Gaudeamus igitur – Eine Spurensuche

Als Johannes Brahms 1879 von der Universität Breslau die Ehrendoktorwürde verliehen bekam, revanchierte er sich mit einer Komposition. Es war die Ademische Festouvertüre, op. 80 in cmoll, die in etwa einer Viertelstunde vier Studentenlieder zum Thema hat. Als erstes Lied wird „Ich hab mir ergeben“ zitiert, das freilich den Geschmack der damals durchaus national gesinnten

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Als Johannes Brahms 1879 von der Universität Breslau die Ehrendoktorwürde verliehen bekam, revanchierte er sich mit einer Komposition. Es war die Ademische Festouvertüre, op. 80 in cmoll, die in etwa einer Viertelstunde vier Studentenlieder zum Thema hat. Als erstes Lied wird „Ich hab mir ergeben“ zitiert, das freilich den Geschmack der damals durchaus national gesinnten Universitätszirkel wird getroffen haben. Schließlich „Alles schweige“ und „Was kommt dort von der Höh’“, ein Lied das bis heute Teil des so genannten Fuchsenrittes ist. Den Abschluss bildet „Gaudeamus igitur“, das – nach einem tonartlichen Wechsel von c-moll nach C-Dur und einem Taktwechsel vom Vierviertel- in den Dreivierteltakt – im vollen Bläsersatz und umrankt von allerlei Streicherläufen einen strahlenden Abschluss bildet.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Brahms „Gaudeamus igitur“ an den Schluss gestellt hat. Es gilt wie kaum ein anderes Lied als Studentenlied par excellence. Dabei wurde das Lied schon zu Zeiten gesungen als an Kneiptafeln noch nicht zu denken war und Studentenverbindung sich erst allmählich zu formieren begannen. Grund genug für eine Spurensuche der durchaus komplexen Genese. Die heute verbreitete Textfassung und die heute geläufige Melodie tauchen erstmals in einem Liederbuch des damals hallensischen Theologiestudenten Christian Wilhelm Kindleben auf. Das Liederbuch, das den schlichten Titel „Studentenlieder“ trägt, fasste zwischen zwei Deckeln ein bislang nur mündlich tradiertes Repertoire zusammen. Dabei war es das Anliegen des Sammlers, die Texte von allzu starken Anzüglichkeiten zu befreien. Offensichtlich gingen die Meinungen bezüglich des Grades der Anzüglichkeiten von ihm und der Professorenschaft auseinander, zumindest verwies der Prorektor der Universität ihn der Stadt. Als Anfang des 19. Jahrhunderts durch die ersten Kommersbücher der Kanon des studentischen Repertoires Vereinheitlichung Erfahrung, wird man sicherlich auf Kindlebens „Studentenlieder“ zurückgegriffen haben. Als Studienlektüre der damaligen Studenten waren antike Texte en vogue, die einer nachträglich 1 2 Legitimation von „Gaudeamus igitur“ gleichkamen.

Das Lied, das zuvor als anzüglich bezeichnet wurde, wurde nun zum Alleinstellungsmerkmal des akademisch gebildeten Menschen. Der Kreis derer, die Zugriff auf Senecas „De brevitate vitae“ hatten, wir verschwindend gering gewesen sein. Der Gedanke der ersten Strophe, die Kürze des Lebens zum Frohsinn zu nutzen, wird dort in aller Ausführlichkeit ausgebreitet. Allerdings in einer anderen Weise: Seneca warnt geradezu davor, dass jeder Tag der letzte im Leben sein könne und man daher das „Leben“ nicht durch Müßiggang aufschieben dürfe. Vor diesem Hintergrund erscheint die erste Strophe geradezu bewusst falsch verstanden, vielleicht sogar als Verballhornung des Philosophen. Das liegt deswegen gar nicht so fern, als dass bereits in einem Conductus des 13. Jahrhundert unter dem Titel „scribere proposui“ Spuren einer Verballhornung zu finden sind. In dem Codex P-Bn fr 25.408 sind auf den Folie 116-121 satirische Dichtungen einer Gruppe von Klerikern zu finden, die sich „Goliathisten“ nannten. Die Art des Humors, auf lateinische Phrasen zurückzugehen, deckt sich mit derjenigen, die sich später bei Kindleben findet. Ob ein Bezug tatsächlich besteht oder ob es sich um eine tradierte Form von Humor handelt, kann schlussendlich nicht gesagt werden. Die vierte Strophe von „Scribere proposui“ beginnt jedoch mit dem gleichen „Ubi sunt?“ der zweiten Strophe von Gaudeamus igitur, was jedoch noch kein Hinweis auf eine Parallele darstellen muss. Diese rhetorische Frage wird seit der Antike verwendet, um eine Verfallsgeschichte zu konstruieren, die freilich den Konstrukteur als Zeugen der „guten alten Zeit“ sich gerieren lässt.

Ob der Text auf älteren Texten aufbaut oder lediglich dem dieser Art von Texten Kundigen die Möglichkeit mannigfaltiger Konnotationen bietet, muss unbeantwortet bleiben. Je weiter ein Gegenstand in der Geschichte zurückreicht, desto größer sind die Überlieferungszufälligkeiten. Fest steht jedoch, dass das Sujet des Liedes die Menschen schon seit der Antike beschäftigt hat. Der Ursprung der Melodie liegt ebenso im Dunkeln. In der Literatur wird eine Parallele zu dem Lied „Brüder lasst uns lustig sein“ von Johann Christian Günther diskutiert. Auffällig 2 3 ist tatsächlich frappierend ähnliche Rhythmus des Liedes und schließlich, dass sowohl das eine wie auch das andere Lied von gleicher Thematik bestimmt sind. Während jedoch „Gaudeamus igitur“ in Dur gesungen wird, weist „Brüder lasst uns lustig sein“ eine Moll-Melodie auf. Eine Ähnlichkeit ist damit durchaus vorhanden, ob diese Ähnlichkeit jedoch die Genese in Richtung des einen oder anderen Liedes beeinflusst hat, wird man kaum sagen können. Auch wenn der Ursprung von Text und Melodie unbekannt sind und vermutlich auch unbekannt bleiben werden, liegt es an den Musizierenden, ob sie den Text als Verballhornung zum Trotze unendlich lateinischer Textstudien singen möchten oder dem Lied den ernsten Glanz eines Johannes Brahms geben möchten. Von der Kneiptafel wird dieses Lied jedenfalls nicht mehr wegzudenken sein.

 

  1. Artikel „Kindleben, Christian Wilhelm“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 15 (1882), S. 765–768. 2. L. Annaeus Seneca: De brevitate vitae: Lateinisch/Deutsch, Von der Kürze des Lebens. Übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel. Reclam, Stuttgart 2008.

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