Geist der Zeit

Kulturhistoriker sind Detektive ebenso wie Psychologen; finden können sie die Quellen, erspüren müssen sie die Menschen dahinter. Zu größter Meisterschaft darin brachte es der Niederländer Johan Huizinga. „Herbst des Mittelalters“ ist das Musterbild eines Epochenporträts; kenntnisreich, tiefsinning und ohne Scheu, vom Sterben ebenso zu erzählen wie vom Leben.

Jan van Eyck – Die Madonna des Kanzlers, ca. 1435

Gibt es das, Psyche, Seele, Geist einer Epoche? So leicht zu sagen ist das nicht; hängt vom Blickwinkel ab und von der Linse, durch die man schaut. Aus der Ferne, oberflächlich, verallgemeinernd, mit groben Strichen schnell gezeichnet: immer; dann liefert jede Zeit ihre eigene Karikatur. Tritt man näher heran, sieht das unüberschaubare Universum von Millionen Einzelseelen, ändert sich das Bild; man erkennt vor lauter Buntheit keine Farben mehr, solche Vielfalt in der Zeit selber, dass man nicht zu sagen wüsste, worin sie eigentlich sich von anderen unterscheidet. Was tun? Einen Schritt zurück kann man machen, mittlere Distanz einnehmen, Muster suchen. Oder noch näher heran, ganz nah, in die Köpfe hinein mit psychologischem Spürsinn; seriöse Spekulation treiben auf wissenschaftlicher Basis, ohne abzugleiten in angewandte Esoterik. Wenige nur, wenige können das. Huizinga konnte.

Sein Gegenstand ist das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert in Nordfrankreich und im Herzogtum Burgund, was hinaufreicht in die späteren Niederlande. Er erzählt Totalgeschichte, vom Leben in all seinen Formen, wobei die künstlerischen stark betont werden, Dichtung, Malerei, Bau und Gestaltung, mit ihren Ausläufern im Hof- und Kirchenleben. Politische Figuren kommen vor, natürlich die Herzöge, berühmte wie Philipp der Gute, Karl der Kühne, manche Exzentriker auch darunter, an denen die Zeit reich war; aber mehr in dem Sinne, dass sie in der Epoche stehen, als sie zu machen, vom Geist der Zeit mehr geformt werden als ihn selber formen. Geformt wird der von vielem, zeigt sich in vielem; sichtbar in der überlieferten Kunst.

Der Ansatz ist kulturgeschichtlich, eng verwandt mit Jacob Burckhardt, den Huizinga bewunderte und dessen Geschichte der Renaissance in Italien ebenso epochemachend war und bleibt. Zugleich ist er ganz anders; denn wo Burckhardt die Zeit beschreibt als Aufbruch, Aufblühen, erstes Sich-Zeigen modernen Geistes, erzählt Huizinga eine Geschichte von Niedergang und Verfall. Die mittelalterliche Kultur, die er uns zeigt, liegt im Sterben, hat sich überdehnt und ausgegeben und ihre schöpferische Kraft verbraucht; was sie an Großem noch hervorbringt, ist Abschluss, Vollendung, nicht Vorzeichen des Neuen, Kommenden; ist getragen von nervösem Pessimismus, nicht von Entdeckerfreude, Lebenslust, Weltaneignung.

 

Traum und Wirklichkeit

Jan van Eyck – Die Arnolfini-Hochzeit, ca. 1434

Einiger Erläuterung bedarf das durchaus. Immerhin war Burgund, bei allen Zwistigkeiten der großen Familien, allen militärischen Konflikten, ein sehr erfolgreicher Staat; mit blühenden Handelsstädten, Brügge, Gent, ein Zentrum des Frühkapitalismus, das Norditalien durchaus nicht nachsteht; mit einer prachtvollen Hofkultur, die zum Vorbild wird für halb Europa. Allein, für Huizinga passt diese Kultur nicht mehr zum realen Leben, namentlich mit ihrem romantischen Ritterideal. Das Rittertum hatte seine militärische Funktion eingebüßt, die Kriegstaktik sich gewandelt, weg von Lanzenreitern; wenn es das Ritterideal im Felde je gegeben hatte, war es lange schon geschwunden, im Umgang mit dem Fußvolk nun gar. „Wo es sich um Menschen geringeren Standes handelt, fehlt jedes Bedürfnis nach ritterlicher Hoheit.“

