Freiheit, die wir meinen

In der Kritik an den Überwachungsprogrammen angloamerikanischer Geheimdienste geht es den deutschen Politikern und Meinungsmachern angeblich um die Verteidigung der Freiheit. Aber so freiheitsliebend sind wir Deutschen in Wahrheit nicht; ein Schuss mehr Demut stünde uns gut an.


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An jenem Tag im Juni starb ein Stück deutscher Freiheit. Lange hatte die Regierung auf das neue Gesetz gedrängt, lang das Parlament diskutiert, lang liberale Geister opponiert, taktisch verzögert durch endlose Geschäftsordnungsdebatten. Aber zu drängend schienen jetzt die Probleme, zu eindeutig die öffentliche Meinung, zu groß die Bedrohung durch jene staatsgefährdende neue Kraft, als dass man sich der relativ bescheidenen, mit Augenmaß geplanten Reformvorhaben noch erwehren konnte; wenn sie sich nicht bewährten, nun denn, in einigen Jahren würde man gewiss noch nachsteuern können. Also stimmten die Parlamentarier zu, einige mit bösem Gewissen. Doch ein Zurück gab es danach nicht mehr; der Staat drang vor in die Lücke, die sich geöffnet hatte, und dehnte sich aus in Bereiche, die zuvor Privatsache gewesen. Von nun an konnten die Arbeiter nicht mehr frei wählen, ob sie krankenversichert sein wollten oder nicht; Bismarcks Regierung und der Reichstag, kurz: die Obrigkeit, entschieden für sie – es herrschte, wie man im Gesetz nachlesen konnte, „Versicherungszwang“.

1883. Lang ist das her, und mit dem Abstand von einhundertdreißig Jahren, in denen wir uns an das System der Pflichtversicherungen für immer mehr Berufsgruppen gewöhnt haben, erscheint es uns Heutigen merkwürdig, wie man über solche Fragen überhaupt diskutieren konnte. Wir haben uns angewöhnt, die Sozialreformen als großen Fortschritt anzusehen, und das waren sie. Die Not in den Fabriken und den Wohnvierteln der Arbeiter war himmelschreiend damals, und wenn staatliche Zwangsversicherungen ein wenig dazu beitragen konnten, sie zu lindern, wie konnte man sie hindern wollen im Namen der Freiheit des einzelnen, autonom darüber entscheiden zu können, ob man sich privat versicherte oder nicht, einer Freiheit, die angesichts der Armut der Betroffenen doch ohnehin nur eine Scheinfreiheit war?

Doch so weit weg ist das Thema nicht. Nicht 130 Jahre, nur einen Transatlantikflug entfernt, hatte die Regierung von Präsident Obama den gleichen Kampf zu kämpfen wie weiland Reichskanzler Bismarck. Und es kostete sie ungleich mehr Mühe. Die Gesundheitsreform, die um den Preis vieler Kompromisse und Tauschhändel im März 2010 vom amerikanischen Kongress mit knapper Mehrheit verabschiedet und vom Obersten Gerichtshof mit fünf gegen vier Stimmen mit Einschränkungen bestätigt wurde, sieht de iure noch immer keinen Versicherungszwang vor (allerdings eine Strafsteuer bei Nichtversicherung). Die vorangegangene Debatte hatte Züge eines Glaubenskampfes getragen. Und die Gegner operierten mit ebenjenem alten Argument: Privatautonomie und Begrenzung des staatlichen Einflusses, mit einem Wort: Freiheit.

Was ist Freiheit?

Das gleiche Land, für das eine obligatorische Krankenversicherung eine fast unzumutbare Freiheitseinschränkung darstellt, leistet sich nun seit über einem Jahrzehnt einen riesigen Überwachungsapparat mit nie gekannten technischen Möglichkeiten, späht hemmungslos die Kommunikation in anderen Erdteilen aus; geht auch bei der eigenen Bevölkerung über das Maß an Beobachtung hinaus, das sich die kontinentaleuropäischen Demokratien leisten, und findet wenig dabei. Amerika, ein schizophrenes Land?

Aber das ist so ungewöhnlich nicht. Alle Völker haben ein schizophrenes Verhältnis zur Freiheit, oder, anders gesagt, halten unterschiedliche Freiheiten für wichtig und haben verschiedene Sicherheitsbedürfnisse und entscheiden sich in der Abwägung nicht immer konsistent. In Amerika wiegt das verfassungsmäßige Recht, Waffen tragen und das eigene Heim verteidigen zu dürfen, schwerer als die vielen Todesopfer, die es regelmäßig fordert; in Deutschland werden die wenigen, ohnehin streng kontrollierten Waffenbesitzer, die Jäger und die Sportschützen, nach jedem Amoklauf mehr gegängelt. Dafür leisten sich die sicherheitsbedürftigen Deutschen riesige Autobahnstrecken mit freier Fahrt für freie Bürger, ohne Tempobeschränkung, trotz tausender Verkehrstoter jedes Jahr; die Amerikaner tun das nicht. Wenn die Amerikaner „Waffennarren“ sind, so sind die Deutschen „Autonarren“. Aber man soll es nicht gleich zur Narretei erklären, wenn ein Volk seine Freiheiten liebt.

Wenn in den regelmäßig wiederkehrenden Diskussionen um Maßnahmen und Befugnisse der verschiedenen Sicherheitsbehörden das Gegensatzpaar von Freiheit und Sicherheit und die immergleichen, alten Zitate bemüht werden, dass man die Sicherheit nicht um den Preis der Freiheit verteidigen könne, sollte man sich bewusst bleiben, dass es diesen Gegensatz nicht nur im Bereich von Militär, Polizei und Geheimdiensten gibt, sondern überall, wo der Staat zur Sicherung des Wohlergehens seiner Bürger diese zu ihrem Glück zwingen zu müssen meint.

