 120) ist anzuführen, dass Nietzsche seinen Ästhetizismus in seinen späteren Schriften, in abgemilderter Form, erneut aufgreifen wird. Wenn wir etwa in Aphorismus 107 der „Fröhlichen Wissenschaft“ lesen: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich“, klingt unverkennbar der frühe Nietzsche nach.

„Nie etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir!“

In der mittleren Werkphase – beginnend mit „Menschliches, Allzumenschliches“ – vollzieht sich ein deutlicher Bruch im Werk Nietzsches. Mit der ihm eigenen Konsequenz wendet er sich nun dem strengen, leidenschaftslosen, nach Erkenntnis strebenden Denken zu. Nietzsche prüft den kalten Blick. Er beschwört den Geist der Wissenschaft als notwendige Vorstufe zu einer höheren Kultur. Im Hinblick auf alles, was man später treibe, sei es „sehr schätzbar einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein“. Da die Menschheit als Ganzes keine Ziele habe, gehe es nur darum, „immer besser zu erkennen“, sich im „freien furchtlosen Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen“ zu üben. In  „Menschliches, Allzumenschliches“, ein großes Werk der Weltliteratur, gelangt Nietzsches Denken zu seiner schönsten Blüte. Er versucht sich an einer Synthese aus Leidenschaft und Ratio. Unabdingbare Voraussetzung einer höheren Kultur sei es, „dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern zu geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden … In einem Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft muß den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden.“ Als „entscheidendes Zeichen großer Kultur“ sei es zu betrachten, wenn jemand „jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in anderen Momenten, auch befähigt, der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritt vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden.“ Kann man es schöner ausdrücken?

Bisweilen begegnet uns in diesem erstaunlichen Buch ein bescheidener, weicher, nicht selten sanftmütiger Nietzsche (ja, den gibt es auch!). Wer hätte gedacht, dass Sätze wie „Man muß lieben lernen, gütig sein lernen, und dies von Jugend auf“ oder „Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne“ aus der Feder Nietzsches stammen? An anderer Stelle nennt er es einen Akt der Klugheit „mit dem Christentum den Segen über seine Feinde zu sprechen und denen wohlzutun, die uns beleidigt haben“. Freilich, wer festen Willens ist, Nietzsche als Denker zu diskreditieren, ihn für alles Böse der Welt – angefangen von der Dekadenz des Fin de Siècle bis hin zu den Verbrechen des 20. Jahrhunderts – verantwortlich zu machen, wird es tunlichst vermeiden, die humanen Seiten seines Denkens auch nur anzudeuten. Die Wahrheit ist: Nietzsche war ein Menschenfreund, der (soviel sei hier zugegeben) alles dafür tat, diesen Zug seines Charakters durch eine stets martialische Pose zu überdecken.

Die mittlere Werkphase, die sogenannte Freigeist-Epoche, ist deshalb von so großer Bedeutung, weil Nietzsche hier den eigentlichen Glutkern seines Denkens, das „Werde Du selbst!“ entfaltet. Dies verlangt: „Nie etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur Redlichkeit des Denkens.“ Neben seinen unablässigen Angriffen auf das Christentum, die gleichsam die Grundierung seines gesamten Werkes bilden, ist die Aufforderung zur Individuation das zentrale Motiv seines Denkens. Nietzsche will seine Leser zu einem radikalen, weil in letzter Konsequenz eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Leben, führen: „Du sollst Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder  einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke.“ In diesem Sinne bedeutet „Wille zur Macht“ vor allen Dingen, Macht über sich selbst zu gewinnen. Sich zu einer ganzen Person machen. Leben, nicht gelebt werden.