Neben dem Militärischen hatten auch im Amourösen die Ritterlegenden wenig wirkliche Substanz bewahrt. „Das Ideal der Liebe, die schöne Fiktion von Treue und Aufopferung, fand keinen Platz in den sehr materiellen Überlegungen, mit denen eine Ehe und vor allem eine adlige Ehe zustande kam.“ Turniere, Minnewettbewerbe mochte es geben, doch bloß mehr als Schein, als schöner, unverbindlicher Zeitvertreib. „Das späte Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist.“ Dass auch das Spiel kulturell schöpferisch sein konnte, das zu verneinen wäre Huizinga der letzte gewesen; über den Homo ludens schrieb er später ein ganzes Buch. In diesem Fall aber sieht er vorwiegend Verkleidung darin, Ablenkung; „Maske, hinter der sich eine Welt von Gewinnsucht und Gewalt verbergen konnte“.

 

Spannung des Lebens

Jan van Eyck – Der hl. Franz von Assisi empfängt die Wundmale, ca. 1430

Wobei die Gewalt dann vorwiegend andere traf. „Das Volk kann sein eigenes Los und die Ereignisse jener Zeit nicht anders erfassen denn als eine unaufhörliche Abfolge von Mißwirtschaft und Aussaugung, Krieg und Räuberei, Teuerung, Not und Pestilenz.“ Materielle Wünsche, Träume vom besseren Leben prägen die Alltagskultur. Die politische Ordnung jedoch wird kaum hinterfragt, erscheint als gottgewollt; „für den mittelalterlichen Menschen lag der Kernpunkt des Gedankens in der baldigen Gleichheit im Tode, nicht in einer hoffnungslos fernen Gleichheit im Leben.“ Keine revolutionäre Stimmung. Wohl aber Gespanntheit, Gereiztheit. „Das tägliche Leben hat immer und überall unbegrenzten Raum für glühende Leidenschaften und kindliche Phantasie.“ Was sich zeigt bei Auftritten von Wanderpredigen, großen Messen und anderen öffentlichen Ereignissen.

Die Religion selber ist so tief in den Alltag der Menschen eingedrungen und mit ihm verwachsen, dass sie sehr profane Züge annimmt. Huizinga nennt das „Entwertung heiliger Vorstellungen durch ihre tägliche Benutzung“; erzählt von einer Nonne, die sich, wenn sie einige Holzscheite vom einen Ort zum anderen trug, dem Erlöser nahe fühlte, weil das Kreuz von Golgatha auch von Holz gewesen sei; von einem rein verwaltungsrechtlichen Disput an der Pariser Universität, den beide Seiten mit Argumenten aus der heiligen Schrift zu gewinnen suchten. „Die Gewohnheit, die Dinge stets mit einer Hilfslinie in Richtung der Idee zu verlängern, beherrscht die mittelalterliche Behandlung jeder politischen, gesellschaftlichen oder sittlichen Streitfrage.“ In den an Zahl weiter zunehmenden Festtagen, Bräuchen, Riten, die sich vom theologischen Ideal mitunter entfernen, in der Heiligenanbetung etwa, zeigt sich der „Schlendrian einer ganz veräußerlichten Religion“

Veräußerlicht auch im Sinne der Darstellung. „Durch diese Neigung zur bildlichen Gestaltung ist alles Heilige fortwährend der Gefahr ausgesetzt, zu erstarren oder sich zu veräußerlichen.“ Auch hier ein Zuviel, Zusehr, Verlust an Maß und Mitte. „Schmuck und Ornament dienen nicht mehr der Verherrlichung des natürlich Schönen, sondern überwuchern es und drohen es zu ersticken.“ Auch bei den Künstlern, die Huizinga bewundert und die ihn zur Beschäftigung mit dieser Epoche erst bewogen hatten, etwa Jan und Hubert van Eyck, rät er, genauer hinzusehen, nach wahrscheinlichen Auftragsarbeiten, die wir heute nicht mehr kennen; „auch das Verlorene fordert unsere Aufmerksamkeit“ – repräsentativ müsse nämlich nicht sein, was sich erhalten hat, in den Kathedralen, in den Museen, sondern auch, was man in der Hofkultur vermuten muss, darunter auch „Äußerungen barbarischen Fürstenprunks“, „Verbindung von Primitivität, heftiger Empfindsamkeit und schöner Form.“