Dimensionen der Sicherheit

Kein Land ist jemals frei von Widersprüchen, wundersame Liberalität auf dem einen Gebiet und wundersame Restriktivität auf dem anderen findet man diesseits und jenseits des Atlantiks. Aber es gibt doch Grundtendenzen. In groben Strichen gezeichnet: Die Deutschen mögen, aus historischen Gründen, Militär, Polizei und Geheimdienste nicht. Ihnen ist der schützende, wehrhafte Staat mit Soldaten, Polizisten und Staatsanwälten unangenehm, der fürsorgliche Staat mit Sozialarbeitern und Verbraucherschützern und Verwaltungsbeamten lieber. In Amerika, ebenso aus historischen Gründen, ist es anders. Dort lässt man dem Staat als Sicherheitsbehörde mehr Raum, auch dem harten, dem strafenden Staat; verbittet sich aber sonstige Einmischung in private Belange.

Man mag ewig darüber streiten, was besser ist. Die Amerikaner können für sich reklamieren, dass die Sicherheit der Bürger natürliche Kernkompetenz des Staates ist, so selbstverständlich, dass man sie in keine Verfassung hineinschreiben muss und dort oftmals nur die Beschränkungen der staatlichen Gewalt kodifiziert, es insofern, wenn man das Wort auch nicht mag, tatsächlich ein Supergrundrecht auf Sicherheit gibt; und dass es durchaus Ansichtssache ist, wer dem Bürger mehr Freiheit nimmt, der Staat, der in Massen E-Mails ausspäht, fast immer, ohne sie gegen ihn zu verwenden, oder der Staat, der den Bürgern die Hälfte des Einkommens abzweigt zur Finanzierung der Umverteilungsphantasien einer elitären Minderheit. Für die deutsche und kontinentaleuropäische Sicht sprechen die Zweifel an der Wirksamkeit des ganzen Überwachungsaufwandes, die Furcht vor der Eigendynamik der Entwicklung, den Auswirkungen des ewigen Ausnahmezustandes, da der Kampf gegen eine vergleichsweise kleine Zahl verstreuter Terroristen im Gegensatz zu konventionellen Kriegen, in denen auch Ausnahmeregeln galten, kaum jemals enden kann.

Beide haben recht, und beide haben unrecht. Wichtig ist nur, dass man sich der Inkonsistenzen der eigenen Haltung bewusst ist und weiß, dass man fehlbar bleibt. Für die deutsche Seite gilt, es nicht für gottgegeben zu halten, dass man dem Staat im Bereich der Sicherheitspolitik wenig, im Namen des Umweltschutzes oder der Gesundheitsvorsorge oder der sozialen Ausgewogenheit aber – die in letzter Konsequenz auch die physische Sicherheit des Bürgers zum Ziel haben – fast alles zugesteht: zwangsweise vorgeschriebene Solarzellen auf dem Dach bei Neubauten, Glühbirnenverbote, Rauchverbote in öffentlichen Lokalen, Mietobergrenzen und so weiter, und so fort.

Man müht sich, dieses Eingreifen ins Private vom Vorgehen der Sicherheitsbehörden zu unterscheiden, indem man auf die Argumentation zurückgreift, in diesen Fällen trete der Bürger dem Staat ja nicht als Bürger an sich gegenüber, sondern als Produkthersteller, Händler, Wirt, Vermieter, Hausbesitzer; bewege sich somit in der Sozialsphäre und nicht in seiner Privatsphäre, und diese Fragen seien somit solche der persönlichen Freiheit nicht. Ein kluges Argument. Aber es wird zum Sophismus, wenn hinter der staatlichen Gängelung etwa von Unternehmen nur die Absicht steht, über diesen Umweg das Verhalten des Endkunden zu ändern, zum Wohle der Umwelt oder der Gesundheit oder der sozialen Gerechtigkeit. Dann werden der Politiker, der Gesetze erlässt, und der Beamte, der Gesetze durchsetzt, zum Volkserzieher, ohne dazu berufen zu sein.

Schwierige Balance

Deutschland also auf dem Weg zum Bevormundungsstaat, Amerika auf dem Weg zum Überwachungsstaat? Letztlich sind das nur Vokabeln. Wenn die eine Tendenz schlecht ist, wird die andere dadurch nicht richtig, und wenn das amerikanische Sicherheitsbedürfnis das Freiheitsbedürfnis deutscher Bürger unterläuft, muss ein Streit auch unter Freunden ausgetragen werden. Aber etwas mehr Augenmaß und weniger Selbstherrlichkeit auf deutscher Seite täten wohl.

Dazu gehört, zum Beispiel, sich vor geschmacklosen historischen Vergleichen zu hüten und die National Security Agency nicht mit Überwachungsschergen aus den deutschen Diktaturen in einem Atemzug zu nennen. So als ob das Hauptverbrechen von Stasi und Gestapo im Lesen von Briefpost bestanden hätte und nicht darin, unschuldige Bürger mit den gewonnenen Informationen aus dem Lande zu ekeln oder zum Dienst am Regime zu bewegen oder an den Galgen zu bringen. Amerika ist ein freies Land, vielleicht noch immer ein freieres Land als es die mitteleuropäischen sind, wer will das entscheiden. Nach allem, was man bisher weiß, geht es mit den Informationen, die es sammelt, verantwortungsvoll um. Das macht die Sammlung nicht richtig, sollte aber dazu führen, das Maß der Kritik zu dosieren. Entscheidend ist nicht, was ein Staat weiß. Entscheidend ist, was er mit seinen Informationen tut.


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