Der bürgerlichen Moral stellt er eine „vornehme Moral“ entgegen, deren Kennzeichen ein „triumphierendes Ja-sagen zu sich selber“ ist, ein „tapfres Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben.“ Der Wille zur Selbstbestimmung, zur Selbst-Wertschätzung, ist für Nietzsche nicht zuletzt eine Forderung des Erhaltes der eigenen psychischen Gesundheit. „Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe verführen!“ Menschen und Völker bekommen, so Nietzsche, erst dadurch Glanz, dass sie individuellen Handlungen, also „jenen Handlungen, welche überhaupt Wert haben, im Guten und Schlimmen“ ein absolutes Übergewicht zugestehen.

Auf heutige Verhältnisse übertragen: Raum schaffen für die individuelle Entfaltung von Kindern und Jugendlichen, normabweichendes Verhalten zu-lassen, Kreativität fördern! Mehr Persönlichkeitsbildung. Den überangepassten Managern und Karrieristen, den Workaholics und Opportunisten, den ewigen Weltverbesserern und Ach-so-politisch-Korrekten würde er zurufen: Lernt endlich Selbstdenken! Eure Geschäftigkeit, euer blinder Eifer für Gerechtigkeit, Toleranz und Gleichheit ist nur ein Ausdruck eurer Unfähigkeit, nach eigenen Maßstäben zu leben und entsprechend zu handeln. In Wahrheit seid ihr zu einfältig und faul, „Wasser aus eurem eigenen Brunnen zu schöpfen“ und euch die Motive eures Handelns bewusst zu machen. Wollt ihr nicht zur Besinnung kommen? Für die Facebook-Enthusiasten hätte Nietzsche nur Verachtung übrig: Ihr Herdentiere, ihr mutwilligen Verkleinerer des einst stolzen Menschengeschlechts, habt ihr die Offenheit und den Mut verloren, von Angesicht zu Angesicht mit euresgleichen zu kommunizieren? Stattdessen versteckt ihr euch hinter Pseudonymen und leeren Phrasen. Pfui!

In der 1882 erschienenen „Fröhlichen Wissenschaft“ inszeniert sich Nietzsche schließlich als Genesenden, der „nach langer Entbehrung und Ohnmacht das Frohlocken der Wiederkehrenden Kraft“ spürt. Das Stück „Wüste, Erschöpfung, Unglauben“ welches er in den letzten Jahren durchwandert hat, glaubt er nun hinter sich zu haben. Aus den Zeugnissen seiner wenigen verbliebenen Freunde, Heinrich Köselitz alias Peter Gast war einer von ihnen, wissen wir, dass zumindest die körperliche Genesung nichts weiter war als ein Akt der Selbstsuggestion. Nach wie vor wird Nietzsche von heftigen Kopfschmerzattacken geplagt, bis hin zu Ohnmachtsanfällen; die Wetterempfindlichkeit steigerte sich ins Extreme. Sein Augenlicht ist mittlerweile so schwach, dass er die Gesichter der Menschen kaum noch erkennen kann. Köselitz schreibt aus Venedig, er müsse ihn führen wie einen Blinden.