 

Eine Wucht und ein Rätsel

Johan Huizinga (1872-1945)

Kein Buch für die angenehme Abendlektüre hat Huizinga da geschrieben; gleichermaßen kenntnis- wie thesenstark, wird man als unbedarfter Leser davon regelrecht erschlagen. Das Material steht sehr dicht; dutzende Gedichte im französischen Original, Verweise auf Autoren, Prediger, Fürsten der Zeit in schneller Folge. Ohne die Chronik am Ende wäre man vollends verwirrt. Der Professor führt seine Gelehrsamkeit vor und wohl mit Absicht. Beim Publikum mit Erfolg; die Kollegen Historiker hat er vor Rätsel gestellt, und bis heute hat das Buch zwar Leser, in der akademischen Welt aber eher einen Außenseiterstatus. Auch weil andere Quellen benutzt, andere Schlussfolgerungen gezogen werden als üblich, Politik und Ökonomie vergleichsweise eher eine Nebenrolle spielen, aber nicht reine Kunstgeschichte geschrieben, sondern auf den Geist der ganzen Epoche rückgeschlossen wird, der dann auch Politik und Ökonomie umfasst, jedenfalls beeinflusst. Dass andere Historiker, die etwa die Machtpolitik der burgundischen Herzöge beschreiben oder die Entwicklung der Handelsstädte, und darin der Kulturgeschichte ebenso eine Nebenrolle einräumen wie Huizinga der politischen Geschichte, dass diese Historiker nicht arg viel anfangen können mit einem so sehr anderen Ansatz, überrascht nicht.

Huizinga, das muss man erklären, war eigentlich über Umwege zur Mittelaltergeschichte gekommen. Er begann als Sprachwissenschaftler, hatte ursprünglich Arabistik studieren wollen, sich dann dem indischen Sanskrit gewidmet und auf diesem Gebiet seine Doktorarbeit geschrieben. Weil aber keine Professur für Orientalistik in Aussicht kam, wechselte er zur Historie, auch angeregt durch erste Eindrücke von der spätmittelalterlichen Malerei. Zunächst von der Universität seiner Heimatstadt Groningen berufen, wechselte er nach Leiden und hielt dort für ein Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte, bis die Universität im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Besatzung geschlossen wurde. In diese Zeit, ab 1919, fällt die Veröffentlichung von „Herbst des Mittealters“ mit allen Überarbeitungen bis zur letzten von 1941. – Dorthin gekommen war er aber über die Begeisterung für Sprache, vor allem auch für Bilder; daher die bildhafte Ausdruckskraft, daher auch die Quellenauswahl.

Was nun damit anfangen, hundert Jahre später? Die Frage, wie sehr Recht Huizinga mit seinem Urteil hatte über Kultur und Mentalität, „nicht Ankündigung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht“, in Burgund vor über einem halben Jahrtausend, diese Frage ist wesentlich eine für interessierte Fachhistoriker. Spannend für alle anderen Leser bleibt das Bild, das er zeichnet, eines überreizten Zeitalters der ständigen Übertreibung, einer Religion (oder Ideologie), die sich im Erfolg zu sehr ausgedehnt hat, einer Kultur, die ausblüht, einer Philosophie, die sich intellektuell erschöpft hat, sich nur noch selbst reproduziert, ohne mehr Neues zu schaffen. Und zwar jenseits dessen, ob dies Bild, den Fakten nach, die ganze Wahrheit ist oder jedenfalls der überwiegende, entscheidende Teil der Wahrheit. In jedem Fall hat es erzählerische, schöpferische Wahrheit mit großem, universalgeschichtlichen Erkenntniswert, zum, wie Burckhardt das nannte, „duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird“. Den findet man später wieder, und wohl manches andere auch.

 

Das Buch

Johann Huizinga: Herbst des Mittelalters. Erstveröffentlichung 1923. Hier verwendet: Übersetzung der Ausgabe von 1941, Kröner, Stuttgart 1975, 543S.


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Jan van Eyck – Die Madonna des Kanzlers, ca. 1435

Gibt es das, Psyche, Seele, Geist einer Epoche? So leicht zu sagen ist das nicht; hängt vom Blickwinkel ab und von der Linse, durch die man schaut. Aus der Ferne, oberflächlich, verallgemeinernd, mit groben Strichen schnell gezeichnet: immer; dann liefert jede Zeit ihre eigene Karikatur. Tritt man näher heran, sieht das unüberschaubare Universum von Millionen Einzelseelen, ändert sich das Bild; man erkennt vor lauter Buntheit keine Farben mehr, solche Vielfalt in der Zeit selber, dass man nicht zu sagen wüsste, worin sie eigentlich sich von anderen unterscheidet. Was tun? Einen Schritt zurück kann man machen, mittlere Distanz einnehmen, Muster suchen. Oder noch näher heran, ganz nah, in die Köpfe hinein mit psychologischem Spürsinn; seriöse Spekulation treiben auf wissenschaftlicher Basis, ohne abzugleiten in angewandte Esoterik. Wenige nur, wenige können das. Huizinga konnte.

Sein Gegenstand ist das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert in Nordfrankreich und im Herzogtum Burgund, was hinaufreicht in die späteren Niederlande. Er erzählt Totalgeschichte, vom Leben in all seinen Formen, wobei die künstlerischen stark betont werden, Dichtung, Malerei, Bau und Gestaltung, mit ihren Ausläufern im Hof- und Kirchenleben. Politische Figuren kommen vor, natürlich die Herzöge, berühmte wie Philipp der Gute, Karl der Kühne, manche Exzentriker auch darunter, an denen die Zeit reich war; aber mehr in dem Sinne, dass sie in der Epoche stehen, als sie zu machen, vom Geist der Zeit mehr geformt werden als ihn selber formen. Geformt wird der von vielem, zeigt sich in vielem; sichtbar in der überlieferten Kunst.

Der Ansatz ist kulturgeschichtlich, eng verwandt mit Jacob Burckhardt, den Huizinga bewunderte und dessen Geschichte der Renaissance in Italien ebenso epochemachend war und bleibt. Zugleich ist er ganz anders; denn wo Burckhardt die Zeit beschreibt als Aufbruch, Aufblühen, erstes Sich-Zeigen modernen Geistes, erzählt Huizinga eine Geschichte von Niedergang und Verfall. Die mittelalterliche Kultur, die er uns zeigt, liegt im Sterben, hat sich überdehnt und ausgegeben und ihre schöpferische Kraft verbraucht; was sie an Großem noch hervorbringt, ist Abschluss, Vollendung, nicht Vorzeichen des Neuen, Kommenden; ist getragen von nervösem Pessimismus, nicht von Entdeckerfreude, Lebenslust, Weltaneignung.

 

Traum und Wirklichkeit

Jan van Eyck – Die Arnolfini-Hochzeit, ca. 1434

Einiger Erläuterung bedarf das durchaus. Immerhin war Burgund, bei allen Zwistigkeiten der großen Familien, allen militärischen Konflikten, ein sehr erfolgreicher Staat; mit blühenden Handelsstädten, Brügge, Gent, ein Zentrum des Frühkapitalismus, das Norditalien durchaus nicht nachsteht; mit einer prachtvollen Hofkultur, die zum Vorbild wird für halb Europa. Allein, für Huizinga passt diese Kultur nicht mehr zum realen Leben, namentlich mit ihrem romantischen Ritterideal. Das Rittertum hatte seine militärische Funktion eingebüßt, die Kriegstaktik sich gewandelt, weg von Lanzenreitern; wenn es das Ritterideal im Felde je gegeben hatte, war es lange schon geschwunden, im Umgang mit dem Fußvolk nun gar. „Wo es sich um Menschen geringeren Standes handelt, fehlt jedes Bedürfnis nach ritterlicher Hoheit.“