Erholung sucht Nietzsche im Hochgebirge. Sils-Maria im Oberengadin, bis heute untrennbar mit seinem Namen verbunden, wird ihm zum Zufluchtsort. Hier entsteht im Januar des Jahres 1883, 10 Monate nach seinem Erweckungserlebnis am Surlej-Felsen, in einem 10tägigen Schaffensrausch der erste Teil des „Zarathustra“. „Mir ist zu Muthe“, schreibt er am 10. Februar 1883 an Franz Overbeck, „als hätte es geblitzt – ich war eine kurze Spanne Zeit ganz in meinem Elemente und in meinem Licht.“ Gleich zu Anfang lässt Nietzsche seinen Zarathustra die Lehre vom Übermenschen verkünden. Mit dem Übermenschen greift er ein Motiv wieder auf, das er bereits in der mittleren Werkphase beständig umkreist hat – das Thema der Selbstwerdung durch Selbstgestaltung. Insofern handelt es sich nicht eigentlich um ein neues Konzept; ein bereits angelegtes Motiv wird lediglich variiert und weitergeführt. Zarathustras Rede vom Übermenschen hat von Beginn an Missverständnisse aller Art auf sich gezogen. Bis heute hält sich zäh das Klischee, beim Übermenschen handle es sich um eine Chiffre für einen Menschen höheren biologischen Typs. Nietzsche selbst hat sich vehement gegen eine einseitige Vereinnahmung durch den Darwinismus verwahrt („Andres gelehrtes Hornvieh hat mich des Darwinismus verdächtigt“). Zwei Punkte sind es im wesentlichen, die Nietzsche von Darwin abheben: Da ist zum einen die stärkere Betonung des Geistes. Für Nietzsche ist die Höherentwicklung des Menschen in erster Linie ein Produkt der freien Tat, eine Art bewusste Schöpfung. Das Modell der bewusstlosen Entwicklungslogik im Tierreich kann nicht einfach auf den Menschen übertragen werden. Zum anderen war Nietzsche viel zu sehr Psychologe, um den „berühmten Kampf ums Dasein“ als „einzigen Gesichtspunkt“ aufzufassen, mit dem „das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen oder einer Rasse“ erklärt werden kann. Er war vielmehr davon überzeugt, dass „gerade die schwächere Natur, als die zartere und feinere alles Fortschreiten überhaupt erst möglich macht.“ Erstaunlich genug, dass es auch heute noch selbsternannte Nietzsche-Experten wie Domenico Losurdo gibt, die den Übermenschen in plumper Manier mit der Naziideologie in Verbindung zu bringen versuchen.

Soweit das darwinistische Missverständnis. Kommen wir nun zum idealistischen. In „Ecce Homo“ beschwert sich Nietzsche darüber, dass sein Übermensch „fast überall mit voller Unschuld als ‚idealistischer’ Typus einer höheren Art Mensch, halb ‚Heiliger’, halb ‚Genie’“ missverstanden werde. Dies ist wohl zu deuten als endgültige Abkehr der noch für das Frühwerk charakteristischen Bewunderung für alles Künstlerisch-Genialische. Der Übermensch im „Zarathustra“ ist vielmehr zu verstehen als ein im Menschen angelegtes Potential zum Über-sich-Hinauswachsen. Jeder kann und soll zum Regisseur seines eigenen Lebens werden! Oder um es mit den Worten Christian Niemeyers auszudrücken: „Der Übermensch steht für den Versuch Nietzsches dem Menschen ein Anrecht zu verschaffen, sich für seine höheren Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen.“

Anders gewendet: Nietzsches Übermensch ist in erster Linie ein Konzept gegen den von ihm so verachteten „letzten Menschen“, der nach Gleichheit und Herde trachtet, sich mithin mutwillig selbst verkleinert. Die Pointe läuft nicht etwa auf die Züchtung des Übermenschen hinaus, sondern auf die Überwindung des Nihilismus durch ein selbst-gestaltetes Leben. Allen Versuchen in der neueren Nietzscheforschung zum Trotz, einem Nietzsche ohne den „Zarathustra“ das Wort reden zu wollen, darf man dieses sprachlich brillante „Büchlein“ getrost als sein Hauptwerk betrachten. Zumindest wenn man Nietzsches Worte ernst nimmt, „seine ganze Philosophie“ verberge sich in den darin enthaltenen „schlichten und seltsamen Worten“. Darüber hinaus lasse er „niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat“. Zugleich ist der „Zarathustra“ eine der am schwersten zugänglichen Schriften seines Werkes, nicht zuletzt deshalb, weil viel persönlich Erlebtes darin enthalten ist. Worin aber besteht nun der eigentümliche Zauber des „Zarathustra“? Es ist die Unmittelbarkeit der Sprache. Nietzsche wirft sich als ganze Person in die Waagschale. Wenn Nietzsche recht hatte, und das Denken Kants in erster Linie eine „Biographie eines Kopfes“ war, so handelt es sich beim Zarathustra gewiss um die Biographie einer großen Seele.