Neben dem Militärischen hatten auch im Amourösen die Ritterlegenden wenig wirkliche Substanz bewahrt. „Das Ideal der Liebe, die schöne Fiktion von Treue und Aufopferung, fand keinen Platz in den sehr materiellen Überlegungen, mit denen eine Ehe und vor allem eine adlige Ehe zustande kam.“ Turniere, Minnewettbewerbe mochte es geben, doch bloß mehr als Schein, als schöner, unverbindlicher Zeitvertreib. „Das späte Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist.“ Dass auch das Spiel kulturell schöpferisch sein konnte, das zu verneinen wäre Huizinga der letzte gewesen; über den Homo ludens schrieb er später ein ganzes Buch. In diesem Fall aber sieht er vorwiegend Verkleidung darin, Ablenkung; „Maske, hinter der sich eine Welt von Gewinnsucht und Gewalt verbergen konnte“.

 

Spannung des Lebens

Jan van Eyck – Der hl. Franz von Assisi empfängt die Wundmale, ca. 1430

Wobei die Gewalt dann vorwiegend andere traf. „Das Volk kann sein eigenes Los und die Ereignisse jener Zeit nicht anders erfassen denn als eine unaufhörliche Abfolge von Mißwirtschaft und Aussaugung, Krieg und Räuberei, Teuerung, Not und Pestilenz.“ Materielle Wünsche, Träume vom besseren Leben prägen die Alltagskultur. Die politische Ordnung jedoch wird kaum hinterfragt, erscheint als gottgewollt; „für den mittelalterlichen Menschen lag der Kernpunkt des Gedankens in der baldigen Gleichheit im Tode, nicht in einer hoffnungslos fernen Gleichheit im Leben.“ Keine revolutionäre Stimmung. Wohl aber Gespanntheit, Gereiztheit. „Das tägliche Leben hat immer und überall unbegrenzten Raum für glühende Leidenschaften und kindliche Phantasie.“ Was sich zeigt bei Auftritten von Wanderpredigen, großen Messen und anderen öffentlichen Ereignissen.

Die Religion selber ist so tief in den Alltag der Menschen eingedrungen und mit ihm verwachsen, dass sie sehr profane Züge annimmt. Huizinga nennt das „Entwertung heiliger Vorstellungen durch ihre tägliche Benutzung“; erzählt von einer Nonne, die sich, wenn sie einige Holzscheite vom einen Ort zum anderen trug, dem Erlöser nahe fühlte, weil das Kreuz von Golgatha auch von Holz gewesen sei; von einem rein verwaltungsrechtlichen Disput an der Pariser Universität, den beide Seiten mit Argumenten aus der heiligen Schrift zu gewinnen suchten. „Die Gewohnheit, die Dinge stets mit einer Hilfslinie in Richtung der Idee zu verlängern, beherrscht die mittelalterliche Behandlung jeder politischen, gesellschaftlichen oder sittlichen Streitfrage.“ In den an Zahl weiter zunehmenden Festtagen, Bräuchen, Riten, die sich vom theologischen Ideal mitunter entfernen, in der Heiligenanbetung etwa, zeigt sich der „Schlendrian einer ganz veräußerlichten Religion“

Veräußerlicht auch im Sinne der Darstellung. „Durch diese Neigung zur bildlichen Gestaltung ist alles Heilige fortwährend der Gefahr ausgesetzt, zu erstarren oder sich zu veräußerlichen.“ Auch hier ein Zuviel, Zusehr, Verlust an Maß und Mitte. „Schmuck und Ornament dienen nicht mehr der Verherrlichung des natürlich Schönen, sondern überwuchern es und drohen es zu ersticken.“ Auch bei den Künstlern, die Huizinga bewundert und die ihn zur Beschäftigung mit dieser Epoche erst bewogen hatten, etwa Jan und Hubert van Eyck, rät er, genauer hinzusehen, nach wahrscheinlichen Auftragsarbeiten, die wir heute nicht mehr kennen; „auch das Verlorene fordert unsere Aufmerksamkeit“ – repräsentativ müsse nämlich nicht sein, was sich erhalten hat, in den Kathedralen, in den Museen, sondern auch, was man in der Hofkultur vermuten muss, darunter auch „Äußerungen barbarischen Fürstenprunks“, „Verbindung von Primitivität, heftiger Empfindsamkeit und schöner Form.“

 

Eine Wucht und ein Rätsel

Johan Huizinga (1872-1945)

Kein Buch für die angenehme Abendlektüre hat Huizinga da geschrieben; gleichermaßen kenntnis- wie thesenstark, wird man als unbedarfter Leser davon regelrecht erschlagen. Das Material steht sehr dicht; dutzende Gedichte im französischen Original, Verweise auf Autoren, Prediger, Fürsten der Zeit in schneller Folge. Ohne die Chronik am Ende wäre man vollends verwirrt. Der Professor führt seine Gelehrsamkeit vor und wohl mit Absicht. Beim Publikum mit Erfolg; die Kollegen Historiker hat er vor Rätsel gestellt, und bis heute hat das Buch zwar Leser, in der akademischen Welt aber eher einen Außenseiterstatus. Auch weil andere Quellen benutzt, andere Schlussfolgerungen gezogen werden als üblich, Politik und Ökonomie vergleichsweise eher eine Nebenrolle spielen, aber nicht reine Kunstgeschichte geschrieben, sondern auf den Geist der ganzen Epoche rückgeschlossen wird, der dann auch Politik und Ökonomie umfasst, jedenfalls beeinflusst. Dass andere Historiker, die etwa die Machtpolitik der burgundischen Herzöge beschreiben oder die Entwicklung der Handelsstädte, und darin der Kulturgeschichte ebenso eine Nebenrolle einräumen wie Huizinga der politischen Geschichte, dass diese Historiker nicht arg viel anfangen können mit einem so sehr anderen Ansatz, überrascht nicht.

Huizinga, das muss man erklären, war eigentlich über Umwege zur Mittelaltergeschichte gekommen. Er begann als Sprachwissenschaftler, hatte ursprünglich Arabistik studieren wollen, sich dann dem indischen Sanskrit gewidmet und auf diesem Gebiet seine Doktorarbeit geschrieben. Weil aber keine Professur für Orientalistik in Aussicht kam, wechselte er zur Historie, auch angeregt durch erste Eindrücke von der spätmittelalterlichen Malerei. Zunächst von der Universität seiner Heimatstadt Groningen berufen, wechselte er nach Leiden und hielt dort für ein Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte, bis die Universität im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Besatzung geschlossen wurde. In diese Zeit, ab 1919, fällt die Veröffentlichung von „Herbst des Mittealters“ mit allen Überarbeitungen bis zur letzten von 1941. – Dorthin gekommen war er aber über die Begeisterung für Sprache, vor allem auch für Bilder; daher die bildhafte Ausdruckskraft, daher auch die Quellenauswahl.

Was nun damit anfangen, hundert Jahre später? Die Frage, wie sehr Recht Huizinga mit seinem Urteil hatte über Kultur und Mentalität, „nicht Ankündigung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht“, in Burgund vor über einem halben Jahrtausend, diese Frage ist wesentlich eine für interessierte Fachhistoriker. Spannend für alle anderen Leser bleibt das Bild, das er zeichnet, eines überreizten Zeitalters der ständigen Übertreibung, einer Religion (oder Ideologie), die sich im Erfolg zu sehr ausgedehnt hat, einer Kultur, die ausblüht, einer Philosophie, die sich intellektuell erschöpft hat, sich nur noch selbst reproduziert, ohne mehr Neues zu schaffen. Und zwar jenseits dessen, ob dies Bild, den Fakten nach, die ganze Wahrheit ist oder jedenfalls der überwiegende, entscheidende Teil der Wahrheit. In jedem Fall hat es erzählerische, schöpferische Wahrheit mit großem, universalgeschichtlichen Erkenntniswert, zum, wie Burckhardt das nannte, „duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird“. Den findet man später wieder, und wohl manches andere auch.

 

Das Buch

Johann Huizinga: Herbst des Mittelalters. Erstveröffentlichung 1923. Hier verwendet: Übersetzung der Ausgabe von 1941, Kröner, Stuttgart 1975, 543S.


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