Nietzsche gibt es nur unplugged. Sein Denken kennt keine Hintertürchen. In allen seinen Schriften widersteht er – sehr zum Vorteil des Lesers – der Versuchung, neben seinen Gedanken, auch das Denken seiner Gedanken mitzuteilen. Man sollte sich jedoch davon nicht täuschen lassen; Nietzsche verlangt seinen Lesern erhebliche Anstrengungen ab. Er selbst weist wiederholt auf die Fallstricke hin, die in seinen Schriften lauern. So beklagt er, man nehme „die aphoristische Form nicht schwer genug. Ein Aphorismus ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht entziffert; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen.“ Dies setze voraus, dass man zuerst seine „früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der Tat nicht leicht zugänglich.“

Nietzsche gibt es nur unplugged

Freilich, nicht selten lässt er sich von seinen Gedanken fortreißen. Nietzsche macht – sehr zum Verdruss seiner Kritiker – keinerlei Anstalten, seinen Gedanken Einhalt zu gebieten. Er ist ein im Wortsinne maßloser Denker, der wie kein anderer von der „Magie des Extrems“ (Karl Jaspers) angezogen ist: „Ich lobe mir den Vortschritt und die Vortschreitenden, das heißt die, welche sich selber immer wider zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen jemand sonst nachkommt.“ Nun wäre es aber keineswegs im Sinne Nietzsches, ihm bis in den letzten Winkel seines Denkens zu folgen. Es sei „durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, Partei“ für ihn zu ergreifen: „im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir.“

Die Zugänglichkeit seiner Texte wird dadurch erschwert, dass es ihm bisweilen Freude zu bereiten scheint, Verwirrung in den Köpfen seiner Leser anzurichten. Er selbst ist sich dieses Problems durchaus bewusst: „Man pflegt mich zu verwechseln: ich gestehe es ein; insgleichen, daß mir ein großer Dienst erwiesen wäre, wenn Jemand Anderer mich gegen diese Verwechslungen vertheidigte und abgrenzte.“ Tatsächlich war Nietzsche zu seinen Lebzeiten desaströs erfolglos. Mehr lakonisch als verzweifelt bemerkt er dazu: „Warten wir 100 Jahre ab: vielleicht gibt es bis dahin irgendein Genie von Menschenkenner, welches Herrn Friedrich Nietzsche ausgräbt.“ Nietzsche sollte recht behalten. Über lange Jahre hinweg stand die Nietzsche-Rezeption im Schatten einer verhängnisvollen Editionspolitik. Eine besonders unrühmliche Rolle im großen Fälschungswerk spielte seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, langjährige Leiterin des Weimarer Nietzsche-Archivs und Ehefrau von Bernhard Förster (einem der Initiatoren der Antisemitenpetition). Eines ihrer Ziele war es, zu zeigen, dass Nietzsches Bücher Ausdruck einer in sich geschlossenen Gesamtdarstellung sind. In diese Richtung zielte insbesondere ihre unsachgemäße Kompilation seines angeblichen Hauptwerkes „Der Wille zur Macht“, das 1906 in zweiter Version erschien. Auch im Falle von „Ecce Homo“, der Autobiographie Nietzsches, hatte sie ihre Finger im Spiel. Stein des Anstoßes war ein in letzter Minute nachgereichtes Manuskriptblatt, in dem es hieß: „Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann.“ Wenige Zeilen später schließt sich eine abfällige Äußerung über Kaiser Wilhelm II. an: „Ich würde dem jungen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein.“ Beide ihr nicht genehmen Bemerkungen veranlassten sie dazu, eine Verfügung Nietzsches frei zu erfinden, „Ecce Homo“ dürfe niemals veröffentlicht werden. Mit 20 Jahren Verspätung gelangte es 1908 in verstümmelter Form schließlich doch noch auf den Markt.

„Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen!“

Vieles deutet darauf hin, dass Förster-Nietzsche mit Hilfe ihres berühmten Bruders die Botschaft ihres antisemitischen Ehemanns Bernhard Förster, der sich 1889 das Leben genommen hatte, verbreiten wollte. Dessen militante antisemitische Gesinnung teilte Nietzsche ganz und gar nicht. Eines der wichtigsten Zeugnisse für den Anti-Antisemitismus Nietzsches, die Briefe an Theodor Fritsch vom März 1887, wurde von seiner Schwester sorgsam unter Verschluss gehalten. Worum ging es? Theodor Fritsch, Verleger aus Leipzig, versuchte Nietzsche als Autor für die „Antisemitische Korrespondenz“ anzuwerben. Nietzsche antwortete postwendend: „Dieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den Werth von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter ‚Autoritäten’, welche von jedem besonneneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden … , diese beständigen absurden Zurechtmachungen der vagen Begriffe ‚germanisch’, ‚semitisch’, ‚arisch’, ‚christlich’, ‚deutsch’ – das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen.“ Mit „diesen verfluchten Antisemitenfratzen“ wolle er nichts zu tun haben. Nietzsche sah in ihnen eine gefährliche Horde von Mittelmäßigen und Zu-Kurz-Gekommenen, die sich von „Neid, Ressentiment und ohmächtiger Wuth“ leiten ließen.

In Deutschland wurden – deshalb konnte sich das Bild vom angeblichen Antisemiten Nietzsche überhaupt so lange halten – die Briefe an Fritsch erst 1975 publik. Selbst wenn man die Briefe nicht kennt, muss man schon Augen und Ohren fest verschlossen halten, um Nietzsche eine Nähe zum Antisemitismus unterstellen zu wollen. Über die Juden spricht er wiederholt anerkennend. Er attestiert ihnen „Tatkraft“, „Intelligenz“ und verurteilt es, „die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen“. Nicht selten spricht er bewundernd vom Judentum. Ihm verdanke man „den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt.“Die spätere Vereinnahmung Nietzsches durch die Nazis ist vor diesem Hintergrund geradezu grotesk. Nietzsche, der Freigeist par excellence, der Verächter allen Herdenmenschentums, wird von den dumpf-braunen Horden für ihre menschenverachtende Ideologie vereinnahmt – welch eine Tragödie! Trauriger Höhepunkt der unseligen Allianz zwischen dem Weimarer Nietzsche-Archiv und den Nationalsozialisten ist Hitlers Besuch am 2. November 1933 in Weimar, bei dem Elisabeth Förster-Nietzsche dem Führer den Degenstock ihres Bruders und ein Exemplar der Antisemitenpetition ihres verstorbenen Gatten überreicht. Ernst Krieck, einflussreicher nationalsozialistischer Philosoph, ist ehrlich genug, um auf die völllige Unvereinbarkeit von Nietzsches Denken mit der Naziideologie hinzuweisen: „Alles in allem: Nietzsche war Gegner des Sozialismus, Gegner des Nationalismus und Gegner des Rassegedankens. Wenn man von diesen drei Geistesrichtungen absieht, hätte er vielleicht einen hervorragenden Nazi abgegeben.“

In jüngerer Zeit nehmen sich Nietzscheforscher verstärkt der Aufgabe an, Nietzsches Denken in seiner ursprünglichen Intention freizulegen. Stellvertretend sei hier Christian Niemeyer erwähnt, der mit seinem Buch „Nietzsche verstehen“ (Lambert Schneider, 2011) in akribischer Arbeit verfehlte Lesarten richtigstellt. Wer es kürzer mag, dem sei Nietzsches Rat anempfohlen: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach – sondern dir! Sondern dir!“


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Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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